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Ausgabe:

1986

Spalte:

372-374

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

"Wir bauen das Reich" 1986

Rezensent:

Bräuer, Siegfried

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Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 5

372

lien gelangen in diesen Passagen nicht zur Auswertung, doch ist die
konfessionelle Doppcloptik, die nicht selten analoge Urteils- und
Reaktionsformen bei Katholiken und Protestanten vor Augen treten
läßt, belangvoll. Eine Verbreiterung des Kenntnisstandes erbringt die
Heranziehung säkularer Kulturzeitschriften zur Kirchenfrage
(Kap. VIII).

Das umfangreichste und zugleich wichtigste Kap. V trägt die Überschrift
„Die kulturpolitische Offensive der sozialistischen Revolutionsregierungen
" (37-74). Mit einem gewissen Recht kann der Vf.
hier auf eine historiographische Lücke verweisen. „Die Kirchenpolitik
der 1918 gebildeten Regierungen in den Ländern ist von der
modernen Revolutionsforschung kaum beachtet worden" (37). Allerdings
sollte nicht übersehen werden, daß neben den einschlägigen Passagen
bei (irünthal auch andere Arbeiten wichtige Bausteine zur Religionspolitik
der Länder geliefert haben. Das gilt besonders für Preußen
(Oxenius, Jacke, Wright u. a.). Noch nicht zur Kenntnis nehmen
konnte der Vf. olfenbar den religionspolitisch ebenfalls belangvollen
Aufsatz von Wright. der sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen
Beamtentum und neuen politischen Maehthabern im preußischen
Ministerium für Wissenschaft. Kunst und Volksbildung im Prisma
des Wirkens von Ernst Troeltsch beschäftigt (In: Horst Renz/Friedrich
Wilhelm Graf [Hg.]: Protestantismus und Neuzeit. Gütersloh
l984[Troeltsch-Studien 3], 17511).

Laut Auflassung des Autors ist durch die Konzentration der bisherigen
Revolutionsforschung auf Ereignis- und Entseheidungsabläufe im
Reich der Problemkreis Kirche. Kultur, Schule, der wesentlich im
Kompetenzbereich der Länder lag. unterbelichtet worden, fliesen
vom Attcntismus der Sozialdemokratie vor allem in jenen Bereichen,
die außerhalb der traditionellen SPD-Interessenfelder Sozialpolitik
und Wahlrecht lagen, hätten im Kontext einer solchen Forschungskonstellation
immer nur bestätigt werden können. Sic im Medium
einer kritischen Rekonstruktion sozialdemokratischer Kultur (Kir-
chcn-)politik im Vorfeld der Konstituanten in Reich und Ländern zu
rev idieren, ist das erklärte Anliegen der Untersuchung. Dabei kommt
es nahezu zu einer Umkehrung bisheriger Urteils'perspektiven.

Weit davon entfernt, sich attentistisch zu verhallen, hätte die
Sozialdemokratie - und zwar vorzugsweise dort, wo Kabinette ohne
Koalitionspartner an der Macht waren - einen von Lcgitimitätsskru-
peln wenig angekränkelten und insgesamt höchst schädlichen Eifcran
den Tag gelegt. Auf keinem anderen Sektor sei von der Sozialdemokratie
ein so entschiedener Umgcstaltungswillc praktiziert worden
wie in der Kirchenpolitik: rigide Trennung von Staat und Kirche.
Herabsetzung des kirchlichen Olfentlichkeitseinllusscs. Der Aufweis
von regionalen Differenzierungen-der in Bayern, Preußen und Sachsen
verfolgten Linie stand der Kurs der revolutionären Kabinette in
Baden, Hessen und Württemberg gegenüber, durch den Strukturreformen
von vornherein in die Zuständigkeit der Konstituanten verwiesen
waren-tut dem generellen Urteil keinen Eintrag. „Der Konllikt mit
der Kirche war durch Programm und Parteiagitation festgelegt, sobald
die Sozialdemokratie an die Regierung kam" (127). Ob diese negative
Kontinuitätsthese angesichts des zersplitterten kirehen- und religionspolitischen
Weges der Sozialdemokratie schon vor 1914 durchzuhalten
ist, muß gefragt werden. Für die Durchführung des dem Buche
zugrundeliegenden Ansatzes ist sie von grundlegender Bedeutung.

Die konzeptionellen Divergenzen in den sozialistischen Parteien
und Kabinetten werden fast gegenstandslos - besonders augenfällig in
der These, die Politik von A. Hoffmann und K. Haenisch gehöre substantiell
in die gleiche Linie, eine Auffassung, die auch schon von zeitgenössischen
Kirchenmännern (J. Schneider u. a.) vertreten wurde,
/wischen beiden habe „kein fundamentaler Gegensatz in den Zielen
sozialistischer Kulturpolitik, sondern vornehmlieh, wenn nicht gar
ausschließlieh, in den Methoden" bestanden (41). Die realen Vcrstän-
digungs- und Kooperationschancen zwischen den beiden Großkirchen
und den Machtträgern der Revolutionsphase muten jetzt noch
minimaler an.

Die Untersuchung geht der sozialistischen Kirchenpolitik in den

Ländern bis zum Beginn der Kirchen- und Sehul-Debatten in der
Weimarer Nationalversammlung nach, bis zu einem Zeitpunkt also,
da der handlungspraktische Wildwuchs seine Grenze am Bau der Verfassung
und ihren einschlägigen Bestimmungen fand. Die revolutionstheoretisch
führende Attentismus-These ist an einem wichtigen
Lxemplum neu zur Disposition und Diskussion gestellt. Das macht
das Verdienst der Studie aus. Differenzierungen und Einschränkungen
der Generalthese des Vf. erscheinen indes durch neue archiva-
lische F orschungen, auf die zugunsten kräftiger Durchzeichnung der
Hauptkontur verzichtet wurde, als denkbar.

Leipzig Kurt Nowak

Holt mann Erich, u. Peter Wulf [Hg.]: „W ir hauen das Reich". Aulstieg
und erste HerTSchaftsjahre des Nationalsozialismus in Schleswig
-Holstein. Neumünster: Wachholtz 1983. 460 S. gr. 8' = Quellen
und ['Vorsehungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins. 81. Kart.
DM 35.-: geb. DM 42,80.

F)er blitzartige Aufstieg der NSDAP in Schleswig-Holstein (Reichstagswahlen
1928: 51 %) ist bekannt. Umstritten ist aber, in welchem
Maße die Wirtschaftskrise in der vorwiegend landwirtschaftlich klein-
gewerblichen preußischen Provinz als Erklärung hierfür herangezogen
werden kann und inwiefern den nationalistischen und rechtsradikalen
Positionen eine größere Schrittmacherfunktion zuerkannt werden
muß. Da sich die NS-Bewegung in Schleswig-Holstein „besonders
frühzeitig mit allen ihren unheilvollen F olgen ausbreitete und deshalb
zum richtungweisenden Fanal für das übrige Deutschland wurde" (9).
beschloß die Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte die
Herausgabe des vorliegenden Sammelbandes.

Unmittelbarer Anlaß war der 50. Jahrestag der Installation der
zwölfjährigen NS-Gewalthcrrschaft. Angesichts des F orschungsstan-
des konnte nicht von einer geschlossenen Konzeption ausgegangen
werden. Vielmehr war es Ziel der Hg., „bestimmte bereits lautende
Forschungsvorhaben aufzunehmen" und „die Bearbeitung bisher
nicht untersuchter Themen anzuregen" (15).

Nach einem Geleitwort von Reinhold Borzikowski. Vorsitzender der (iescll-
schalt (9-11). und der Einleitung der Hg. (13-16). enthält der I. Teil (Kampf
und Durchbruch) 4 Heiträge: Wolfgang Kopitzseh: Politische Gewalttaten in
Schleswig-Holstein in der Endphase der Weimarer Republik (19-39); Lawrence
D. Stokes: Der Fall Radke. Zum Tode eines nationalsozialistischen
..Märtyrers" und die Folgen in Eutin. 1931 -1933 (41 -72): Christian M. Sören-
sen: Bürgerliches Lager und NSDAP in Husum bis 1933 (7.3-116); Rudolf
Rietzler: Gegründet 1928 - 29: Die Schleswig-Holsteinische Tageszeitung. Erste
Gauzeitung der NSDAP (117-13.3). Ebenfalls 4 Beiträge sind unter der Überschrift
„2. Feinde, Gegner und Verbündete" zusammengefaßt: Gerhard Hoch:
Artamanen in Schleswig-Holstein (137-148): Rolf Schwarz: Rendsburg und
Büdelsdorf. Lokale Aktivitäten der Arbeiterparteien SPD und KPD
(149-164); Peter Wulf: Ernst Oberführern und die DNVPam Ende der Weimarer
Republik (168-187); Peter Hopp: Bemerkungen zum „Oktobersturm"
1933 (189-207). FXr 3. Teil ..Kunst und Kultur" umfaßt: Jcnns E. Howoldt:
Die Aktion ..Entartete Kunst" im Lübecker Museum. Die Ereignisse und ihre
Folgen (211-23.3); Ulrich Sehulte-Wülwer: Der Elensburger Karikaturist Herberl
Marxen (235-252): Erich Holfmann: Die ..Gleichschaltung" des Flensburger
Grcnzlandthcaters und der szenische Untergang des „Landesverräters" Carsten
Hohn 1253-270). „4. Landwirtschaft und Siedlung" bringt die beiden Beiträge
von Klaus J. Lorenz-Schmidt: Landwirtschaftspolitik und landwirtschaftliche
Entwicklung in Schleswig-Holstein 1933-1945 (273-308) und Klaus
Groth: Der Aulbau des Adolf Hitler-Koogs - Ein Beispiel nationalsozialistischen
ländlichen Siedlungsbaues (309-331). Etwas seltsam nimmt sieh die
Kopplung der Beiträge des 5. Teiles. „Antisemitismus und beginnender
Kirchenkampl" aus. da hier zwei sehr verschiedene NS-Ziele auf eine Ebene gerückt
werden: Dietrich Hausehildt: Vom Judenboykolt zum Judenmord. Der
I. April 19.33 in Kiel (335-360): Reusen Golan: Aus der Erlebniswelt eines
jüdischen Jugendlieben in Kiel Anfang der dreißiger Jahre (361-368): Klaus-
Peter Reumann: Kirche und Nationalsozialismus. Die Berufung Wilhelm I lall-
manns nach St. Marien Elensburg im Februar/März 1933 - Vorweggenommene
Fronten des Kirehenkamples (369-389)'.' Im 6. Teil. „Die Unterwerfung
der Verwaltung und die Mobilisierung im Kriege" sind zwei disparate I hemen-
behandlungen zusammengestellt worden: Kurt Jürgenseil: Die Gleichschaltung