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Ausgabe:

1986

Spalte:

215-216

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung 1986

Rezensent:

Petzoldt, Martin

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215

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 3

216

achtungen von Philotheus Boehner und anderen aufgegriffen und zu
einem brauchbaren Ergebnis gebracht hat. Es handelt sich um acht
quaestiones, von denen sich sieben in dem Lyoner Druck des Sentenzenkommentars
von 1495 in den Büchern 2 bis 4 befinden, ohne daß
sie aber in dem Zusammenhang entstanden sind, in dem sie dort stehen
. Eine historisch-genetische Interpretation mußte in Schwierigkeiten
geraten, wenn sie gerade davon ausging. Jetzt ist die ursprüngliche
Vorlesung wieder hergestellt, die acht quaestiones sind aufgrund ihrer
handschriftlichen Überlieferung und mit Hilfe von Hinweisen bei
Ockham und seinen Zeitgenossen nach ihrer Herkunft untersucht, auf
ihre Echtheit überprüft und zeitlich fixiert worden. Einige stammen
offenbar aus der reportatio des ersten Buches, die bei ihrer Umarbeitung
in die uns bekannte ordinatio verlorenging. So ergibt sich die
Möglichkeit, an einigen Stellen zu erkennen, wie Ockham die Umarbeitung
vornahm. Die quaestio „De connexione virtutem" kann als
die sonst in der Ockhamforschung bekannte „Quaestio super
Bibliam" nachgewiesen werden, woraus sich auch Ort und Zeit ihrer
Entstehung ergibt. Sie erweist sich als Ockhams Eröffnungsvorlesung
für seine zweijährige Vorlesung über die Bibel wahrscheinlich im
Herbst 1319 (oder 1318). Es kann allerdings eingewandt werden, daß
ihr Inhalt sich nur gering auf die Bibel erstreckte. Die Herausgeber
konnten jedoch an einem zeitgenössischen Oxforder Beispiel nachweisen
, daß eine solche Vorlesung über die Bibel nicht notwendig
über die Bibel selbst handelte. Das gewährt einen beachtenswerten
Einblick in den spätmittelalterlichen Studienbetrieb, der reformatorische
Kritik am scholastischen Umgang mit der Heiligen Schrift verständlicher
macht.

Die Herausgabe der theologischen Werke Ockhams ist damit einen
entscheidenden Schritt vorangekommen. Es steht nur noch ein Band
mit zwei Schriften zum Abendmahl aus. Allen Herausgebern gebührt
Dank für ihre entsagungsvolle Arbeit, für ihre wissenschaftliche Dia-
konie.

Leipzig Helmar Junghans

Dionysius Areopagita: Ich schaute Gott im Schweigen. Mystische Texte
der Gotteserfahrung. Übers, und für die Meditation erschlossen von V. Keil.
Freiburg-Basel-Wien: Herder 1985. 128 S. kl. 8" = Herderbücherei 1221:
„Texte zum Nachdenken". Kart. DM 7.90.

Kierkegaard. Sören: Der Augenhlick. Aufsätze und Schriften des letzten
Streits. Aus dem Dan. von H. Gerdes. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
Gerd Mohn (Lizenzausgabe des Diederichs Verlages, Köln) 1985. XV, 365 S. 8'
= Sören Kierkegaard. Gesammelte Werke, 34. Abt. GTB. Siebenstern,
627. Kart. DM 42,80.

Lorenz, Erika: Der nahe Gott. Im Wort der spanischen Mystik. Freiburg-
Basel-Wien: Herder 1985.216 S. 87 geb. DM 24,80.

Philosophie, Religionsphilosophie

Gründer, Karlfried, u. Wilhelm Schmidt-Biggemann [Hg.]: Spinoza
in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Heidelberg: Schneider
1984.258 S., 1 Taf.gr. 8* = Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung,
12. Kart. DM 64,-.

Der Band enthält mehr, als der Titel verspricht. Das gilt nicht nur
im Blick auf den Namen Spinozas, sondern vielmehr hinsichtlich der
fruchtbaren Erkenntnis, daß dieser Name eine Art Einfallstor für sehr
verschiedenartige theologische und philosophische Phänomene und
Strukturen wie auch ein Ursprungsort vielfältiger „Wirkungen" ist.
Folgende Beiträge sind enthalten: Gershom Scholem, Die Wachtersche
Kontroverse über den Spinozismus und ihre Folgen (15-25): Walter Sparn,
Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Orthodoxie, gespiegelt in
ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza (27-63); Wilhelm Schmidt-Biggemann.
Veritas partieeps Dei. Der Spinozismus im Horizont mystischer und rationalistischer
Theologie (65-91); Gerhard Alexander, Spinoza und Dippel
(93-110); Michael John Petry. Behmenism and Spinozism in the Religious
Cultureofthe Netherlands, 1660-1730(111-147); Hubertus G. Hubbeling,

Zur frühen Spinozarezeption in den Niederlanden (149-180); Sarah Hutton
, Reason and Revelation in the Cambridge Platonists, and their Reception of
Spinoza (181-200); John D. Woodbridge, Richard Simon's Reaction to
Spinoza's „Tractatus Theologico-Politicus" (201-226); Hugh B. Nisbcl,
Spinoza und die Kontroverse „De Tribus Impostoribus" (227-244).

In der Vorbemerkung von K. Gründer wird Wert darauf gelegt, daß
das Symposion der Lessing-Akademic im Mai 1980 zu dem benannten
Thema lediglich „Probebohrungen" habe vornehmen können.
Ohne daß die erreichten Ergebnisse dadurch nivelliert würden, darf
man aber sagen, daß es repräsentative Auskünfte sind, die hier bereit
gehalten werden. Wer ein wenig die tatsächliche Vielschichtigkeit
dieser Zeit kennt, weiß, daß selbst bei intensiver Beschäftigung der
Eindruck zurückbleibt, man habe nur den Rand der Probleme erreicht
. Um so größeres Interesse dürfen die Autoren dieser Beiträge
erwarten: G. Scholem mit seinen Erörterungen zum Versuch
J. G. Wächters, die Gottlosigkeit des Spinozismus aus der Kabbala zu
begründen. Doch kann Scholem aufdecken, daß Wächter nicht nur
seine These zurückgezogen hat, sondern daß selbst Leibniz dennoch
an ihr festhielt, ebenso auch Jacobi im Streit mit Mendelssohn über
Lessings Spinozismus. W. Sparn dient die zeitgenössische Auseinandersetzung
mit Spinoza als Spiegel des inneren Zustandes der altprotestantischen
Orthodoxie. Dabei stützt er sich auf eine interessante
Reihe von Autoren, deren Denken unter dieser Thematik in eigengeprägtem
Licht erscheint: Jacob Thomasius (zusammen mit Friedrich
Rappolt und Johannes Müller), Johann Musaeus, Christian
Kortholt, Valentin Ernst Löscher, Johann Franz Buddeus. Die Auseinandersetzung
mit Spinoza führte in der Entwicklung der altprotestantischen
Orthodoxie faktisch zum Verlust der methodischen Basis,
die anfänglich durch ein bestimmtes Verhältnis von Theologie und
Philosophie gegeben war. Dieser Verlust führte die Orthodoxie an die
Grenzen ihrer Möglichkeiten. Aus dem Beitrag von W. Schmidt-
Biggemann erscheinen vor allem Hinweise auf Comenius (seine Nähe
zu Spinoza, ohne dessen Konsequenzen zu ziehen), Böhme (bei ihm
punktuelle, erlebnishafte und individuelle Erkenntnis im Gegensatz
zu Spinoza, der die Einsicht in das Göttliche als dauernde Gesetzmäßigkeit
versteht), Arnold (der kein aufgeklärter Mann gewesen sei:
Institutionenkritik ist kein Kriterium von Aufgeklärtheit) und Dippel
wichtig (Funktionsverlust der Christologie schon bei Arnold, bei Dippel
Ersetzung der Erlösung durch Erweckung). Die Beiträge von
G. Alexander, M. J. Petry, H. G. Hubbeling, S. Hutton, J. D. Woodbridge
und H. B. Nisbet thematisieren z. T. Fragen, die in den vorgestellten
Beiträgen angeklungen sind, in wünschenswerter Intensivität,
oder bringen z. T. Wirkungszusammenhänge zur Kenntnis, die oft zu
sehr nebensächlich behandelt werden (zu Dippel, zu Böhmes Ansichten
und deren Wirkungen in den Niederlanden, zu den niederländischen
Spinozisten A. Koerbagh, P. Balling, J. Jelles, zu spinozisti-
schen Romanen und weiteren theologischen Anhängern Spinozas; zu
den sog. .Cambridge Platonists' More, Cudworth u. a.; zu den nachweisbaren
Äußerungen des für die Textkritik des Alten Testamentes
bedeutsamen Richard Simon; schließlich zu den Berührungspunkten
zwischen Spinoza und dem Werk „De Tribus Impostoribus").

Mit dem vorliegenden Band ist eine Thematik in Arbeit genommen
worden, die in der Lage ist, leitlinienhaft ein ganzes Zeitalter in den
Blick zu nehmen. Wenn auch weder thematisch noch methodisch
längst nicht alle Möglichkeiten angesprochen wurden, wie das Vorwort
selbst betont, so hat der Leser die nicht unbegründete Vermutung
, daß hier ins Zentrum einer Zeit und ihres Selbstverständnisses
vorgestoßen wird. Deshalb verbietet sich auch eine Kritik derart, daß
mögliche Lücken oder bestimmte Sichtweisen Ziel eines Angriffes
sein könnten. Vielmehr erscheint besonders wichtig, daß die Bedeutung
der religiösen Frage in ihrer zeitbestimmenden Art und Weise
plastisch vor Augen geführt wird. Dafür gebührt sowohl den Herausgebern
als auch der Lessing-Akademie uneingeschränkt Dank.

Leipzig Martin Pctzoldt