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Ausgabe:

1986

Spalte:

279-281

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Harvey, Margaret

Titel/Untertitel:

Solutions to the schism 1986

Rezensent:

Wendelborn, Gert

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Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 4

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klar formulierten Problemstellungen ausgehend Texte zu kompilieren
, zu kommentieren und dabei vermeintliche Divergenzen aufzulösen
, ist bei Gratian und Algcr das gleiche" (66). Algers Quellen lassen
sich in 3 Gruppen einteilen: ,,Patristische Texte, echte Dekretalen
und die gefälschten Papstbriefe Pseudoisidors" (67). Schwieriger ist
die Frage nach Algers unmittelbaren Vorlagen zu beantworten; hier
geht Kretzschmar auf Details ein, die im Rahmen dieser Rezension
nicht wiedergegeben werden können (70-135). Auf jeden Fall ist
Alger mit seinen Vorlagen eigenwillig umgegangen. Es läßt sich zeigen
, „daß Alger sich von den Kanonesabfolgen seiner Vorlagen freimachen
konnte und ganz den eigenen Fragestellungen entsprechend
das ihm vorliegende Material verarbeitet hat" (137). Er hat gekürzt
und auch „gravierende Textveränderungen" vorgenommen (138).
Alger wollte keine Quellcnsammlung bieten, er wollte auslegen mit
einer bestimmten Tendenz. Seine Schrift fand wenig Anklang: „Die
Zahl der bekannten Handschriften ergibt sich aus drei erhaltenen vollständigen
Abschriften, einem Exzerpt und drei verlorenen Exemplaren
. . . Die Codices stammen aus Algers Heimatstadt selbst, dem
heutigen Belgien und der nördlichen Hälfte Frankreichs" (141). Sein
Werk muß jedoch auch nach Italien gelangt sein, wo Gratian es
benutzt hat. Diese schon früher vertretene These wird von Kretzschmar
präzisiert und erhärtet (144-154). Der Edition gehen ausführliche
Untersuchungen über die Handschriften und ihren Wert voraus
(157-184). Unter dem Text (187-375) findet sich ein philologischer
Apparat sowie ein Sachapparat, der die von Alger benutzten Quellen
nennt. Als Beispiel sei S. 227 genannt, wo es zu [, 51, Can. a
heißt; „Historiae ecclesiasticae libri duo des Euseb von Caesarea in
der Übersetzung des Rufinus von Aquileja Mb. I, c. 14 (PL2I,
Sp. 487 AB). Die unmittelbare Vorlage Algers ist der Liber gratissi-
mus Petrus Damianis (MGH Ldl. I, S. 66, 19-35); Alger hat den Text
stark bearbeitet. Vgl. Gratian dict. p.C.I q. 1 c.58." Man wird also weit
in die alte Kirche zurückverwiesen und man sieht auch die nächste
Nachwirkung. Index III bietet ein Verzeichnis der angelührten Kano-
nes in alphabetischer Folge. Augustin ist der am meisten zitierte
Gewährsmann vor Gregor d. Gr. (392-398). Das Buch geht oft sehr
intensiv ins Detail, aber es führt zu einsichtigen Ergebnissen.

Rostock Gert Haendlcr

Harvey, Margaret: Solutions to the Schism. A study of some English
attitudes 1378 to 1409. St. Ottilien: EOS Verlag 1983. VI, 232 S. gr.
8°= Kirchcngcschichtlichc Quellen und Studien, 12. geb. DM 68.-.

Frau Harvey, die mittelalterliche Geschichte an der englischen
Univ. Bern lehrt, untersuchte auf einer breiten Grundlage ungedruckten
Materials aus 24 Archiven und Bibliotheken die englischen Lö-
sungsversuchc vom Ausbruch des Großen Schismas 1378 bis zum
Konzil von Pisa 1409. Ihre Untersuchung gehört zu den zahlreichen
Überprüfungen früherer Darstellungen - in diesem Fall v. a. Edouard
Perroys 1933 in Paris erschienener Monographie «l.'Angletcrre et le
Grand Schisme»-, die diese verfeinern und im Detail beträchtlich differenzieren
, wobei freilich im westlichen Bereich öfter eine leicht entschärfende
und harmonisierende Intention erkennbar wird. Doch
dieses auf typisch englische Art verfaßte Werk ist in seinen Darlegungen
durchweg überzeugend, so daß ich im folgenden seine Hauptergebnisse
referiere:

Mindestens bis 1404 stand England eindeutig auf Seiten der in Rom
residierenden Päpste, was sich in starkem Maße, doch durchaus nicht
ausschließlich schon aus der Feindschaft zu Frankreich ergab.
Anfangs erschien der Aufruhr vieler Kardinäle gegen Urban VI., die
mit Clemens VII. einen in Avignon residierenden Gegenpapst wählten
, unter Verkennung der geschichtlichen Auswirkungen dieses
Schismas nur als Streit innerhalb der Kurie. Als dann seine Bedeutung
erkannt wurde, suchte und fand man schnell Gründe dafür, auf
Urbans Seite zu verbleiben: Seine Berufung war trotz Einwirkung der
römischen Bevölkerung, die einen wieder in Rom amtierenden Papst
verlangte, und trotz anfechtbarer Vorgänge beim Konklave gültig erfolgt
, und diese Wahl war die erste gewesen. Auch erschien Urban der
großen Mehrheit der Engländer einschließlich Wyclif zunächst als ein
ernsthafter Reformer, dessen Pläne von uneinsichtigen Kardinälen
behindert wurden. Sowohl Urbans Finanzpolitik als auch seine
Gewaltmethodcn gegen Opponenten ließen freilich gegen Ende seines
Pontifikats dpn Enthusiasmus über ihn zugunsten vorsichtiger Kritik
schwinden, ohne daß deshalb die Gültigkeit seiner Wahl angezweifelt
worden wäre.

Natürlich machte man sich auch in England schon bald Gedanken
darüber, wie das Schisma beendet werden könne. Zunächst ventilierte
man die traditionell genutzten Lösungswege: den Gegenpapst mit
seinem Gefolge zum Einlenken zu bringen oder abzusetzen. Im Zeitraum
1382-1387 wurden sogar von England aus zwei - freilich nur
geistlich bemäntelte, in Wahrheit aber rein politisch motivierte -
„Kreuzzüge" nach Flandern bzw. Kastilien gestartet, aber beide endeten
mit einem völligen Fehlschlag. So überlegte man allmählich neue
Wege, freilich nicht wie in Frankreich auf hohem intellektuellem
Niveau, sondern mehr pragmatisch. Die Initiative ging dabei vorrangig
von den Königen aus: nach Übernahme der faktischen Herrschaft
aus den Händen des Kronrats zunächst von Richard II. und
nach dessen Absetzung und vermutlicher Ermordung 1399 durch seinen
Nachfolger Heinrich IV. Dabei ist die konservative und darum
auch zurückhaltende Grundhaltung unverkennbar. Die gewaltsame
Absetzung eines Papstes wurde anders als in Frankreich erst kurz vor
dem Konzil von Pisa erwogen, weil man meinte. Gewaltanwendung
würde Aufruhr begünstigen, die Rechtsordnung anlasten und letztlich
zum Chaos führen. Dagegen aber war man angesichts aktueller lollar-
discher Wirksamkeit im eigenen Land durchweg sehr allergisch, vertrat
man doch noch in dieser Zeit beharrlich die Zwei-Schwerter-
Theorie. Andererseits lag gerade so erbitterten Gegnern Wyclifs wie
Nicholas Radcliffe OSB sehr an der Beseitigung des Schismas, weil sie
die Schwächung des überkommenen Kirchentums durch diese
schwere Leitungskrise sehr wohl erfaßten.

Was das Verhältnis König - Kirche betrifft; so weiß Vfn., daß von
einer vorrangig kirchlichen Entscheidung keine Rede sein kann. Sie
weist an mehreren Stellen nach, daß das feudale Band zwischen König
und Kirche eng war und daß der König deshalb auch die Überlegungen
der englischen Universitäten - besonders Oxfords - in dieser Frage
weithin prägte. Viele prominente Kirchenmänner waren erfahrene
Diplomaten im politischen Dienst und königliche Ratgeber, wie auch
die englische Delegation nach Pisa vom König zumindest bestimmt
wurde. Vfn. legt andererseits Wert auf die Feststellung, daß man sich
auch in diesem Bereich vor unguten Vereinfachungen hüten müsse. Es
gab sehr wohl eine kirchliche Auffassung, wenn diese auch nicht einheitlich
war; sie hatte weithin einen noch konservativeren Grundzug
als die königliche Politik und war naturgemäß, weil dieses Schisma in
seiner konkreten Form ohne Beispiel war. von viel Unsicherheit gekennzeichnet
. Das zeigt sich gerade auch im Hinblick auf den Gedanken
eines allgemeinen Konzils, der schon unter Richard im Zusammenhang
mit der via ecssionis in den Mittelpunkt der Überlegungen
rückte. Vfn. weist mit Recht mehrmals darauf hin. daß das Streben
nach der Einberufung eines solchen Konzils und selbst Heinrichs Erwägung
seit Ende 1404, beide Päpste auf dem Konzil abzusetzen und
so das Schisma auch gegen ihren Widerstand zu beseitigen, in der Regel
noch nicht Ausdruck einer eigentlich konziliatistischen Haltung
war, für die das Konzil prinzipiell über dem Papst stand. Einen solchen
Konziliarismus vertrat die englische Delegation erst auf dem
Konstanzer Konzil. Mehr noch: Die Erwägung der via cessionis
bedeutete bis 1406 noch nicht durchweg, daß man gegen den römischen
Papst Gewalt anwenden wollte. Noch kurz vor dem Pisancr
Konzil suchte Heinrich ihn von der Notwendigkeit des freiwilligen
Rücktritts zu überzeugen.

Im übrigen stand das Schisma für Kirche wie König in England längere
Zeit nicht im Mittelpunkt der Überlegungen. Vfn. zeigt etwa, daß
im Parlament von Glouccstcr 1378 das Schisma überhaupt erst am
Rande auftauchte, während die Forderung zusätzlicher Geldzuwen-