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Ausgabe:

1986

Spalte:

442-443

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 1986

Rezensent:

Haendler, Gert

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441

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 6

442

Merseburg, dem es um unser Reich und unsere Kirche ging, unter der
er primär seinen Bischofssitz Merseburg verstand (99-101). Auch die
Familie, Schulkameraden, Angehörige des Domkapitels Magdeburg
oder versammelte Bischöfe können gemeint sein; die reges Saxoniae
sind „unsere Könige und Kaiser". Mitunter entsteht die Frage, ob
Thietmar mehr die Sachsen oder die Deutschen meint (113). Zuletzt
ist noch „auf jene zahlreichen Passagen der Chronik einzugehen, die
Thietmar als Glied der großen Gemeinschaft aller Christgläubigen
ausweisen" (117). Oft spricht er von unseren Sünden und unserem
Ende. Insgesamt urteilt E„ „daß das Wir-Gefühl, welches zum Ausdruck
gebracht wird, sowohl zahlenmäßig als auch in der Vielfalt
seiner Spielarten das in sämtlichen Quellen übertrifft, die wir bisher
behandelt haben" (119). Das Kapitel über die f'ühsalische Historiographie
(119-151) betrifft vor allem St. Gallen, Hermann von Reichenau
und Adam von Bremen. Auch „im politisch-religiösen Spannungsfeld
zur Zeit des Sachsenaufstandes und des beginnenden Investiturstreits
" (151-161) zeigt sich ein Wir-Gefühl sowohl bei Anhängern
Heinrichs IV. wie auch bei den Gregorianern.

Zusammenfassend stellt E. die religiösen Wir-Bezüge an erste Stelle,
danach die „politisch gefärbten Wir-Belege". Ein 3. Komplex sind soziale
Bezüge: Beziehungen zu einem Kloster oder Stift, zu einer Familie
oder zum Hofklerus. Er betont, „daß sich das in die soziale
Richtung laufende Wir-Gefühl stets auf bestimmte elitäre Gruppen
bezieht; ein die herrschende Klasse im Feudalismus insgesamt umschließendes
kommt ebenso wenig vor, wie es eine durchgängige Benennung
für diese Klasse in den Quellen gibt" (168). Im 11. Jh. nimmt
die persönliche Anteilnahme zu. E. zeigt, daß die Entwicklungen „die
Historiographen nicht nur zurTJerichterstattung reizten, sondern auch
an ihre Emotionen rührten" (179).

Barbara Pätzold untersucht die Auffassung des ostfränkisch-
deutschen Reiches als „Regnum Saxonum" in Quellen des 10. Jhs.
vornehmlich bei sächsischen Geschichtsschreibern (181-286). Die
Formel „Francia et Saxonia" meinte den ostfränkischen Raum. Der
Gedanke einer Translatio eines Reiches geht zurück auf Daniel 2,21:
Den Traum von vier Weltreichen deutet Daniel so, daß Gott die
Reiche überträgt. Karls Kaiserkrönung wurde als Translatio imperii a
Graecis ad Francos verstanden. Eine Translatio zu den Sachsen taucht
bei Widukind von Corvey auf. Die Übertragung der Reliquien des
Märtyrers Vitus aus dem fränkischen Kloster St. Denis in das sächsische
Kloster Corvey war „eine der Schlüsselszenen für Widukinds
Politisch-ideologische Anschauungen" (216). Aber erst bei Hrosvita
von Gandersheim wird „der Gedanke der translatio regni Francorum
ad Saxones in ganz klarer Weise formuliert" (223). Hrosvita „griff
direkt auf die Bibel zurück - auf jene oben zitierte Stelle im Buch
Daniel, nach der Gott die Könige ein- und absetzt" (230). Die Hildesheimer
Analen meinen nach Ansicht der Vfn. wahrscheinlich
»mit dem Reich der Sachsen ganz Deutschland" (231). Die Sachsen
wirkten „schon fast ein Jahrhundert lang als Kernvolk und Reichsvolk
des deutschen regnum" (242/243). Ottos Kaiserherrschaft wird
auch in „der Vita Mathildis antiquior . . . religiös motiviert" (254).
Das Gottesgnadentum ist wichtig: „Hier trifft sich die ältere Mathildenvita
insbesondere mit Auffassungen Widukinds, während Hrotsvit
von Gandersheim zwar auch die Gottesunmittelbarkeit der sächsischen
Herrschaft betonte, jedoch als Voraussetzung für die Führung
des Kaisertitels die römische Krönung ansah" (257/258). Für das
Spätwerk „Primordia coenobii Gandeshemensis" vertritt B. Pätzold
die Meinung, „daß Hrotsvit mit dem Begriff des regnum Saxonum das
gesamte deutsche Reich umschreibe" (269). Thietmar von Merseburg
und Brun von Querfurth stehen „in einer Linie mit Auffassungen, wie
sie uns auch bei anderen sächsischen Autoren, wie Widukind, Hrotsvit
und dem Autor der Vita Mathildis antiquior, begegneten. Sie alle
sahen den Höhepunkt der Kraft und Macht des Reiches unter Otto I.
aufscheinen." Der Begriff „Regnum Saxonum" bedeutet einen qualitativen
Sprung im Prozeß auch der Staatsbildung. Die Lösung des
Problems blieb „erst dem folgenden Jahrhundert mit seinem regnum
Teutonicorum vorbehalten" (286).

Der abschließende Aufsatz von W. Eggert untersucht „Spuren der
nichtrömischen Kaiseridee im 11. Jahrhundert" (287-298). Die Bezeichnungen
Caesar und Imperator werden verändert. Die Altaicher
Annalen nennen den in Rom gekrönten Herrscher imperator, ebenso
Lantpert von Hersfeld und Adam von Bremen. Vorher verwendeten
Widukind von Corvey und Ruotgers Vita Brunonis den Begriff imperator
gerade für den noch nicht zum Kaiser gekrönten König, sofern
dieser Erfolge hatte und über mehrer Völker herrschte. Unter den Ot-
tonen verfestigte sich der Titel „Imperator Romanorum" so, daß Geschichtsschreiber
für eine nichtrömische Kaiseridee den Begriff
Caesar verwenden mußten. Eggert kann zeigen, daß sich Nachklänge
der nichtrömischen Kaiseridee länger erhalten haben, als man bisher
annahm. Von diesem 3. Beitrag her hätte man sich ein stärkeres Eingehen
auch auf angelsächsische Quellen gewünscht, was auch der
Titel des Bandes erwarten ließ. Bei Beda tauchen die Saxones vielfach
auf, auch die Formel „Franci et Saxones" (1,6). Die Worte imperare
und imperium ohne Bezug auf Rom kommen 11,5 vor. Abt Adamnan
von Hy feiert in seiner Vita Columbae den Angelsachsenkönig Oswald
als imperator totius Britanniae. Eggert deutet das an durch Nennung
von Literatur S. 292, Anm. 25-31. Der ganze Band beruht auf Quellen
und Literatur; ein ausführliches Register bietet vielfache Einstiegsmöglichkeiten
(313-328). Es gibt kaum Seiten ohne Anmerkungen,
oft machen sie mehr als die Hälfte der Seite aus. Es steckt viel Arbeit in
diesem Band, gerade auch im Detail.

Rostock Gert Haendler

Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters. Namens der Mo-
numenta Germaniae Historica hg. von Horst Fuhrmann und Hans
Martin Schaller. 40. Jg. Köln-Wien: Böhlau 1984. XIV, 792 S.

gr. 8°.

Dem Bericht von Horst Fuhrmann über Fortschritte der Monu-
menta Germaniae Historica 1983/1984 (I-XIV) folgt ein Beitrag von
Horst Wollasch: „Kaiser und Könige als Brüder der Mönche -
Zum Herrscherbild in liturgischen Handschriften des 9.-11. Jahrhunderts
". Er bemerkt, daß „die Einträge karolingischer, ottonischer und
salischer Herrscher in Verbrüderungs- und Totenbücher... in klösterlichen
Handschriften bei weitem jene in Handschriften an
Bischofskirchen und Kollegiatstiften" übertreffen (2). Es ging den
Herrschern um „die Aufnahme in eine irdische und in eine überirdische
Handschrift, in den Liber Vitae" (7). Die Handschriften
enthalten mitunter Bilder von Herrschern; es waren Gaben des Herrschers
an Klöster, um in deren Bruderschaft aufgenommen zu werden.
„So konnte das Herrscherbild in der liturgischen Handschrift jedenfalls
nicht als Anmaßung gegenüber dem göttlichen Herrscher mißverstanden
werden, sondern empfing eine klar umschriebene Funktion
der Mitteilung in der gegenseitigen Beziehung von Herrscher und
Klostergemeinschaft" (20). Franz Staab überschrieb seine Arbeit
„Die Wurzel des zistersiensischen Zehntprivilegs - Zugleich: Zur
Echtheitsfrage der ,Querimonia Egilmari episcopi' und der ,Respon-
sio Stephani V. Papae'" (21 -54). Jene Quellen angeblich aus den Jahren
890/891 werden einmal mehr als Fälschungen erwiesen; sie gehören
in das 11. Jh., als der Mainzer Erzbischof Zehntrechte verlangte
, die gewohnheitsrechtlich Klöstern zuflössen; Bischof
Benno II. von Osnabrück hat als Autor zu gelten. Gedanken einer Beschränkung
der Zehntrechte für Klöster fänden Raum bei den Zister-
siensern. Herbert Bloch geht auf eine merkwürdige Quelle ein: „Der
Autor der .Graphia aurea urbis Romae'" (55-175). Bloch weist das
Werk dem Bibliothekar Petrus von Montecassino zu, dessen „literarische
Produktion zum großen Teil aus Fälschungen bestand" (63).
Nach antiken Texten beschrieb Petrus Throne und Kleidung altrömischer
Kaiser; es würde ihm Genugtuung bereiten, „daß die Graphia
noch achthundert Jahre nach ihrer Abfassung eine so große Rolle
in der Wissenschaft spielen würde" (145). Bloch sieht die Schrift im
Zusammenhang mit Bestrebungen, in Rom 1143 das alte Kaisertum
wieder zu errichten; sie waren nur kurzfristig. Aber Petrus, der