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Ausgabe:

1986

Spalte:

425-426

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Féner, Tamás

Titel/Untertitel:

Jüdische Traditionen in Ungarn 1986

Rezensent:

Schreiner, Stefan

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Seite 1

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425

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 6

426

drücklich zur Kenntnisnahme und zur Auseinandersetzung mit S.s
Sicht auch im deutschsprachigen Raum an.

Berlin Christian WolfT

' S. ist darauf in seinem Buch "Paul, thc Law, and thc Jewish People", Philadelphia
1983 eingegangen; vgl. dazu E. Schweizers Rezension in ThLZ 109.
1984,666-668.

Fener, Tamäs, u. Sändor Scheiber; Jüdische Traditionen in Ungarn.

Hg. von M. Sivö. Übers, aus dem Ung. von I. Fabö. Leipzig:
Koehler & Amelang 1985. 156 S. m. zahlr. färb. Abb. 8°. Lw.
M 38,-.

Eine Dokumentation besonderer Art ist es, die der Verlag Koehler
& Amelang dankenswerterweise gemeinschaftlich mit dem Corvina
Verlag Budapest nunmehr in einer deutschsprachigen Ausgabe (die
ungarische Originalausgabe erschien 1984) herausgegeben hat, eine
Dokumentation, deren Anliegen es ist, in Wort und Bild (Fotos) von
der Vielfalt jüdischen Lebens im heutigen Ungarn Bericht zu geben.
Die - einschließlich Umschlagbild - insgesamt 120 Fotos stammen
sämtlich von Tamäs Fener, dem - It. Klappentext - Vorsitzenden des
Verbandes der Fotografen Ungarns. Die erläuternden Texte verfaßte
Sändor (Alexander) Scheiber, der bis zu seinem Tode im März 1985
am Budapester Rabbinerseminar als akademischer Lehrer, unermüdlicher
Forscher auf vielen Gebieten der Wissenschaft des Judentums
und umsichtiger Rektor gleichermaßen verdienstvoll wirkte und
durch sein umfangreiches wissenschaftliches Werk weit über Ungarns
Grenzen hinaus bekannt und geschätzt worden ist.

Bei den Fotos handelt es sich um die Reproduktion einer Ausstellung
, die der Fotograf im Frühjahr 1983 im Ungarischen Ethnographischen
Museum zu Budapest veranstaltet hat, um ,,über das Leben
der Juden in Ungarn, über ihre Gemeinden, über das, was sie Jahrhunderte
hindurch erhalten hat, und über diejenigen, die an Zahl so arg
dezimiert im Jahr 1945 bei Kriegsende übrigblieben", Auskunft zu
geben, wie es im Klappentext heißt. Wenn auch nicht alle Fotos
gleichermaßen ausdrucksstark sind, manche, wie etwa der Blick in die
Küche des koscheren Restaurants (S. 118), die Mazzenbäckerei
(S. 820 oder die koschere Fleischerei (S. 114f, 117), zudem nicht
gerade anziehend wirken, so ist ihnen allen dennoch außerordentliche
Sensibilität und Sympathie des Fotografen für die Menschen und
Dinge, die er fotografiert hat, abzuspüren. Man spürt allenthalben
Behutsamkeit und Zurückhaltung. Sie gestatten es dem Betrachter der
Bilder, unaufdringlicher Beobachter ritueller Handlungen ebenso wie
gewöhnlicher Alltagsszenen zu sein. Auch gebührende Diskretion
wird gewahrt; die Namen der Fotografierten erfährt der Betrachter
nicht.

Das Buch umfaßt drei Hauptteile. Vorangestellt ist eine Einleitung,
m der die wichtigsten Daten und Fakten in prägnanter Kürze zur
Geschichte der Juden in Ungarn (S. 5-8) von den Anfangen noch zur
Römerzeit bis in die Gegenwart zusammengefaßt sind.

Der erste Hauptteil „Von der Wiege bis zum Sarg"(S. 9-35) gilt der
Schilderung wichtiger Stationen im Leben der Menschen, von der
Beschneidung, über die Bar-Mizwa, die Hochzeit bis zum Tode. Der
zweite Hauptteil, „Feste" (S. 37-101) beinhaltet einen Gang durch
das jüdische Festjahr, beginnend mit dem Schabbat und dann von
Rosch ha-Schana bis Tisch'a be-A; also von Neujahr bis zum Tag
des Gedenkens an die Tempelzerstörung(en). Über die übliche Reihe
der Fest- und Fasttage hinaus ist darin der Zqjin Adar (=7. Adar), der
Geburts- und Todestag des Mose, aufgenommen. Dafür fehlt der sonst
gewöhnlich mitgerechnete Tu bi-Schewat (= 15. Schewat), das Neujahrsfest
der Bäume, im Festkalender. Der dritte Hauptteil schließlich
berichtet vpm „Alltag" (S. 103-145), vom täglichen Gebet, von den
Speisegeboten, vom Lernen in der Talmud-Tora, im jüdischen Gymnasium
, im Rabbinerseminar, bis zu dem Brauch, die „Gräber der
Ahnen", d. i. von E. Taub in Nagykällö, von M. Teitelbaum
(= Begründer des Chassidismus in Ungarn) in Sätoraljaüjhely und

J. Steiner in Bodrogkeresztür, zu besuchen. Im Anhang findet der
Leser notwendige Begriffserklärungen (S. 149) sowie weiterführende
bzw. zitierte Literatur (S. 150-153), nach den einzelnen Kapiteln
geordnet.

Die die Bilder begleitenden erläuternden Texte sind trotz aller
Kürze sehr informativ. Stets erfährt der Leser zuerst von Ursprung
und Anlaß eines Festes, eines Rituals, eines Brauchs, eines Gebotes
und deren Entfaltungen. Vor allem ist der Autor jedoch bemüht, das
jeweilige Brauchtum zu erläutern, wobei er natürlich das heute in
Ungarn gepflegte besonders im Blick hat, sehr häufig aber auch Vergleichbares
aus jüdischen Traditionen in anderen Ländern in Vergangenheit
und/oder Gegenwart berücksichtigt, gelegentlich zudem
einen Exkurs in die vergleichende Folkloreforschung unternimmt.
Gerade darin kann er immer wieder auf eigene Forschungsergebnisse
zurückgreifen; war doch die vergleichende Folkloreforschung über
viele Jahre sein Hauptarbeitsgebiet (vgl. „Folklör es tärgytörtenet"
[Folklore und Motivgeschichte], 2 Bde, Budapest 1977; "Essays on
Jewish Folklore and Comparative Literature", Budapest 1985).

Auf Einzelheiten einzugehen, ist hier nicht der Ort. Merkwürdig
aber, und daher hier erwähnenswert, ist die Erklärung der Symbole
des Pessachfestes (S. 84), bei denen man das Ei vermißt. Zwar wird es
an anderer Stelle genannt, als Symbol der „Wandelbarkeit des Schicksals
" und „Symbol der Trauer" (vgl. S. 30) wird es doch seinen Platz
auf der Sederschüssel nicht bekommen haben (S. 84 u.). Und wie
kommt „der Geflügelhals als Erinnerung an das Opfer" (S. 84 o.) auf
die Sederschüssel? Nach der Tradition sollte diese Erinnerung ein
angebratener Lammknochen ausdrücken.

Bedauerlicherweise hat das Buch offenbar nicht den aufmerksamen
und gründlichen Lektor gefunden, den es verdient hätte. So ist es wohl
zu erklären, daß nicht nur sinnentstellende Druckfehler geblieben
sind (S. 60 r. Sp. Z. 4 v. u. muß es „Furcht" statt „Frucht", S. 81 Z. 11
v. u. wohl „fürchtet" statt „flüchtet", S. 149 1. Sp. Z. 14 v. o. Bä al
Schern Tow statt Bai Schern Town, S. 150 m. Sp. Z. 11 v.o.
1981/21982 statt 1912 heißen), sondern auch Ausdrücke belassen
wurden, die besser hätten ersetzt werden sollen (so S. 67.83.96.107
„Grotten am Toten Meer" durch das im Deutschen übliche „Höhlen
am toten Meer", S. 117 „koschere Schlachtbank" (sie!) durch
„koschere Fleischerei", S. 87 „Mazzesfabrik" durch „Mazzenbäckerei
"; für S. 81 maschchü (Ex 12,23 hätte auch ein passenderer Ausdruck
als „verheerender Geist" gefunden werden müssen, und ebenso
wäre der Name des Festes S. 63 f, das zuweilen „Fest der Geset/cs-
freude", zuweilen „Fest der Freude an der Thora" genannt wird unter
Berücksichtigung des Umstandes, daß Thora in den Begriffserklärun-
gen (S. 149) als „Lehre" bestimmt wird, zu vereinheitlichen gewesen).
Unklar ist, wer mit den „exotischen Juden" (sie S. 89 Z. 8 v. u.!)
gemeint sein soll.

Für das Buch werden gewiß viele dankbar sein. Ermöglicht es doch
eine Anschauung von jüdischem Leben, wie es in seiner Vielfalt -
mindestens hierzulande - nicht mehr erfährbar ist. Zudem vermittelt
es nicht nur optische Eindrücke, sondern hält zugleich die erforderlichen
Erklärungen bereit, die erst ein rechtes Verstehen ermöglichen.
Erklärungen, die mit größter Sachkenntnis formuliert sind; und eben
dies ist das wichtigste. Der ungarische Publizist Jänos Hajdu sagte in
seiner Rede zur Eröffnung der o. e. Fotoausstellung (nachzulesen im
Klappentext); „Wenn wir heute auf die jüdische Komponente der
ungarischen Nationalkultur nicht nur einfach hinweisen, sondern sie
zur Bereicherung der Kultur des ungarischen Volkes mit derselben
Selbstverständlichkeit in Erinnerung bringen, wie wir es mit den
christlichen Traditionen der ungarischen Kultur in Esztergom tun,
dann tragen wir vielleicht dazu bei. Aufgeschlossenheit in den Köpfen
der Menschen zu wecken ..." Und eben dies sollte Anliegen doch
nicht nur in und für Ungarn sein.

Berlin Stefan Schreiner

Erdmann. Gustav; Für die Bestimmung des Menschen. Moses Mendclsohn
zum 200. Todestag. (Standpunkt 14, 1986,20-22)