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Ausgabe:

1986

Spalte:

16-19

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Micheel, Rosemarie

Titel/Untertitel:

Die Seher- und Prophetenüberlieferungen in der Chronik 1986

Rezensent:

Mathias, Dietmar

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Seite 1, Seite 2, Seite 3

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Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 1

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einen Compiler (Noths „Sammler"; schriftliches Stadium) statt, der
sie auf Gilgal bezog und mit ihrer Hilfe die Eroberung des Landes
durch einen beauftragten Führer, nämlich Josua, dessen Rolle und
Gehorsam er betonte, darstellte, wobei es ihm weniger um die vergangenen
Geschehnisse zu tun war, denn er unterstrich ihre Bedeutung
für seine Zeit, wie die ihm zuzuschreibenden ätiologischen Bemerkungen
ergeben. An vierter Stelle geschah die deuteronomistische
Bearbeitung, die Vf. als einen Prozeß unter Beteiligung etlicher beurteilt
, welche Gewicht auf die Einhaltung der Weisung Gottes legten,
deren Mißachtung zum Verlust des Landes führte. In dieser Endphasc
der Entstehung des Buches wurde es zu einem Programm für ein
Leben jenseits des Jordans, einem Volk zugedacht, welches das Land
verlor und neue Hoffnung suchte. Es sprach zu den Exilierten in Baby-
lonien und konfrontierte sie mit einem Gott des Universums, der
Israel erwählte und ihm half, wodurch er seine Verheißungen und Segnungen
einlöste, der aber auch heilig und eifersüchtig blieb, ebenso
seine Flüche wahr werden zu lassen. Jetzt bedurften die Juden der
Tröstung und Stärkung. Sic wurden hingegen keinesfalls ermuntert,
den gleichen Weg wie Josua zu gehen, alle Feinde vollkommen zu vernichten
, vielmehr Jahwe zu vertrauen, er werde seine Verheißungen
erfüllen, auch dann, wenn dem unüberwindbar scheinende Übermacht
entgegensteht. Die Deuteronomisten griffen die hervorragende
Stellung Josuas als Paradigma auf. indem sie vorbildhaft seinen treuen
Gehorsam dem Gesetz Mosis durchgehend herausstellten. Das letzte
Ziel unter den Verbannten war nicht das Land selbst, sondern Ruhe
vom Kriege, damit sie uneingeschränkt Jahwe dienen konnten. In diesem
Lichte spricht das Buch Josua weiterhin. Das Gottesvolk heute
erwartet die Erfüllung der Verheißungen und den Tag der Ruhe. In
dieser Zeit des Wartens ist das Wort Gottes zu studieren, um seine
Tiefen auszuloten und es in unser Leben cinzubeziehen. Zuletzt ist
eine späte, z. T. abweichende Bearbeitung vor allem durch die Septua-
ginta bezeugt.

Von einer solchen Sicht der Dinge her wundert es nicht, wenn man
liest, es müsse der Geschichte der Tradition nachgegangen werden,
weil das Buch nicht nur eine einzige Bedeutungsebene aufweist. Das
Kriterium der Autorität und Kanonizität im Alten Testament sei es
nicht, Augenzeuge der Ereignisse gewesen zu sein, vielmehr die Traditionen
heranzuziehen, um die Identität der Nation je neu zu interpretieren
.

Die wichtigsten Auffassungen im einzelnen seien kurz notiert. Veranlaßt
durch weitere Stellungnahmen zur Frage der Ätiologie in der
Zeit nach Noth, sieht Vf. die diesbezüglichen Formeln als sekundär zu
den älteren Erzählungen gefügt an, so daß diese seiner Meinung nach
nicht von Anfang an ätiologischen Charakter hatten. In Kap. 9 sei
„Mann von Israel" in den Text eingetragen, um Josua zu entlasten.
V. 15 schreibt freilich Josua die Verantwortung zu. B. nimmt aber
gibeonitische Herkunft der Erzählung an. Die Kapitel 13-19 setzen
sich aus altüberlieferten Stücken zusammen, die von den deuterono-
mistischen Redaktoren vereinigt wurden, um auf unterschiedliche
Weise Gottes Sorge für alle im Rahmen der Landzuteilung zu demonstrieren
. Das Kap. 22 enthält eine sehr alte Tradition, die aus der Zeit
stammt, als Silo dominierte. Sie wurde aufgenommen, um das Wort
Gottes in veränderter Lage kundzutun, daß nämlich die Verehrung
Gottes jenseits des Jordans - in Babylonien - möglich ist, was freilich
nicht den Normalfall darstellt, denn die Spannung bestand in der Folgezeit
fort.

Es ist ein besonderes Merkmal des vorliegenden Kommentars -
wovon offenbar die gesamte Reihe geprägt sein soll -, daß die Auslegung
nicht nur nach klassischem Muster die literarkritischen, formgeschichtlichen
und traditionsgeschichtlichen Sachverhalte herausarbeitet
, sondern auch den glaubensgeschichtlichen nachgeht, um
letzten Endes den Platz der dort enthaltenen Bekundungen innerhalb
des Gesamtzeugnisses der Heiligen Schrift zu bestimmen. Man liest
wiederholt, die Israeliten und Juden hätten die Traditionen vom
Glauben her rezipiert. Jede neue Generation wandte das Wort Gottes
auf die eigene Lage an und fügte ihm die eigene Erfahrung hinzu. Ständig
waren, wie das textkritische Studium veranschaulicht, die „israelitischen
Theologen" am Werk, die Überlieferungen zu erklären. Das
Wort Gottes begann nicht als ein Buch, hingegen als eine Geschichte,
die von Menschen erzählt wurde, indem sie glaubend auf Taten antworteten
, die sie als das Werk Gottes interpretierten. Gott benutzte
sogar die Kriege und Streitigkeiten seines Volkes, um die Grundlegung
seines Wortes vorzubereiten. Weniger entscheidend als die
historische Problematik der Erzählungen ist ihre Wahrheit für den
Glauben. Unbestreitbar sind solche Äußerungen in vielerlei Hinsicht
zutreffend. Die Zeit ist offenbar herangereift, daß auch die Kommentarliteratur
derartige Überlegungen einbezieht. Immerhin muß bei
solchen theologischen Erläuterungen bedacht werden, daß durch zu
eindeutig vorgetragene Auffassungen das Verständnis festgeschrieben
wird und kein Raum für davon abweichende Einsichten bleibt. Man
wünschte sich hierdie Dinge vorsichtiger und zurückhaltender formuliert
, so daß sie weniger eine klare Linie zeigen, als vielmehr Anregungen
zu eigenem Urteil geben.

Am Ende besteht über das eben bemerkte hinaus Anlaß zu einigen
Vorbehalten. Denn man kann Vf. nicht in allem folgen, besonders
dann, wenn seine Sicht der Dinge nicht hinreichend begründet
erscheint. Ergeht dem Zeit- und Überlieferungsgeschichtlichen nicht
bis in alle Einzelheiten nach, wie sie durch die bisherige Forschung am
Josuabuch bereitgestellt worden sind. Daneben spricht er selbstverständlich
vom Heiligen Krieg und vom Bund, ohne in die Darlegungen
eine Andeutung darüber einfließen zu lassen, daß in beiden Fällen
die eingebürgerten Hypothesen in Zweifel gezogen sind.

Die Wiedergabe "Sons of Israel" sollte durch "Israelitcs" ersetzt
werden.

B. verarbeitete viel Literatur, strebte aber offenbar Vollständigkeit
nicht an (immer wiederkehrende Titel sollte man nicht bei jedem Abschnitt
, sondern einmal am Anfang nennen). Dennoch vermißt man
eine ganze Menge, dessen Ausklammerung nicht verständlich wird (so
z. B. J. B. Pritcrwrd, Gibeon, whcre the Sun stood still, 1962; M. A.
Beek, Josua und Retterideal, Albright-FS 1971, 35-42; G. J. Wen-
ham, The Deuteronomic Theology of the Book of Joshua. JBL90
[1971), 140-148). Ebenso fehlt eine stattliche Zahl an älteren und
neueren Josuakommentarcn, die man nicht einfach verschweigen
kann. Endlich waren, ohne daß Rez. alle Abschnitte Zeile für Zeile
prüfte, weit über einhundert drucktechnische und sachliche Fehler
festzustellen, die hier nicht aufgezählt werden können. Das ist zuviel.
Eine durchgehende Neubearbeitung des Buches ist vor allem deshalb
wünschenswert, weil es von der Anlage her seinen Platz unter den
Kommentierungen des Buches Josua behaupten sollte.

Leipzig Wolfram Herrmann

Micheel, Rosemarie: Die Seher- und Prophetenüberlieferungen in der
Chronik. Frankfurt/M.-Bern: Lang 1983. 139 S. 8- = Beiträge zur
biblischen Exegese und Theologie, 18. Kart, sfr 37.-.

Die Vfn. legt hier die „leicht überarbeitete Fassung"' ihrer Rostok-
ker Diss. von 1979 vor. In 3 Hauptteilen werden die prophetischen
Überlieferungen der beiden Chr-Bücher untersucht. Es schließen sich
2 Seiten „Schlußbemerkungen" (S. 81 ff) an. Die Anmerkungen stehen
(leider nicht mit durchgängiger Zählung) am Ende des Bandes
(S. 83-127), gefolgt vom Literaturverzeichnis (S. 129-139).

Der 1. Teil (S. 1 1-38) behandelt die Parallelberichte der Chr zu
Sam/Reg. Aufden Spuren zahlreicher Vorgänger2 untersucht die Vfn.
die Änderungen, die der Chronist (Chron) an seiner Vorlage Sam/Reg
vorgenommen hat. Unausgesprochene Prämisse dieses Vergleichs ist
die Annahme, daß einerseits der masoretische Text (MT) der Chr
nach dem Codex Lcningradcnsis (L) weitgehend identisch mit dem
Autograph des Chron war und daß andererseits der MT von Sam/Reg
nach Lais Vorlage des Chron zu betrachten sei. Unter diesen Voraussetzungen
können dann mit wenigen Ausnahmen sämtliche Abweichungen
der Chr von Sam/Reg von der Pleneschreibung (Einschrän-