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Ausgabe:

1986

Spalte:

421-425

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Sanders, Ed P.

Titel/Untertitel:

Paulus und das palästinische Judentum 1986

Rezensent:

Wolff, Christian

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Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 6

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Liebe, Sprechen über das Geschlechtliche, Liebende und andere, Liebende
und Liebender: Liebe als gegenseitige Beziehung, Liebende(r)
und das Selbst. Das Inhaltliche sei knapp skizziert: Es wird nicht
abstrakt über Liebe gesprochen, sondern die Liebenden enthüllen
durch ihre Worte ihre Gedanken und Gefühle. Ferner ist die gezeichnete
Zuneigung wahrscheinlich eher ein Ideal als die Realität. Man
darf nicht vorschnell von dem literarischen Befund auf die sozialen
Verhältnisse schließen, über die wir obendrein relativ wenig wissen.
Der Vf. lehnt es ab, zu häufig Anspielungen auf die Geschlechtsorgane
und den Geschlechtsverkehr finden zu wollen. Sexualität und Erotik
begegneten hier in einem den gesamten Körper sowie das Verhalten
zueinander umfassenden und dabei zarteren Sinne. Das Auftreten anderer
Personen wird je forderlich oder beeinträchtigend erlebt. Die
Partner sind Individuen, nicht Archetypen. Sie handeln in ebenbürtiger
Freiheit und bringen ihre Liebe auf übereinstimmende Weise zum
Ausdruck. Der Geschlechtsverkehr, über den ohne Scheu gesprochen
wird, ist nicht der Ehe vorbehalten, aber auf dem Weg zu ihr. Die in
Cant gehegte sexuelle Tugend besteht nicht in Keuschheit, hingegen
in Treue und vorbehaltloser Hingabe an den Partner, die engste und
dauerhafte Bindung verwirklicht. Ein bemerkenswerter Unterschied
zwischen dem Hohenliede und den ägyptischen Liebesliedern fällt
auf: In Cant befindet sich das Paar im Dialog miteinander; das fehlt
dort fast völlig. Endlich kann man erkennen, daß die Liebenden sich
gegenseitig aufeinander konzentrieren und daß sie nicht darüber
sprechen, wie der andere wirklich beschaffen ist, sondern wie sie ihn
sehen.

Zum Beschluß seien zwei Sätze zitiert, die sich mitten unter den
Darlegungen finden: "The conclusion ofthe Song is not the end ofthis
love story, but only a pause in its movement. Love of the sort shown in
Canticles must be ever dynamic" (S. 226).

Das Werk präsentiert sich in einer ausgezeichneten Aufmachung.
Es ist vorzüglich hergestellt und sauber ausgeführt. Druckfehler finden
sich kaum. Angemerkt werden muß, daß man S. 369 'Transcription
' zu lesen hat anstatt 'Translation'. Der Wert des Buches wird
durch einen ägyptischen Bilderteil, verwandte ägyptische Texte, eine
Konkordanz der ägyptischen Wörter und eine Autographie der
ägyptischen Liebeslieder, ferner eine Bibliographie einschlägiger Veröffentlichungen
, auch wenn nicht in die Erörterungen einbezogen,
sowie Register der Sachen, Autoren, Wörter und Texte erhöht und
abgerundet.

Formulierte der Vf. in der Einleitung, sein Ziel sei es, zu einem
reicheren Verständnis der literarischen Behandlung der Liebe in
Ägypten und Israel zu führen, dann darf ihm m. E. nicht nur bescheinigt
werden, daß er sein Vorhaben vollauf zustandegebracht hat. Er
hat obendrein die Erklärung des Hohenliedes maßgeblich bereichert
.

Leipzig Wolfram Herrmann

Judaica

Sanders, E. P.: Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich
zweier Religionsstrukturen. Aus dem Amerik. von J. Wehnen
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985. XV, 737 S. gr. 8'
= Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 17. geb. DM 148,-.

Gegenüber einer abwertenden Beurteilung des spätantiken Judentums
ist man gerade in den vergangenen Jahren immer sensibler
geworden. Die „klassischen" Darstellungen der frühjüdischen Religion
besitzen nicht mehr unbestrittene Autorität, die Arbeit an den
Quellen selbst rückt stärker in den Vordergrund. Das hier anzuzeigende
Buch von S. - die deutsche Übersetzung des 1977 unter dem
Titel "Paul and Palestinian Judaism" erschienenen Originals- ist ein
wichtiger Forschungsbeitrag auf diesem Gebiet.

Dem Vf. geht es um einen Strukturvergleich der palästinisch-
trühjüdischen Religion und der des Paulus, um einen „Vergleich zwischen
Paulus und dem Judentum auf der Basis seines jeweiligen
Selbstverständnisses" (12). Ein Grundanliegen der Untersuchung
besteht darin, „der vorherrschenden christl. Beurteilung des rabb.
Judentums, wonach es sich bei ihm um eine Religion gesetzlicher
Werkgerechtigkeit handele, ein Ende zu bereiten" (IX).

Einleitend wird vor allem die Ganzheitlichkeit des Vergleichs von
Religionsstrukturen gegenüber einer an Einzelheiten orientierten
Motivforschung betont. Erst bei jener Art von Betrachtung kommt das
Funktionieren einer Religion, wie man in sie gelangt und in ihr bleibt,
voll in den Blick. - Für das Frühjudentum werden als Quellen palästinisch
-jüdische Schriften aus dem Zeitraum zwischen 200 v. Chr.
und 200 n. Chr. herangezogen. Bewußt unberücksichtigt bleiben die
Test. XII wegen ihrer komplizierten Entstehungsverhältnisse, SyrBar
wegen seiner Abhängigkeit von 4. Esra und die Targumim.

S. setzt bei der tannaitischen Literatur ein, da hier auf Grund des
Umfangs und des kollektiven Charakters dieser Literatur am ehesten
die Bezeugung einer einheitlichen Religionsstruktur zu erwarten ist.
Zunächst wird in einem forschungsgaschichtlichen Überblick gezeigt,
wie weit das Fehlurteil, die rabbinische Soteriologie sei von individueller
Heilssuche und gesetzlicher Werkgerechtigkeit geprägt, gerade
durch die Arbeiten von F. Weber, W. Bousset, P. Billerbeck und
R. Bultmann bis in die gegenwärtige neutestamentliche Forschung
hinein verbreitet ist und Korrektive, wie etwa die Arbeiten von G. F.
Moore und E. Sjöberg, unzureichend oder gar nicht zur Kenntnis
genommen wurden.

Einer neuerlichen Untersuchung der von F. Weber. W. Bousset und
P. Billerbeck ausgewerteten rabbinischen Texte ist der umfangreichste
Teil des Buches gewidmet. Berücksichtigt werden hier vor allem
die Mischna, die Tosefta und ein großer Teil der anonymen Überlieferungen
in tannaitischen bzw. halachischen Midraschim. S. konstatiert
erst einmal die „nicht-systematische Natur rabb. Denkens" (68), das
aber durch die fundamentale Vorstellung vom Bundesnomismus ein
organisches Ganzes darstellt, wonach „der Platz eines jeden Menschen
im Plane Gottes durch den Bund begründet wird und . . . der
Bund als geziemende Antwort des Menschen dessen Befolgung der
Gebote verlangt, während er bei Übertretungen Sühnmittel bereitstellt
" (70). Der Bund aber wird nicht erst durch Gesetzeserfüllung erworben
, sondern gilt als unverdiente Gabe Gottes den Erwählten, die
darauf mit Gesetzeserfüllung antworten. Der Gnadencharakter des
Bundes wird auch daraus deutlich, daß menschlicher Ungehorsam die
Verheißungen Gottes nicht hinfällig macht. Innerhalb des Bundes
wird der Gehorsam des Menschen bzw. seine lautere Absicht belohnt,
sein Ungehorsam bestraft; eine berechnende Gebotserfüllung wird
jedoch verworfen, Motiv des wahren Gehorsams ist allein die Liebe zu
Gott. Rabbinische Aussagen über die Maß-um-Maß-Vergeltung und
solche über die Größe der göttlichen Barmherzigkeit gegenüber den
Gehorsamen dienen in gleicher Weise der Förderung der Gebotserfüllung
. Wo die Reaktion Gottes eschatologisch verstanden wird, erfolgen
Lohn und Strafe in der zukünftigen Welt; aber es wird nie gesagt,
worin sie bestehen. Es geht dabei nicht um ein Verdienen der kommenden
Welt durch Gehorsamstaten, sondern um den Erweis von
Gottes Gerechtigkeit, die kein Sündigen ungestraft und keinen Gehorsam
unbelohnt läßt. Der Verabsolutierung eines exakten Aufrechnungsprinzips
stehen Aussagen entgegen, wonach die Übertretung
eines einzigen Gebots alle anderen Gebotserfüllungen hinfällig
machen oder aber die Erfüllung auch nur eines Gebots rettende
Bedeutung haben kann. Stets ist der paränetische Charakter der rabbinischen
Vergeltungslehre deutlich, der keine Systematisierung verträgt
. Eine Soteriologie der Abwägung ist aber auch auf Grund der
Überzeugung von der Erlösung durch die Bundeszugehörigkeit und
durch Sühne unwahrscheinlich. Die Grundüberzeugung lautet, daß
jeder Israelit an der zukünftigen Welt Anteil haben wird, es sei denn,
er hat sich vom Bund getrennt. Für jede Übertretung-abgesehen von
der Leugnung Gottes und seines Bundes - gibt es denn auch von Gott
festgelegte, vielfältige Sühnmittel, die freilich nicht automatisch wirken
, sondern von Buße begleitet sein müssen. Buße ist dabei nicht als