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Ausgabe:

1986

Spalte:

500-502

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Ben-Ḥôrîn, Šālôm

Titel/Untertitel:

Narrative Theologie des Judentums anhand der Pessach-Haggada 1986

Rezensent:

Schreiner, Stefan

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499

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 7

500

Dieser Übersetzung geht eine eingehende Analyse der textlichen
Probleme voraus (16-25), die gleichzeitig eine Begründung für die
Textgrundlage der Übersetzung bietet. Daran sehließt sich eine lile-
rarkritischc Sichtung von Hen 1-36 und der Stellung von Hcn 9-1 I
innerhalb der größeren Einheit des Wächterbuches an.

In einer kleinen Synopse der deutschen Übersetzungen von
Gen 6-9 und Hen 9-1 1 wird zweifellos deutlich, daß Henoch hier
dem inhaltlichen Aufbau der Genesis-Parallele folgt. Ebenso deutlich
wird, wie R. mit Recht hervorhebt, daß Henoch den Genesis-Text aus
der Perspektive apokalyptischer Endzeiterwartung sieht. R. arbeitet
dann die Berührungspunkte zu anderen biblischen Texten heraus, wobei
Zusammenhänge mit Jes 24-27 besonders vermerkt werden.
Nicht ganz teilen kann man die Verwunderung, die R. über die enge
Beziehung des Hcnochtextes zu biblischen Büchern äußert (38), da es
ja ein Wesenszug apokalyptischer Literatur ist, biblische Texte zu
interpretieren. R. gibt eine sehr summarische Erklärung der ursprünglichen
Bedeutung von Gen 6,1-4. Es gelingt R. bei diesen Überlegungen
nicht, entscheidende traditionsgeschichtliche Faktoren in den
Griff zu bekommen. Wenn er bloß auf Grund des mesopotamischen
Einflusses Traditionen für ..sehr alt" hält, übersieht er den Umstand,
daß der mesopotamische Einfluß in der Zeit der Apökalyptik in neuer
Weise besonders stark wurde.

Schwierig wird es R. zu folgen, wenn er die literarische Gattung von
Hen 9-1 1 zwar an sich richtig als Midrasch beschreibt, den Terminus
aber insofern anachronistisch verwendet, als er den Umstand außer
acht läßt, daß es sich hier einfach um die typische Form der apokalyptischen
Schriftauslegung handelt. Man muß bei R. wohl eine apologetische
Absicht vermuten, wenn er den Text Hen 9-1 1 als ..eine die
Merkmale jüdischer Apökalyptik besitzende Prophetie" (47) versteht.
Hier wird sozusagen die Apökalyptik veredelt, indem sie zur klassischen
Prophetie zurückstilisiert wird.

Man versteht nicht ganz, wieso R. bei seinem Datierungsversuch
von Hen 9-11 an die persische Zeit samt der Mischehenproblcmatik
unter Esra (51) und nicht an die viel naheliegenderen Probleme der
frommen Juden mit dem Hellenismus denkt.

Ehe R. die Verwendung von Hen 9-11 im NT untersucht, bietet er
eine systematische Darstellung der Eschatologie in diesem Abschnitt.
Dabei wird der Terminus „Pflanze der Gerechtigkeit" (Hen 10,16)
als messianischer Text im Sinne einer Abrahamsmessianologie interpretiert
(75 und 159). Die von R. angenommene textliche Voraussetzung
, „daß hier (sc. Jer 23,5) wie in Hen 10,16 der Ausdruck .gerechter
Sproß' auftritt" (75) ist falsch, da Hen 10,16 der Terminus TOfS
nicht begegnet. Vielmehr wird an dieser Stelle das aramäische Wort
rOS3 (hebr. D57ün) gebraucht. Durch die beigefügten Adjektiva ist hier,
wie übrigens auch Hen 93,5, von einer Sondergruppe die Rede, die
sich als eigentliches Israel verstand, aber keineswegs vom Messias, wie
es R. möchte.

Problematisch sind auch die Feststellungen R.s zur Universalität
des endzeitlichen Heiles. (81) Seine Darlegungen (81 -93) sind zu sehr
von theologisch systematischem Bibelgebrauch als von religionswissenschaftlicher
Analyse geprägt. Das wird besonders deutlich, wenn
im Zusammenhang mit den Engelehen vom Ursprung des Bösen
gesagt wird (95): „. . . daß dieses Böse nicht von Ewigkeit her ist. Es ist
lediglich das Ergebnis des bösen Willens geschaffener, dem Menschen
überlegener Wesen. Dieses Böse kann mit Gottes Hilfe überwunden
werden." Bei diesen Überlegungen bleibt der religionsgeschichtliche
Aspekt übrigens völlig unberücksichtigt und wird erst in den Schlußbemerkungen
(159) eher beiläufig erwähnt. Man muß daher auch den
Schlußsatz des II. Kap. als nicht ausreichend begründet ansehen, daß
„solch eine Sicht der Heilsgeschichte ... in Israel neu" war. (96)

Im III. Kap. sucht der Autor nun den Einfluß von Hen 9-11 auf das
Neue Testament nachzuweisen. Dabei untersucht er Mt 22,11 — 13,
1 Petr 3,19, Jud6 und Offb 20,2-3. Die Abhängigkeit des NT vom
Henochbuch wird dabei natürlich bestätigt, wobei allerdings auch hier
das apologetische Interesse des Autors bestimmend ist. So bleiben die
wichtigen dogmengeschichtlichen Fragen unberührt, die sich daraus

ergeben, daß die angeführten.ntl. Texte offenkundig die im Henochbuch
belegte Angelologic und Dämonologie rezipieren.

So sehr das Bemühen des Autors zu begrüßen ist, die außerbiblische
Literatur systematisch für die Interpretation der neutestamentlichen
Schriften zu nutzen, so sehr drängt sich bei der Lektüre dieses Buches
ein Unbehagen auf: Hier wird praktisch die Methode der „christlichen
Interpretation" des AT auf die zwisehentestamentliche Literatur ausgedehnt
. Dadurch erliegt auch der Autor der eminenten Gefahr, die
rcligionsgeschichtlichen Sachverhalte oft nicht zu klären, sondern sie
eherauf den Kopfzu stellen.

Wien Ferdinand Dexinger

Judaica

Philo-Lexikon. Handbuch desjüdischen Wissens. Unveränd. Nachdr.
der 3., vermehrten u. verb. Aull. v. 1936. Königstein/Taunus:
Jüdischer Verlag im Athenäum Verlag 1982. VIII, 832 Sp. m.
250 Abb., zahlr. Plänen, Tabellen u. Übersichten sowie 40 z. T.
mehrfarb. Taf. u. Ktn 8'.

Der Name dieses 1936 in 3. Auflage erschienenen Lexikons ist mißverständlich
: Es geht nicht um ein Nachsehlagewerk über den jüdisch-
hellenistischen Philosophen Philo, sondern um einen 1934 im Philo-
Vcrlag edierten „Wegweiser durch alic Gebiete jüdischen Wissens aus
Vergangenheit und Gegenwart" (IV). Unter den Mitarbeitern findet
man so bekannte und anerkannte Männer wie Leo Baeck, der auch
das Geleitwort schrieb. Max Dienemann, Ismar Elbogcn, Isaak Heinemann
, Adolf Reifenberg u. a. Kurze Einzelbiographien von Gestalten
des jüdischen Altertums, des Mittelalters und der Gegenwart wechseln
ab mit Informationen über jüdische Begriffe, Vorstellungen,
Bräuche, Organisationen und Einrichtungen sowie mit Artikeln über
allgemeine Wissensdinge aus Geschichte, Wissenschaft, Kultur und
Geographie, die aus jüdischer Sicht dargeboten werden. Da der
Redaktionsschluß derabgedruckten 3. Auflage im Jahre 1935 lag. gibt
das Buch einen ganz wichtigen Einblick in die Situation, das Wirken
und das Sclbstverständnis des Judentums in Deutschland zu Beginn
des sog. „Dritten Reichs" und hat darin seine bleibende historische
Bedeutung, die den unveränderten Nachdruck voll und ganz rechtfertigt
. Daß die Statistiken über die Verbreitung der Juden in den einzelnen
europäischen Staaten und Ländern und Städten, über die Beteiligung
der Juden an Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Politik, Literatur
. Presse und Sport samt den gebotenen Prozentzahlcn heute nicht
mehr stimmen und daß manche Einzelbiographien von damals lebenden
jüdischen Persönlichkeiten noch nichts von dem oft schlimmen
Schicksal der Betreffenden ahnen lassen, macht die Lektüre dieses
Lexikons zu einer sehr schmerzlichen Sache; denn man bekommt hier
einen anschaulichen Eindruck von dem, was Hitler mit seinem Ausrottungsfeldzug
gegen das Judentum unwiederbringlich vernichtet
hat. Mit größter Betroffenheit erkennt man, wieviel gerade wir
Deutschen unseren jüdischen Mitbürgern verdanken, angefangen von
den 15 dem deutschen Kulturkreis angehörigen jüdischen Nobelpreisträgern
bis hin zu den vielen berühmten jüdischen Schauspielern,
Dirigenten und Künstlern, die das Ansehen Deutschlands als einer
Kulturnation in der weiten Welt gefordert hatten.

Dem Jüdischen Verlag im Athenäum Verlag gebührt Dank, daß er
das Philo-Lexikon unverändert nachgedruckt und unserer Gegenwart
zum Nachdenken und zur Selbstbesinnung vorgelegt hat.

Berlin Günther Baumbach

Ben-Chorin, Schalom: Narrative Theologie des Judentums anhand
der Pessach-Haggada. Jerusalemer Vorlesungen. Tübingen: Mohr
1985. 165 S. 8". Pp. DM28,-.