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Ausgabe:

1986

Spalte:

219-221

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Keller-Wentorf, Christel

Titel/Untertitel:

Schleiermachers Denken 1986

Rezensent:

Moretto, Giovanni

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Theologische Literaturzeitung 111. Jahrgang 1986 Nr. 3

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bekämpften orthodoxen vergleichbar sei. So plausibel und tragfähig
die Kategorien von Subjektivität und Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber
der Wirklichkeit in der dramaturgischen Analyse der drei Dramen
sind, so irreführend sind sie in der Analyse der theologischen
Schriften.

Mit dieser kritischen Auseinandersetzung soll die von Nolle begonnene
Stilanalyse der „Theaterlogik" Lessings nicht verworfen werden.
Daß Lessing in seiner Polemik seine am Drama geschulte Sprache einsetzt
, daß er taktische Chancen auszunutzen versteht, daß er zum Teil
chiffrierend, zum Teil unter Benutzung unklaren Kontextes bestimmte
Behauptungen viel steiler wagt, als er sie im argumentativen
Zusammenhang verteidigen könnte - dies alles ist in der Lessingforschung
bekannt und wird für die Forschung immer neu zum Problem.
Die Herausstellung dieser Stilformen darf aber nicht dafür blind
machen, daß Lessing trotzdem und zugleich auch wissenschaftlich
argumentiert, daß es Lessing geradezu reizt, den Fachexperten als ein
wissenschaftlich geschulter Gegner entgegenzutreten. Seine Studien
über die regula fidei oder über das Verständnis der Heilsökonomie
Gottes bei den griechischen Kirchenvätern sind Belege für diese Haltung
. Es dürfte also nicht allein darum gehen, zu zeigen, wie Lessing
sich auch in der Polemik des Fragmentenstreites als Dichter treu
bleibt, sondern wie er das Engagement für eine bestimmte Sache (hier:
für eine zentrale Fragestellung der kirchlichen Aufklärung) mit seiner
Freude an einer stilgerechten Polemik verbindet.

Lessing ist stets bemüht gewesen, sich nicht selbst festzulegen.
Experimentierend hat er in immer neuen Denkfiguren Grundfragen
gestellt, Entwürfe durchprobiert, die er nicht auf ihre Stimmigkeit mit
anderen, früheren Entwürfen abgeklopft hat. Das muß den Interpreten
warnen, aus einem einzelnen Text die Grundhaltung ermitteln zu
können. Ebenso bleibt es problematisch, Textfragmente aus unterschiedlichen
Phasen Lessingscher Denkbemühung nebeneinander zu
zitieren. Trotzdem bleibt es unbestritten, daß Lessing selbst bestimmte
sachliche Anliegen von höchster Tragweite vertreten hat. Die
Lessingforschung wird einen Weg suchen müssen zwischen einem
deskriptiven Verfahren, das die Texte biographisch einzuordnen vermag
, und dem Bemühen um eine Sachinterpretation, die Lessings
Stellung in der Aufklärung, in der Auseinandersetzung mit der Kirche
seiner Zeit, in der Vorbereitung der klassischen Philosophie erhellen
will. Nolle geht sehr stark von späteren Fragestellungen aus und wird
damit der spezifischen Situation Lessings in der Spätphase der deutschen
Aufklärung nicht gerecht. Mit der sprachlichen und dramaturgischen
Analyse der dichterischen wie der polemischen Rhetorik gewinnt
er aber ein Instrumentarium, das wichtige weitere Ergebnisse
der Lessingforschung ermöglicht.

Magdeburg Harald Schultze

Keller-Wentorf, Christel: Schleiermachers Denken. Die Bewußtseinslehre
in Schleiermachers philosophischer Ethik als Schlüssel zu seinem
Denken. Berlin-New York: de Gruyter 1984. X, 547 S. 8' =
Theologische Bibliothek Töpelmann,42. Lw. DM 98,-.

So sehr man auch darum besorgt sein mag, Vorgestalten in der griechischen
Philosophie aufzuspüren, die sich mit Piaton z. B. nicht
scheuen, die doxa als „innerliches Gespräch der Seele mit sich
selbst" (s. Soph. 265e; den Sophisten hielt Schleiermacher bekanntlich
für „das innerste Heiligthum der Philosophie") zu definieren,
bleibt es doch für die Ideengeschichte unbestritten, daß der Begriff des
Bewußtseins sein volles Profil erst am Übergang von der Spätantike
zum Christentum gewinnt. Erst mit der christlichen Philosophie wird
nämlich die Praxis der innerlichen Selbstforschung, die für die ausklingende
heidnische Philosophie als ein Privileg des Weisen galt, aus
Prinzip jedem Menschen als solchem zugänglich. Aber vor allem in
der Augustinischen Tradition, aus der sich nicht nur zufällig die Literaturgattung
der Autobiographie herleitet, qualifiziert sich das Bewußtsein
als die Sicherheit, die die Seele, das Denken und die Vernunft
aus der eigenen Existenz im Selbstbewußtsein schöpft. Daher

kommt es, daß die Struktur des Bewußtseins als inniger, direkter und
bevorzugter Zusammenhang herausgestellt wird, der durch nichts gestört
, zerstört oder verfälscht werden kann. Von diesem augustinisch-
christlichen Erbe lebt nun, zwischen den entgegengesetzten Gestalten
des entweder unglücklichen oder wiederversöhnten Bewußtseins
schwankend, das eigentliche moderne Denken.

Diese Tatsache, diese unleugbare entscheidend christliche Physio-
nomie der Neuzeit hat sich die philosophische Historiographie vielleicht
in keiner anderen Epoche so bewußt machen können wie in der
Goethezeit, in der das aufkommende historische Verständnis der
quereile des anciens et des modernes wieder zum neuen Glanz verholten
hat. Unter diesem Gesichtspunkt sind Schleiermachers Vorlesungen
über die Philosophiegeschichte von hohem Interesse, in denen es
dem aufmerksamen Leser nicht schwerfällt, Akzente der romantischen
Diskussionen zwischen Schleiermacher und Friedrich Schlegel
wiederzufinden, die genau die Aufteilung der Geistesformen (in Dichtung
und Philosophie, aber auch in Politik und Religion) im Übergang
von der Antike zur modernen christlichen Welt betrafen. In diesen
Vorlesungen wird, im Unterschied zu den Hegeischen, der Behandlung
des Augustinischen Denkens ein Platz eingeräumt (nach der
Ächtung, die der afrikanische Bischof in der Zeit der Aufklärung erlitten
hat), so wie es auch kein Zufall ist, daß in eben diesen Vorlesungen
Schleiermacher die Übereinstimmung seiner Dialektik mit der
Gotteslehre Augustins deklariert (s. SW III/4.2, S. 166 die Augusti-
nische Hauptdarstellung Gottes „ist identisch mit meinem dialektischen
Theorem, daß im Absoluten Subject und Prädicat schlechthin
zusammenfallen"; die Schleiermachersche Dialektik scheut sich
bekanntlich nicht, zu behaupten: „Unmittelbar aus dem christlichen
Sinn und Geist. . . entstand die absolute Wissenschaft, d. h. das
Wissen vom höchsten Wesen, aber als Prinzip alles Seins und des
Zusammenhanges desselben").

Leider hat sich die Forschung bisher nicht für den Einfluß interessiert
, den Augustinus auf den Denkweg von Schlciermacher ausgeübt
haben kann (ist Augustinus nicht der in der Glaubenslehre am meisten
zitierte Kirchenvater?). Aufjeden Fall ist sicher, daß die sehr moderne
Schleiermachersche Religionsauffassung (die den Gipfel des religiösen
Liberalismus darstellt), die als Offenbarungsort des Göttlichen das Bewußtsein
jedes einzelnen Menschen, der in diese Welt kommt, ausmacht
, zur Bewahrheitung ihrer Klassizität sich nur auf jene Tradition
zu berufen braucht, die mit Augustinus beginnt. Auf diese sollte
jener katholische Modernismus zurückgreifen, über die Vermittlung
durch die liberale protestantische Theologie (von Schleiermacher,
weitergeführt durch Harnack, A. Sabatier und die katholische Tübinger
Schule), der am Jahrhundertanfang von der Kirche des Syllabus
(die schon die moderne Gewissensfreiheit mit Bann belegt hatte) verurteilt
wurde, weil man behauptet hatte, daß Gott sich „in motu quo-
dam cordis, qui sensus dicitur", manifestiere. „Hinc lex", so fahrt die
Enzyklika Pascendi fort, „qua conscientia religiosa ut regula universalis
traditur, cum revelatione penitus aequanda, cui subesse omnes
oporteat" (Denzinger, 2 074f. S. auch E. Troeltsch, Katholizismus
und Reformismus, in „Internationale Wochenschrift" 1908,21 f).

Auch von diesen geschichtlichen Hintergründen her, die versuchen
sollten, deren Wirkungsgeschichte aufzuweisen, enthüllt sich die
Schleiermachersche Auffassung des religiösen Gewissens immer mehr
.als eine grundlegende Gewinnung der Geistesgeschichte. Da das Bewußtsein
im allgemeinen für Schleiermacher „die höchste uns gegebene
Form des Lebens" (2GL § 51,2) darstellte, deren Abhängigkeitsgefühl
(„ein allgemeines Lebenselement") „alle sogenannten Beweise
für das Dasein Gottes ersetzt" (§ 33), war es nur natürlich, daß er in
eben diesem Bewußtsein jenen „Knoten der Geschichte" erkannte,
der es seinen Überlegungen ermöglichen sollte, das Christentum mit
der Wissenschaft (und nicht mit der Barbarei, s. II. Sendschreiben an
Lücke), oder auch, wie es nun die Studie von K.-W. belegt, die Theologie
mit der Philosophie in Verbindung zu bringen. Es ist nämlich
genau diese Auffassung des Bewußtseins, wie sie von Schleiermachcr
in seiner Ethik ausgearbeitet wird, die am Horizont seiner Glauben'''