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Ausgabe:

1986

Spalte:

505-506

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Weiß, Hans-Friedrich

Titel/Untertitel:

Kerygma und Geschichte 1986

Rezensent:

Walter, Nikolaus

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Seite 1

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505

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 7

506

Neues Testament

Weiß, Hans-Friedrich: Kerygma und Geschichte. Erwägungen zur
Frage nach Jesus im Rahmen der Theologie des Neuen Testaments.
Berlin: Evang. Verlagsanstalt 1983. 144 S.gr. 8'. M 12.-.

Die vorliegende Arbeit des Rostocker Neutestamenliers ist ein breit
angelegter Essay, der der ..Trage nach Jesus im Rahmen der Theologie
des Neuen Testaments" nachgeht, unter eingehender Aufarbeitung
der in den 60er und 70er Jahren geführten Diskussion (das Literaturverzeichnis
S. 106-113 reicht knapp bis 1979 - die Jahreszahl 1982
bei H. von Soden ist Druckfehler Tür 1892 - und läßt damit das Datum
des Manuskriptabschlusses erkennen: so konnte u.a. das Buch von
W. Thüsing. Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus.
Bd. I. 1982. nicht mehr einbezogen werden). Diese Diskussion hat
nach Weiß zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt; auch die
sogenannte ..Neue Frage nach Jesus" besaß ..nicht die beabsichtigte
bitegrationskraft". um das Verständnis des Christusevangeliums als
des naehösterlichen Kerygmas von Kreuz und Auferstehung Jesu mit
Jenem anderen, das dem vorösterlichen Jesus die Basisfunktion zuweist
, in ein sinnvolles Verhältnis zueinander zu bringen (S. 19). Diesem
Problem stellt sich Weiß: Wie verhält sieh das ..Heil in Jesus von
bJazareth" zum ..Heil im auferstandenen Gekreuzigten"?(S. 20)

Mit den Titelstichworten ..Kerygma und Geschichte" ist das Problem
m zwei Dimensionen bezeichnet; Zum einen geht es im ganzen
Bueh um das Sachverhältnis der beiden Größen zueinander, zum
anderen lassen sich mit den Stichworten zwei im Neuen Testament
ziemlich unverbundene Traditionslinien grob charakterisieren: eben
die Linie vom Kerygma des auferstandenen Gekreuzigten (bei Paulus
bzw. - allgemeiner - in den neutestamentlichen Briefen) auf der einen
und die Linie der narrativen Verkündigung der Jesus-Geschichte (in
den Evangelien) auf der anderen Seite.

Dieses Nebeneinander bedeutet nach der Uberzeugung des Autors
(und des Rez.) keine unlösbare Aporie. Weiß geht die Frage zunächst
als Exeget an (Teil 2: Das Evangelium und die Evangelien. S. 21-47).
Indem er den Motiven der Evangeliensehrcibung nachgeht, naturgemäß
vor allem an Hand des Markusevangeliums als der ältesten
literarischen Konzeption dieser Art. Das Verhältnis von Kerygma
und Geschichte bei Mk(S. 2211) wird unter dem von Mkselbst seinem
Buch vorangestellten Leitbegrilf .euangelion" so besehrieben, daß
■•Evangelium" nicht mit der Geschichte Jesu identifiziert wird, diese
aber als ..eine Art Grundlegung" der Christusverkündigung aufgezeichnet
wird (S. 24). Das Interesse des Markus ist nicht das eines
Historikers: seine theologische Leistung ist vielmehr die. daß er den
der urchristlichen Missionssprachc entnommenen Begriff für die
"tündliche Predigt untrennbar mit dem (nun schriftlichen) Bericht
von Jesus und seinem Wirken und Leiden verknüpft hat. Das ..Evangelium
von Jesus Christus" ist somit ..an jene Geschichte von damals
gebunden", und zugleich ist jene Geschichte nicht in ..purer Vergangenheit
isoliert", sondern „auf seine Wirkungsgeschichte hin
ollen" (S. 230- Auch die jüngeren Evangelien dürfen nach Weiß nicht
einfach unter das Verdikt „Historisicrung des Kerygmas" gestellt werden
; aber am deutlichsten entspricht doch die theologische Konzeption
des Johanncsevangeliumsderdes Markus(S. 24-26). Als motivierend
setzt Weiß übrigens weder lür Markus noch für Johannes eine
antidoketische oder antienthusiastische Polemik an. sondern die Abgeht
, das Kreuzesgeschehen in den Bericht vom Wundertäter zu integrieren
(so Markus: S. 401) bzw. die Gottessohnschaft des Irdischen zu
erweiscn (so Johannes; S. 57-61).

Im 3. Teil (Das Kerygma und der irdische Jesus; S. 48-68) stellt
Weiß unter Bezug auf die Unterscheidung zwischen „historischem
Jesus" (Ergebnis historischer Rekonstruktion) und „irdischem Jesus"
(Kategorie urehristlichcr Christologie) fest, daß im Sinne der neutestamentlichen
Texte nur von einem Rückbezug der Verkündigung
IUI den „irdischen Jesus" die Rede sein kann. Der irdische - nicht der

historische-Jesus ist das „Kriterium des Kerygmas". Es ist exegetisch
gewiß richtig, genügt aber m. E. nicht lür eine heute zufriedenstellende
Problemlösung, da wir ja den „Irdischen" nicht mehr einfach
auf Grund von Tradition, sondern zugleich unter ständiger kritischer
Kontrolle des Tradierten erkennen und dahinter nicht mehr zurückkönnen
.

Auch Weiß verfährt natürlich so-z. B. im 4. Teil (Das Problem vier
Christologie; S. 69-101) in den Abschnitten „Zur Frage nach der
.Christologie' des historischen Jesus" und „Zur Frage der Kontinuität
Historischer Jesus - Kerygmatiseher Christus": er bleibt aber leider
bis in die Abschlußthesen hinein bei der Meinung, die historische
Fragestellung sei nur von historischer, aber nicht von theologischer
Relevanz(S. 103). Das aber trifft nicht einmal die in Anm. 536 zitierte
Meinung von F. Hahn, der vielmehr nur von der „isolierten" historischen
Darstellung der vorösterlichen Geschichte Jesu sagt, sie habe
„für sich allein" keine theologische Funktion. Und tatsächlich füllt
auch Weiß das. was er etwa über die „Entsprechung Irdischer Jesus-
Kerygmatiseher Christus" sagt (S. 91-101). beständig mit den Ergebnissen
historischer Jesusforschung an. womit er seinen eigenen Kanon
faktisch durchbricht - m. E. mit Recht: denn wir können ja unsere
exegetische Arbeit nicht ausblenden, wenn es „theologisch relevant"
wird! (Vgl. dazu ThLZ 101. 1976. .321-338,bes. 328fund 331 f.)

Aber hier liegt für Weiß nicht das zentrale Anliegen. Vielmehr kann
man der Sicht, die er in dem schon erwähnten Kapitel 4 (Das Problem
der Christologie) entwickelt, weitgehend nur zustimmen: Die beiden
Grundlinien neutestamentlicher Christologie (Jesustradition und
Osterkcrygma) sind nicht gegeneinander auszuspielen, so als wäre die
den Evangelien zugrundeliegende Konzeption der theologisch überflüssige
oder gar illegitime Versuch einer sekundären Absicherung des
Kerygmas durch Historie oder als wäre die Kerygma-Linie eine schon
im Ansatz verfehlte Dogmatisierung der „echten" Botschaft Jesu.

Es handelt sich vielmehr um zwei gegenseitig unabhängige Weisen
der Beantwortung der für den christliehen Glauben fundamentalen
Frage nach „Gott in Jesus Christus", die sich in der Sache zusammenführen
lassen. Dafür ist nicht entscheidend, ob Jesus selbst seinem
Tode Heilsbcdeutung beigemessen hat (so m. R. kritisch S. 791" und
930. wohl aber wichtig, daß sich der Kreuzestod als eine Konsequenz
- nicht als „Scheitern" - seines Wirkens einsichtig machen läßt
(S. 95-97 - das ist eine theologisch sehr relevante historische F eststellung
!), so daß die Konzentration der Kerygma-Linie auf Tod und
Auferstehung letztlich nicht als unangemessene Reduktion, sondern
als mögliche sachgemäße Konzentration zu beurteilen ist. So haben
dann die Worte (in den Evangelien) und die kerygmatisehen Formeln
(in den Briefen), die Jesu Lebenshingabe als Grund des Heils „Für uns"
aussagen, ihr gleiches sachliches Recht.

Nach beachtenswerten Erwägungen zum Thema „Lukas und
Paulus" (S. 99-101. anknüpfend an S. 80 schließt Weiß mit einer
thesenartigen Zusammenfassung seiner Sicht („Versuch einer Lösung
des Problems"; S. 102-105). der der Rez. im wesentlichen zustimmt -
bis auf die schon angemerkte Kritik an der Unterbewertung der theologischen
Relevanz des „Historischen" (S. 103) und die Frage, ob man
in bezug auf die Geschichte Jesu wirklich von einem „zufälligen historischen
Geschehen" sprechen sollte, das (erst!) durch Gottes österliches
Handeln „in die Dimension des Eschatologiseh-Endgültigen
gerückt" worden ist (S. 102); ist denn nicht Gott der Sendende auch
des „Irdischen" und ist nicht also auch sein Wirken und Leiden schon
per sc eschatologisches Geschehen, dessen ..Endgültigkeit" durch
Ostern nicht konstituiert, wohl aber bestätigt wird?

Insgesamt möchte man nur wünschen, daß das Bueh zu der von seinem
Autor erhofften Integration in der noch immer kontroversen
Diskussionslage beitragen kann, und das sollte angesichts der stets
sorgsamen und abgewogenen Erörterung. Für die man dem Autor nur
dankbar sein kann, wohl möglich sein!

Naumburg Nikolaus Walter