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Ausgabe:

1986

Spalte:

427-428

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Longenecker, Richard N.

Titel/Untertitel:

New Testament social ethics for today 1986

Rezensent:

Friedrich, Johannes

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Seite 1

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427

Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 6

428

Levinson, N.Peter: Psalm 51 - Schuld und Sühne. (ZdZ 39. 1985.
227-231)

Sänger. Dieter: Erwägungen zur historischen Einordnung und zur Datierung
von „Joseph und Aseneth". (ZNW 76,1985,86-106)

Neues Testament

Longenecker, Richard N.: New Testament Social Et Ines for Today.

Grand Rapids: Eerdmans 1984. XIII, 108 S. 8°. Kart. £ 5.30.

Richard N. Longenecker, Professor für Neues Testament an der
Universität von Toronto, legt in seinem kleinen Büchlein (108 Seiten)
einen interessanten Versuch vor, eine „Hermeneutik der Entwicklung
" ("A Developmental Hermeneutic") für heute wichtige sozialethische
Fragen fruchtbar zu machen. Die bestimmende Frage ist für
ihn: Warum sollen wir heute das NT zur Lösung sozial-ethischer Probleme
heranziehen und in welcher Weise sollen wir dies tun? Alle bisherigen
Versuche der Benutzung des Neuen Testaments für heutige
sozial-ethische Fragen teilt L. in vier Kategorien ein, die er aber alle
für problematisch hält (1-9):

1. Das Neue Testament als Gesetzbuch - Problem: Die Bibel wird
leicht nur noch Kontroll-Instanz über die Menschen; die Tradition
bekommt leicht den Vorrang vor der Schrift. 2. Im Neuen Testament
finden wir nur die grundlegenden Prinzipien der Ethik (Hauptvertreter
: Adolf von Harnack)- Probleme: Theologie verwandelt sich leicht
in Philosophie; christliche Ethik wird leicht zum Naturgesetz. 3.
Gottes freier Wille offenbart sich direkt durch den Heiligen Geist, der
in der heutigen Zeit die nötigen Instruktionen gibt (Hauptvertreter:
Emil Brunner) - Problem: Christliche Ethik wifd zu subjektiv und zu
individualistisch. 4. Kontext-Exegese und Situations-Ethik (Hauptvertreter
: Lehmann) - Problem: Es ist suspekt, wenn die Liebe das
einzige Kriterium für ethische Entscheidungen sein soll. L. meint, daß
jeder dieser Ansätze etwas Richtiges an sich hat, wenn ihm auch die
Probleme jeweils zu groß sind.

Er stellt demgegenüber sieben grundlegende Thesen auf, die sein
Bibelverständnis wiedergeben (10-14): 1. In der ganzen Bibel ist das
Muster für soziale Moral im Volk Gottes das, was Gott und seine
große Liebe für die Menschheit getan hat. 2. Die Morallehre der Liebe
steht immer in ganz enger Relation zur Botschaft der Bibel als ganzer:
Christliche Ethik kann nicht autonom sein. 3. Biblische Ethik gibt ein
neues Wertsystem, das anders ist als die Wertsysteme, die nur sozialen
Bedürfnissen entspringen. 4. Das Neue Testament proklamiert eine
Botschaft der Freiheit von Vorschriften und vom Gesetz (vom Legalismus
und Nomismus). 5. Christliche Freiheit ist antinomistisch; sie
folgt dem Vorbild Jesu; ergibt die Richtung an. 6. Christliche Ethik ist
direkt beeinflußt durch den Heiligen Geist von Gott her. 7. Biblische
Ethik ist immer im jeweiligen Situations-Kontext zu sehen.

Von diesen Erwägungen ausgehend, versucht Longenecker das von
ihm aufgezeigte Dilemma einer Lösung zuzuführen (14-15): 1. Die
ethischen Äußerungen des Neuen Testaments machen nicht nur Vorschläge
, sondern sie sind mit bestimmendem Nachdruck ernstzunehmen
. 2. Es gibt keine direkten Gesetze, die detailliert Einzelfragen
regeln, sondern wichtig sind die Prinzipien für ein Leben, das von
Gott angenommen ist. 3. Es muß ein direktes Wirken des Heiligen
Geistes im christlichen Leben geben. 4. Es muß auf die jeweilige
besondere Situation geachtet werden. L. versucht deshalb, christliche
Ethik wie folgt zu definieren: "prescriptive principles stemming from
the heart of the gospel (usually embodied in the example and teachings
of Jesus), which are meant to be applied to specific situations by the
direction and enablement of the Holy Spirit, being always motivated
and conditioned by love" (15).

Die "Developmental Hermeneutic" Longeneckers geht von der
richtigen Beobachtung aus, daß in der gesamten Bibel immer wieder
eine Verbindung von Altem und Neuem zu finden ist (New Treasures

as well as old, Mt 13,52). So interpretieren schon im Alten Testament
spätere Propheten die früheren neu, so wie dann im Neuen Testament
immer wieder Aussagen des Alten Testamentes neu interpretiert
werden. Gerade die vier Evangelien sind nach L. ein gutes Beispiel
dafür, wie biblische Schriftsteller versuchen, die Wahrheit der Verkündigung
beizubehalten und sie gleichzeitig für die jeweilige besondere
Situation fruchtbar zu machen, vor der sie standen. "Likewise,
Paul's letters evidence this wedding of old and new in their pastoral
applications of the gospel to various theological and ethical Problems
inthechurches" (21).

Aber nicht nur die Bibel, sondern auch die Kirchengeschichte ist
eine Geschichte der Entwicklung. Fragen wir daher nach der Wegweisung
der Bibel für unsere heutige Situation, dürfen wir die Geschichte
der Kirche nicht außer acht lassen.

Ausgehend von Gal 3,28 führt L. sein Programm nun an drei ausgewählten
Beispielen durch: The Cultural, Social and the Sexual
Mandate („weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier,
weder Mann noch Frau"). Dabei schildert er zunächst immer sehr gut
und auf dem neuesten Stand der Forschung die Situation der Umwelt
zu dem jeweiligen Problem, dann die Anweisung des Evangeliums,
darauf folgt die Praxis der Kirche, wie wir sie dem Neuen Testament
entnehmen können, schließlich die Behandlung des Problems in den
folgenden Jahrhunderten in der Kirchengeschichte. Einige Erwägungen
für heute schließen die Betrachtung dann ab.

Für den dritten Bereich sieht dies zum Beispiel so aus (70-93): L.
resümiert in den Erwägungen für die heutige Zeit: Leider gibt es heute
noch unter Christen die Angewohnheit, die Frauen nicht ganz ernst zu
nehmen. Dies geschieht direkt durch Worte oder indirekt durch eine
ganze Reihe von Praktiken. Dafür ist Paulus oft verantwortlich
gemacht worden. Aber Paulus wollte nicht die Frage des Verhältnisses
von Mann und Frau lösen, seine Lösung ging ein ganzes Stück weiter
als wir gewöhnlich erkennen. Dahinter steht nämlich das theologische
Problem der verschiedenen Kategorien von Schöpfung und Erlösung.
Wo der Schöpfungsgedanke mehr betont wird, da ist die Unterordnung
der Frau gewöhnlich auch stark betont. Wo der Erlösungsgedanke
stärker betont wird, da ist Freiheit, Änderungsmöglichkeit
und Gleichheit der Frau an der Tagesordnung. Paulus versucht in seiner
Theologie diese beiden Dinge zusammenzufassen, wobei er nach
Meinung L.s mehr Wert auf die Erlösung legt. Wenn Paulus in dieser
Frage auch nicht so weit geht wie bei dem Problem Juden - Griechen,
so meint der Autor, daß er doch ähnlich wie dort sagt, daß Männer
keine Prävokative gegenüber den Frauen haben sollen. Dies ist seiner
Meinung nach solch eine grundlegende christliche Wahrheit, daß wir
heute an einer christlichen Ethik zu arbeiten haben, die auf dem Prinzip
der Evangelien basiert und die dem Vorbild und dem Beispiel der
Apostel folgt.

Ich habe das Buch mit großem Interesse und mit wachsender
Zustimmung gelesen. Was mir besonders gut gefallen hat, sind die
subjektiven Äußerungen des Autors, die bei einem Buch nicht fehlen
dürfen, das sozial-ethische Erwägungen für die heutige Zeit anstellen
will. Dennoch scheint mir die offene und deutliche Stellungnahme
dieses Wissenschaftlers in der deutschsprachigen neutestamentlichen
Literatur leider schwer vorstellbar. Nach meiner Erfahrung ist dies
aber der Grund, warum Studenten heute der Nutzen der historischkritischen
Exegese oft nur so schwer vermittelbar ist. Aus diesem
Grunde möchte ich das besprochene Büchlein sehr weiterempfehlen.
Es ist meines Erachtens durchaus den Studenten zuzumuten, obwohl
es englisch geschrieben ist. Dies scheint mir übrigens der einzige
größere Mangel an dem Büchlein von L. zu sein, daß er die deutschsprachige
Diskussion nur soweit aufgenommen hat, als Werke deutscher
Wissenschaftler ins Englische übersetzt worden sind. Angesichts
der genannten Vorzüge scheint mir das aber vernachlässigbar zu sein.
Was vorliegt, ist ja keine umfassende Sozial-Ethik, sondern ein Denkanstoß
in eine - wie mir scheint - richtige Richtung.

Nürnberg Johannes H. Friedrich