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1986

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Praktische Theologie

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235

Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 3

236

Praktische Theologie:
Seelsorge/Psychologie

Maymann, Ursula: Die religiöse Welt psychisch Kranker. Ein Beitrag
zur Krankenseelsorge. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1984. X,
340 S. gr.8°. Kart. DM 45,-.

Daß eine „Teufelsneurose im 20. Jahrhundert" (T. Auchter/S.
Freud) samt den dabei angewendeten exorzistischen Praktiken die
Reflexion katholischer Pastoraltheologie herausfordert, entspricht
dem Stand dieser Wissenschaft ebenso wie die Orientierung des
Nachdenkens an den Vorbildern psychologisch-psychiatrischer
Theoriebildung. Aber gerade weil diese Würzburger Dissertation
(Ref. R. Zerfaß, Korref. H. Pompey) vorwiegend religionspsychopa-
thologische Analysen wahnhafter Symptomatik bietet, gibt der
Arbeitstitel der Dissertation „Religiös gefärbte Symptomatik
psychisch Kranker" präziser Auskunft über Ansatzpunkt, Methodik
und Ziele des Buches: Es will Theologen die Kompetenz vermitteln,
religiöse Äußerungen psychisch kranker Menschen psychologisch
sachgerecht einzuschätzen, als Symptom von Krankheit oder als
Äußerungen der „gesunden Anteile" im Kranken (S. 56 u. ö.) zu
erkennen und sich dementsprechend zu verhalten. Die Autorin strebt
im Interesse der Patienten zwar auch ganz allgemein nach öffentlicher
Aufmerksamkeit für die psychisch Kranken (S. 2), vor allem aber
sucht sie nach Möglichkeiten, die Kranken ebenso wie die Seelsorger
vor den Folgen eines pastoralen Verhaltens zu schützen, das seine
Kriterien allein aus dem ,Literal-Sinn' von Patienten-Äußerungen
gewinnt: denn „solange der Kranke keine Distanzierungsmöglichkeit
[sc. von seinen Wahnideen] besitzt, sind auch die theologisch unhaltbarsten
Standorte für ihn absolut gültig" (S. 159). Aufgabe des Seelsorgers
sei es deshalb, die psychologische Bedeutung der religiös
gefärbten Wahnideen zu entschlüsseln, nicht etwa unbesehen argumentativ
auf Patientenäußerungen einzugehen, denn „die Äußerung
religiöser Erfahrung in der Erkrankung [ist] kein verläßliches Indiz
dafür . . „daß dieser Äußerung eine [stabile] religiöse Haltung zugrundeliegt
" (S. 35). Die Autorin führt also nicht in eine religiöse Welt
psychisch Kranker ein, sondern leitet an, deren Äußerungen nach
psychologischen Annahmen zu deuten, die für alle Welt, also auch für
die im Patienten mit den kranken Anteilen „koexistierenden" gesunden
Anteile (S. 56,296) gelten sollen.

Im Hauptteil des Buches (II) werden drei prominente Theorien zeitgenössischer
Psychiatrie und Psychotherapie vorgestellt, „der medizinisch
-psychiatrische Ansatz" (S. 59-161), „der psychoanalytische
Ansatz" (S. 161-202) und der „systemisch-kommunikationstheoretische
Ansatz" (S. 203-268). Die Reihenfolge der Darstellung
gründet sich vor allem auf den in ihr angelegten Fortschritt der Interpretation
: Die Zuordnung von Krankheitssymptomen zum psychiatrischen
Klassifikationssystem wird aufgehoben in verschiedenen
Varianten der entwicklungspsychologischen Interpretation der Psychoanalyse
und abschließend in eine sozialpsychologische Theorie
pathogcner Kommunikationsstrukturen eingearbeitet, m. a. W. die
Deutung psychotischer Dekompensation schreitet fort von der individuellen
Klassifikation eines Symptoms über die individualgcnetische
Interpretation der Person und der von ihr produzierten psychotischen
Symptome zur sozialpsychologischen Interpretation des Beziehungsfeldes
und der pathologischen Kommunikation darin.

Die umrahmenden Teile I und III sind auf den gewichtigen Mittelteil
in der Weise bezogen, daß der erste das Problemfeld absteckt und
dabei Material zu drei Patientenschicksalen bietet (2.1), während der
dritte „Konsequenzen für die Seelsorge in der Psychiatrie" zieht, in
dem er die Fälle mit den in II vorgelegten psychologischen Deutungsmöglichkeiten
untersucht. Dabei treten Möglichkeiten und Grenzen
der drei Theorie-Systeme je nach den in den Falldarstellungen für
eine Diagnose bereitgestellten Daten hervor. Nachdem aber der
Hauptteil (II) schon in der systemisch-kommunikationstheoretischen
Deutung des Falles ,Klingenberg' gipfelte, liegt die Annahme nahe.

daß die Autorin sich von der Kommunikationstheorie nach Watzla-
wick den größten Gewinn zur Erhellung der Genese religiöser Symptomatik
verspricht (vgl. S. 203). Dieser Gewinn liegt offenbar nicht
nur in der Erklärungskraft für den Fall .Klingenberg', sondern auch
darin, daß dieser Ansatz der einzige ist, der dem Seelsorger eine Funktion
als Mitarbeiter, nicht als Konkurrent des Psychiaters zuweist. Die
korrespondierenden Abschnitte der Eckteile I und III (3. Institutioneller
Kontext und 7.2-4 .Sieben des Geistes' für den Seelsorger,
Gesprächsgottesdienst als Chance der Seelsorge in der Psychiatrie)
bestätigen diesen Eindruck, in dem sie die Position des Seelsorgers im
psychiatrischen Krankenhaus auf die Möglichkeiten als Begleiter
des Kranken und Mitglied des therapeutischen Teams hin betrachten
(S. 296). Die Favorisierung des systemischen Ansatzes impliziert
allerdings andererseits die Frage, ob die funktionale Analyse der Religiosität
des Kranken nicht zur Einzeichnung seiner Problematik in ein
allgemeines sozialpsychologisches Theoriesystem geführt habe, dessen
Grundannahmen ebenso reflexionsbedürflig sind, wie die der psy-
chopathologischen Erklärungsmodelle, die auf einem ontologischen
Religionsbegriff aufbauen. Es wäre jedenfalls die Abgrenzung des
Systems genau zu bestimmen, weil andernfalls die Umwelt jede Möglichkeit
zur kritischen Korrektur des Krankheitsgeschehens verliert,
insofern sie prinzipiell in das System einbezogen werden kann (vgl.
S. 266ff).

Die schwierige Aufgabe, Theologen gezielt in das Fachgebiet der
Psychiatrie nach dem heutigen Wissensstand einzuführen, löst dieses
Buch mit Übersicht in der Darstellung und Mut zur Auswahl. Man
muß gerade deshalb hoffen, daß es nicht nur in der Praxis zur Kenntnis
genommen wird, aus der es kommt und auf die es nach seinen
praktischen Vorschlägen im wesentlichen gerichtet ist, in der seelsorgerlichen
Praxis der psychiatrischen Klinik, sondern auch und gerade
dort gelesen wird, wo Aufklärung offenbar noch besonders notwendig
ist: In der pastoralen Praxis in der Provinz, außerhalb des Kommunikationssystems
der klinischen Versorgung.

Für den Krankenhausseelsorger wäre allerdings eine Reflexion auf
die wissenschaftlichen Voraussetzungen der psychologischen Theorien
in einer Neuauflage oder einer weiteren Beschäftigung mit diesem
Thema zu wünschen, damit die in der Anlage des Buches implizierten
Probleme überdacht werden können:

Das einleitende Motto (S. V), das abschließende Gottcsdienstproto-
koll (S. 304-317) und die Hoffnung auf einen Beitrag des Seelsorgers
zur Linderung von Leid (S. 200) beziehen sich eher auf neurotisch
Kranke, die Hoffnungslosigkeit vieler psychotischer Patienten klingt
zwar an, müßte aber im Zusammenhang der Ratschläge als grundsätzliche
Einschränkung seelsorgerlicher Kompetenz deutlicher hervorgehoben
werden. - Wird ein therapeutisches Verständnis der Seelsorge
auch ausdrücklich abgewiesen, so bleibt die Orientierung am
Erfolg doch in jeder Seelsorgelehre, die sich an der Symptomatik des
Klienten ausrichtet, als Problem erhalten; damit stellt sich die Aufgabe
, das religionspsychologische Grundproblem eigens zu bearbeiten,
mit Nachdruck: Die psychologisch-funktionale Analyse religiöser
Symptomatik und eine Anthropologie des religiösen Menschen lassen
sich nicht in spannungsloser „Koexistenz" verbinden, die Leistungsfähigkeit
des Symbolbcgriffs als rcligionspsychologischer Grundbegriff
wäre gerade im Zusammenhang der Seelsorge an psychisch
Kranken weiter zu entfalten (vgl. S. 196ff).

Tübingen Reinhard Schmidt-Rost

Meves. Christa: Aus Vorgeschichten lernen. Vom Massenelend vermeidbarer
seelischer Erkrankungen. Erciburg-Basel-Wien: Herder 1985. I26S. kl.
8' = Herderbücherei, 1231.

Suizid - Recht auf den eigenen Tod? (Themenheft Concilium 21, 1985
Heft 3): Baudry, Patrick: Alte und neue Faktoren in bezug auf den Suizid
(167-172)- Baudry, Patrick: Der Selbstmord in soziologischer Sicht (173-179)
- Henseler. Heinz: Psychologie des Suizids (179-183) - Cahill. Lisa Sowie:
Hochachtung vor dem Leben und Herbeiführung des Todes im medizinischen
Bereich (184-191)- Pieper. Annemarie: Ethische Argumente für die Erlaubt-
heit der Selbsttötung (192-198) - Caueanas-Pisicr. Paula: Die Vereinigung für