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Ausgabe:

1986

Spalte:

507-510

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Das Evangelium und die Evangelien 1986

Rezensent:

Roloff, Jürgen

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507

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr.'7

508

Stuhlrnacber, Peter [Hg.]: Das Evangelium und die Evangelien. Vorträge
vom Tübinger Symposium 1982. Tübingen: Mohr 1983. VIII,
454 S. gr. 8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen
Testament, 28. Lw. DM 1 78.-.

Im September 1982 fand in Tübingen ein internationales wissenschaftliches
Symposion statt, dessen Ziel es war, „Konvergenzlinien
in der Erforschung der biblischen Evangelien aufzudecken, und so der
z. T. richtungslos gewordenen Evangelienforschung einen neuen
Impuls zu geben". (V) Der nun vorliegende sorgfältig edierte
Dokumentationsband enthält die dort vorgetragenen Forschungsberichte
und Referate in einer überarbeiteten Form, in der Fragen und
Impulse aus der Diskussion (über die Peter Lampe und Ulrich Luz
einen bei aller Knappheit sehr instruktiven Bericht beigesteuert
haben) zum Teil bereits berücksichtigt sind. Peter Stuhlmacher, der
Hauptinitiator des Symposions, skizziert in seinem einführenden
Referat („Zum Thema: Das Evangelium und die Evangelien") die
zentralen Problemstellungen: I. Die überlteferungsgeschichtlichen
Prämissen der klassischen Formgeschichte sind kritisch zu befragen.
Dabei ist insbesondere das Interesse des vorösterlichen Jüngerkreises
und der Urgcmcinde an der Fixierung und Weitergabe von Jesustradition
mehr als bisher in Rechnung zu stellen: Wir haben mit
einem „gepflegten Traditionskontinuum zu rechnen, das aus der
Jesuszeit hin zur nachösterlichen Gemeinde fuhrt" (7.). - 2. Die Sicht
von der Entstehung der synoptischen Tradition ist mit einem parallelen
Bild der johanncischen Traditionsbildung zu verbinden. Dabei ist
zu klären, inwieweit die altkirchliche Anschauung, wonach das
4. Evangelium die Synoptiker nicht verdrängen, sondern ergänzen
will, im Recht ist. - 3. Der Frage nach der Stellung des Paulus zur
Evangelientradition muß nachgegangen werden. - 4. Die Wort- und
Uberlieferungsgeschichte von „Evangelium" ist unter den Perspektiven
zu bedenken, die sich aus der Gesamtsicht der synoptischen,
johanncischen und paulinischen Überlieferung ergeben. - Den beiden
letzten Problcmbereichen wendet sich Stuhlmache;' in einem weiteren
Beitrag („Das paulinischc Evangelium") gesondert zu. Er weist die zuletzt
von G. Strecker vertretene Herleitung des Terminus „Evangelium
" aus der Sprachtradition des Kaiserkults zurück und bckrälligt
die von ihm bereits früher vertretene Ableitung aus einer in Jes 52,7
verankerten palästinisch-jüdischen Sprachtradition. Sodann schließt
er aus der in Rom 10,13.15 vorliegenden Zitatenkombination aus
Joel 3,5 (LXX) und Jes 52,7, daß Paulus dort an eine Vielzahl von
ettangelizomenoi denkt, und zwar an Petrus und die Jerusalemer
Apostel als Träger des Evangeliums (1721). Demnach hätten bereits
Petrus und die Urapostel den Terminus „Evangelium" für ihre Verkündigung
benutzt, und zwar - so der nächste Argumentationsschritt
- in Anknüpfung an Jesus, der sich selbst „als den messianischen
Evangelisten der Armen gemäß Jes 61,1 f verstanden (vgl. Mt 1 1,2-6
par.)" habe (172). Die Grundstruktur des petrinischen Evangeliums
sieht Stuhlmacher in Apg 10,36-43 festgehalten: Es handle sich um
eine Darstellung der Jesusgeschichte „auf der Basis von lauter Schriftworten
" (181), die im Aufriß „auffällig dem Markusevangelium" entspreche
(182), das darum als Weiterentwicklung des petrinischen
Evangeliums gelten könne. Paulus habe demgegenüber eine andere
Ausprägung des Evangeliums vertreten, deren Grundmuster in
I Thess 1,9f festgehalten sei. Gemäß seines zentralen christologischen
und gesetzeskritischen Gehalts könne es als „Rechtfertigungsevangelium
" bezeichnet werden (I 76).

Dem ersten der von Stuhlmacher genannten Problemkreise widmet
sich der Beitrag von E. Earle Ellis ("Gospels Criticism. A Perspective
on the State of the Art"). Ergeht mit den theologischen und philosophischen
Voraussetzungen der Formgeschichte scharf ins Gericht,
ohne freilich deren methodische Berechtigung anzuzweifeln. So verweist
er auf die zu wenig reflektierte Rolle eines dialektischen Denkens
, das dazu verleitet, die Evangelien als Antworten auf frühkirchliche
Konflikte zu lesen und soa priori eine Zäsur zwischen Jesus
und den Evangelien zu postulieren (34). Ellis warnt ferner vor einer zu

selbstverständlichen Handhabung der Zweiquellentheorie. Die Forschung
müsse sich dafür olfenhalten, daß neue Entwicklungen der
Formgeschichte der Evangelien die Quellenfrage in einem neuen
Licht erscheinen lassen (38). Als unangemessene Voraussetzung erweise
sich außerdem die Unterscheidung zwischen Geist und Form,
Charisma und Ordnung, denn sie sei unfähig, das Ineinander von
Charisma und Ordnung bei Jesus und den Aposteln sachgemäß zu erfassen
(44).

Otto Uetz („Jesu Evangelium vom Gottesreich") entwirft eine Traditionsgeschichte
des Begriffs „Evangelium", wobei er noch zuversichtlicher
als Stuhlmacher behauptet, daß bereits Jesus seine Botschall
vom Gottesreich als Evangelium bezeichnet habe. Er stützt sich dabei
auf z. T. recht gewagte Interpretationen talmudischer Belege. Noch unkonventioneller
ist seine fliese (der in der Diskussion denn auch kräftig
widersprochen wurde), daß Lukas unter allen Evangelien den theologischen
Bezugsrahmen desjesuanisch.cn Evangeliums, der vor allem in
Jes 52,7.15; 53,1 -8 gegeben sei, am treuesten bewahrt habe.

Robert Guelich ("The Gospel Genre") entfallet Stuhlmachers
These vom Ursprung des Evangeliums hinsichtlich des Markusevangeliums
. Diese älteste Evangelienschriß läßt sich, wie er zunächst
zeigt, nicht aus uns bekannten literarischen Gattungen ableiten. Seine
literarische Struktur ergibt sich vielmehr als Entfaltung des palästinisch
-judenchristlichen Inhalts von „Evangelium", wie G. ihn
programmatisch in Mk 1.1-3 zusammengefaßt sieht: „Evangelium
vom Messias Jesus" ist Bericht davon, wie sich in Botschaft. Wirken
und Leiden Jesu die Verheißung der Schrift erfüllt, Das Markusevangelium
ergibt sich so als Entfaltung des „petrinischen" Aufrisses
des Evangeliums Apg 10,34-43.

Birger Gerhardsson („Der Weg der Evangelientradition") trägt eine
Kritik der klassischen Formgeschichte vor, deren Grundsätzlichkeit
sich, soweit ich sehen kann, die übrigen Beiträge des Bandes nicht zu
eigen machen konnten. G. wiederholt im wesentlichen die bereits aus
seinen früheren Arbeiten (Memory and Manuscript, Uppsala 1961;
Die Anfänge der Evangelientradition, Wuppertal 1977) bekannten
Argumente. Die Jesusüberlieferung sei von Anfang an Textüberlieferung
gewesen, deren Formung durch bewußt nach den vorgegebenen
Regeln jüdischer Traditionsbildung arbeitende Tradcntcn erfolgt sei.
Demgegenüber sei die „Hypothese der Formgeschichtier, daß die
Form der Jesustraditionen einen sie formenden .Sitz im Leben'
widerspiegelt . . ., nicht nur eine unhewiesene, sondern auch eine
unwahrscheinliche und unnötige Hypothese" (85). G. bestreitet zwar
nicht, daß sich Jesusworte und -erzählungen auf dem Weg von Jesus
zu den Evangelisten verändert haben, er betont jedoch, daß solche
Veränderungen „nur in begrenztem Ausmaß" (95) und durch autoritative
Lehrer durchgeführt wurden (96).

Athanasius Po/aesucht „Die theologische Mitte der Logienquelle"
zu bestimmen und weist dabei die u. a. von E. Ellis geübte Kritik an
der Zweiquellcnthcorie entschieden zurück. Auch wenn es hinsichtlich
des Umfangs und derGeschichtc von Q viele unbeantwortete
Fragen gibt, so kann doch Q als eine sichere Größe gelten, deren
Bedeutung darin liegt, eine Brücke zu jenem Bereich zu bilden, „in
dem die Verkündigung Jesu primär rezipiert wurde" (107). Der Kern
geht zurück auf den vorösterlichen Jüngerkreis, und damit liegt „der
genetische Ansatz der Sammlung in der Lehrtätigkeit Jesu" (108).
Deren Intention liegt nicht in der Vermittlung von Information über
Jesus, sondern in der Ermöglichung von personaler Erfahrung unter
dem Wort Jesu (HOf).

Umfangsmäßig und formal fällt der Beitrag von Rudolf Pesch
(„Das Evangelium in Jerusalem. Mk 14,12-26 als ältestes Über-
liefcrungsgut der Urgcmcinde") etwas aus dem Rahmen. P. begründet
hier nochmals die in seinem Mk-Kommentar vertretene These, daß
der markinischc Abendmahlsbericht ursprünglicher Teil einer in
jeder Hinsicht historisch zuverlässigen alten Jerusalcmcr Passions-
geschichtc sei, wobei er sich mit seinen Kritikern ebenso detailliert
wie polemisch hart auseinandersetzt. Als besonders unerfreulich im
Ton fällt dabei die Polemikgegen F. Hahn(l25ff, 129l)auf.