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Ausgabe:

1986

Spalte:

217-219

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nölle, Volker

Titel/Untertitel:

Subjektivitaet und Wirklichkeit in Lessings dramatischem und theologischem Werk 1986

Rezensent:

Schultze, Harald

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217

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 3

218

Nolle, Volker: Subjektivität und Wirklichkeit in Lessings dramatischem
und theologischem Werk. Berlin: Schmidt 1977. 311 S. 8° =
Philologische Studien und Quellen, 87. Kart. DM 59,-.

Die Studie Volker Nolles hat sich eine Aufgabe gestellt, die für den
Theologen, den Philosophen und den Germanisten gleichermaßen von
Interesse ist: Durch die Analyse von Sprache, Dramaturgie und Denk-
figuren soll eine Basis gewonnen werden, um gesicherte Erkenntnisse
über Lessings theologische und weltanschauliche Grundhaltung in seinem
dramatischen und theologischen Werk zu erhalten.

Der Ansatzpunkt ist eine dramaturgische Frage. In den Dramen
„Miss Sara Sampson", „Philotas" und „Minna von Barnhelm" fallt
auf, daß in ihnen im Mittelpunkt Personen stehen, die in ihrer Subjektivität
zunächst außerstande sind, sich auf die Wirklichkeit einzustellen
. Wirklichkeit bedeutet hier: auf die mit ihnen lebenden und handelnden
Menschen. Sara Sampson ist in einer zentralen Szene
unfähig, die Vergebungsbereitschaft ihres Vaters zur Kenntnis zu
nehmen, weil in ihrer Weltvorstellung solche Vergebung ausgeschlossen
ist. Philotas sieht den Freitod als den einzigen Ausweg, um einen
verlustreichen Freikauf aus der Gefangenschaft zu verhindern. Und
Tellheim ist unfähig, die Liebe zu Minna zu bejahen, weil er meint,
ohne eine völlige Restitution seiner Ehre nicht mehr ehetauglich zu
sein. Diese Verstellung der Wirklichkeit durch eine Subjektivität, die
durch ihr selbstverfcrtigtes, gesetzliches Weltverständnis zum
Handeln unfähig geworden ist, ist das Kernthema der Analyse
Nolles. „In der monologischen Situation macht sich das in sich gefangene
Selbst zum Fluchtpunkt seiner Gedanken und Bestrebungen. Die
Mitmenschen werden zwangsläufig zu bloßen Objekten reduziert."
(S. 53) In einer gründlichen sprachlichen und dramaturgischen
Analyse werden diese für die drei Dramen typischen Strukturbezüge
herausgearbeitet.

Nolle geht weiter, indem er die Rolle des Spiels in der Dramaturgie
dieser von Lessing geschaffenen Stücke untersucht. Das Spiel, das
Minna mit Tellheim spielt, um ihn zur Selbsterkenntnis zu bewegen,
erlaubt einen Zugang zu strukturell verwandten Ansätzen auch in
anderen Werken: Das dämonische Spiel der Marwood mit Miss Sara
wird ebenso analysiert wie die teuflische Intrige, die Marineiii in der
„Emilia Galotti" inszeniert.

Die auf diese Weise gewonnenen Einsichten über dramaturgische
Techniken Lessings versucht Nolle nun auszuwerten für die Stilanalyse
auch in Lessings theologischem Werk. Bei diesem Ansatz
kommt ihm Lessing sozusagen entgegen - hat ersieh doch selbst in der
Auseinandersetzung mit Goeze zu seiner „Theaterlogik" (wie sie
J. M. (ioeze ihm zum Vorwurf gemacht hat) ausdrücklich bekannt.
Bestimmte Textpassagen in „Über den Beweis des Geistes und der
Kraft", in der „Duplik" und im zweiten Anti-Goeze sind der Ausgangspunkt
, um Lessings Gebrauch von Metaphern zu untersuchen.
Es folgt eine Analyse der Parabel vom „Palast im Feuer", an früherer
Stelle schon der Ringparabel und bestimmter Partien der „Erziehung
des Menschengeschlechts". Nolle konstatiert, daß Lessing Metaphern
und Parabeln in den Dienst einer „persuasiven Strategie" stelle;
Lessing liege nicht an Argumentation, sondern an Überredung. Metaphern
erlauben Assoziationen, Verschiebung von Bedcutungsverhal-
ten,ja sogar die Eliminierung von Lehrinhalten. Das mache sich Lessing
nutzbar in seinem Bemühen um Befreiung des Menschen zu echter
Autonomie.

Die Arbeit wird angereichert durch Exkurse und durch ganze Kapitel
, die sich gegenüber dieser grundlegenden Fragestellung als Nebenstudien
erweisen - zum Beispiel ein langes Kapitel über Macht und
Ohnmacht oder das Verhältnis von Herr und Knecht, dargelegt an
Monologen Odoardo Galottis und an den höchst subtil analysierten
Dialogen zwischen dem Prinzen und Marinelli. (Warum aber konfrontiert
Nolle diese Problematik nur mit Hegel, nicht aber mit dem
viel näherliegenden „Jacques le fataliste" von Diderot?) - Als Anhang
folgt noch eine Besprechung einzelner Lessing-Studien aus den Jahren
, die zwischen dem Abschluß der Arbeit und dem Zeitpunkt der
Drucklegung erschienen sind.

Der Zusammenhang zwischen der dramaturgischen Analyse und
den Stiluntersuchungen zu den theologischen Schriften bleibt zunächst
undeutlich. Das fällt zunächst an einigen sachlichen Brechungen
auf: zum Beispiel ist die Interpretation der „Parabel", die Lessing
der öffentlichen „Bitte" an Goeze beigefügt hat, ungenau. Lessing
wollte mit ihr die Geschichte der christlichen Religion darstellen.
Nolle scheut sich vor einer so umfassenden Interpretation und engt die
Deutung auf den Fragmentenstreit und die Frage nach dem Verhältnis
von Geschichts- und Vernunftswahrheit ein. Damit wird aber die
Deutung der einzelnen, allegorisch zu verstehenden Züge unmöglich.
So fehlt der Bezug auf die Relevanz der Bibel und der Bekenntnisschriften
. Die Satire auf die Blindheit der orthodoxen Apologeten der
christlichen Religion kann nicht aufgelöst werden.

Nolle zeigt auch einen unsicheren Gebrauch des Begriffs „Vernunftswahrheiten
". Mehrfach wird er gleichgesetzt mit „Offenbarungswahrheit
". Das ist bei Lessing aber nicht der Fall. Dies Mißverständnis
entsteht, weil sich die Verwendung des Offenbarungsbegriffs
zwischen der Zeit Lessings und der Theologie der Mitte des 20. Jahrhunderts
gewandelt hat. Lessing verwendet den Offenbarungsbegriffin
der „Erziehung des Menschengeschlechts" streng funktional. Offenbarung
ist für ihn die Mitteilung Gottes über sich selbst oder die Mitteilung
bestimmter Wahrheiten. In der Theologie des 20. Jahrhunderts
ist Offenbarung dagegen synonym für Gottes Wirklichkeit.
Wenn also Lessing in der „Erziehung des Menschengeschlechts" die
Offenbarung relativiert, sie zu einem pädagogischen Instrumentarium
für eine bestimmte Erkenntnisstufe des Menschen erklärt, relativiert
Lessing damit noch nicht die Wirklichkeit Gottes. Wird dies nicht erkannt
, entstehen Interpretationsunschärfen: wenn Lessing die Beweiskraft
von Geschichtstatsachen für die Vernunftswahrheiten der Religion
ablehnt, stehen damit diese Vernunftswahrheiten selbst nicht zur
Debatte.

Eine solche Mißverständlichkeit zeigt sich auch in dem Gebrauch
der grundlegenden Kategorie der „Subjektivität". Nolle hat sich von
Heidegger („Der Satz vom Grund") die fundamentale Kritik an dem
Denkansatz der Neuzeit, wie er bei Descartes zum Ausdruck kommt,
vorgeben lassen. Subjektivität ist dort die Selbstbemächtigung der
Wirklichkeit durch das Ich, das sich gerade in der Radikalität seines
Denkens selbst zum Herren der Welt setzt. Subjektivität wird in diesem
Zusammenhang zu einem Zeichen für die Unfähigkeit, sich der
Wirklichkeit, wie sie von sich selbst her ist, auszusetzen. Tellheim.
Philotas und Sara Sampson werden zu Typen solcher neuzeitlicher
Bewußtseinshaltung. Nach der Ansicht Nolles bekämpft Lessing die
gleiche Haltung bei den orthodoxen Theologen. Er geht davon aus.
daß diese sich durch ihr System von angeblichen Offenbarungswahrheiten
den Zugang zur Wirklichkeit, das heißt zu der wahren Autonomie
des Menschen, ebenso verstellen. Lessing reagiere daher auf sie
mit den gleichen dramaturgischen Mitteln des Spiels, der persuasiven
Strategie, wie er sie im Drama zur Katharsis seiner Figuren anwendet
.

Die so gefundene These ist ungewöhnlich und interessant. Sie dürfte
aber von einer bestimmten geistesgcschichtlichen Konstruktion stärker
befrachtet sein, als für die Interpretation der Texte zuträglich ist.
Das Mißverständnis entsteht dadurch, daß Lessing sich - theologisch
gesehen - gerade für die Subjektivität des Zugangs zur Wahrheit Gottes
einsetzt und damit gegen die angebliche Allgemeingültigkeit erstarrter
theologischer Dogmen angeht. Subjektivität im Sinne des
frommen. Gewißheit schenkenden Gefühls ist hier aber eine andere
Subjektivität als diejenige, die - im Heideggerschen Sinne - den hier
analysierten Dramengestalten vorgeworfen wird. Der Leser, der diesen
entscheidenden Angriff Lessings gegen die Objektivierbarkeit
kirchlicher Lehre im Namen des frommen Gefühls vor Augen hat, findet
sich, zumindest in Nolles Analyse, nicht zurecht, weil dort die
Lehraussagen der protestantischen Orthodoxie als die zu überwindende
Subjektivität hingestellt werden. An dieser Stelle versagt offensichtlich
die Arbeitshypothese, daß die Position einer verstellten
Weltbegegnung Tellheims oder der Sara Sampson mit der Position der