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Ausgabe:

1986

Spalte:

209-211

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hahn, Philipp Matthäus

Titel/Untertitel:

Die Echterdinger Tagebücher 1986

Rezensent:

Schicketanz, Peter

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209

Theologische Literaturzeitung III. Jahrgang 1986 Nr. 3

210

H. J. Chr. v. Grimmelshausens, die im Spektrum der Grimmelshausen
-Interpretationen zu beachten sein wird, trägt D. Breuer vor,
indem er Analogien zur augustinisch-jansenistischen Frömmigkeit
aufzeigt. Da - wie der Autor feststellt - der Stand der Forschung zum
Augustinismus im Deutschland des 17. Jh.s gänzlich unbefriedigend
ist, wird auch dieser Beitrag die Forschung anregen.

Zur Forschungssituation; Der Weiterarbeit dienlich wäre ein Konsensus
über eine komplexe, integrative Forschungskonzeption, die ein
Auseinanderdividieren der individuellen Artikulation und des sozialen
, institutionellen bzw. politischen Gestaltungsraums von „Frömmigkeit
" (aber auch eine wechselseitige Einebnung beider) überwindet
. Durch eine jeweils neu zu bestimmende Unterscheidung von
Intention, Motiven und Wirkungsfeldern wären (1) die Spezifität individueller
Frömmigkeit und (2) deren - im Zuge der Rezeption im
sozialen Umfeld -begegnende Ausprägungen und (von der ursprünglichen
Intention entfernten) Umprägungen zu erfassen; anzuschließen
wäre (3) eine epochenspezifische, individuelle und institutionalisierte
„Frömmigkeit" als komplementäre Ausprägungen eines Phänomens
begreifende Interpretation. Notwendig sind in diesem Zusammenhang
- neben der werkimmanenten Interpretation im Rahmen des Gesamtschaffens
des jeweiligen Autors - weitere Untersuchungen, die den
gattungsspezifischen literarischen Charakter von Dokumenten der
Frömmigkeit analysieren (Toposforschung), um zwischen spontaner
individueller Artikulation und vorgegebener .Stilisierung' bzw. vom
Autor intendierter .Tendenz' zu unterscheiden.

Jena Eberhard Pältz

Hahn. Philipp Matthäus: Die Echterdinger Tagebücher 1780-1790.

hrsg. v. M. Brecht u. R. F. Paulus. Berlin-New York: de Gruyter
1983. 517 S. gr. 8" = Texte zur Geschichte des Pietismus. Abt. VIII.
Einzelgestalten und Sondergruppen, II. Lw. DM 220,-.

Vicr Jahre nach den Kornwcstheimer Tagebüchern 1772-1777
(vgl. Rezension ThLZ 106, 1981, 9000 können die gleichen Herausgeber
den zweiten und abschließenden Band der Tagebücher Hahns
vorlegen. Er geht bis zu seinem Tod am 29. April 1790 im Alter von
50 Jahren. Im Gegensatz zu den Kornwestheimer Tagebüchern, die
vom 14. 9. 1772 bis zum 28. 9. 1777 einigermaßen vollständig überliefert
sind - für die Zeit davor und danach fehlen die Tagebücher-, ist
die Überlieferung für die Echterdinger Zeit etwas anders. Zwei originale
Tagebuchbände für die Zeit vom 11.6. 1783 bis 16.7. 1785
(S. 56-240) und 13.9. 178.7 bis 30.6. 1789 (S. 261-459) bilden den'
Hauptteil des Buches. Für die andern Zeiten - darunter auch noch die
letzte Zeit in Korn westheim (S. 37-39)- konnten die Herausgeber auf
handschriftliche Auszüge der zweiten Frau Beata Regina und
gedruckte Auszüge von Christoph Ulrich Hahn und Christian Gottlob
Barth 1828 und 1829 zurückgreifen. Wie in den Kornwestheimer so in
den Echterdinger Tagebüchern hat Frau Hahn einige Seiten herausgerissen
, die nachweislich das gespannte Verhältnis ihres Mannes zur ihr
dokumentiert haben. Zwei Seiten Faksimile (S. 35f - im Inhaltsverzeichnis
nicht notiert) vermitteln dem Leser einen Eindruck von der
Mühe, die die Entzifferung gemacht hat.

Die Ausgabe muß ebenfalls als mustergültig gelten. Wie bei den
Kornwestheimer Tagebüchern ist dem Buch eine ausführliche Einleitung
(S. 9-26) vorangestellt, die fast parallel konzipiert die verschiedenen
Seiten von Hahns Persönlichkeit zusammenfassend beleuchtet:
der Mensch, der Pfarrer, der geistige Horizont, der Pietist, literarische
Pläne und Tätigkeiten, der Theologe, der Naturwissenschaftler, der
Ingenieur, Produktion und Werkstatt. Diese Einleitungen erfüllen
einen sehr guten Zweck: Dem eiligen Leserbieten sie eine Zusammenfassung
, andererseits locken sie immer wieder, das Tagebuch selbst
aufzuschlagen und die genauen Formulierungen zu suchen. Die Zahl
der erläuternden Fußnoten hat sich gegenüber dem Kornwestheimer
um reichlich das Doppelte erhöht-darunter sind die Randbemerkungen
von Frau Hahn eine echte inhaltliche Ergänzung. Die Register
(Bibelstellen-, Orts- und Namensregister und ein Sachwortindex)

ermöglichen eine ausgezeichnete Erschließung. Beim Sachregister
sollte keine Vollständigkeit erreicht werden (S. 31), insofern findet
man immer wieder auch noch andere aufschlußreiche Stellen, die
nicht registriert wurden.

Hahns Tätigkeit in Echterdingen stand unter einem ungünstigen
Vorzeichen: Kurz zuvor hatte ihn das Konsistorium zum Widerruf
heterodoxer Äußerungen gezwungen, das Zensurgebot sowie das Pie-
tistenreskript von 1743 (Verbot der Stunden) erneut eingeschärft.
Hahns Selbstverständnis drängte ihn aber immer wieder zur schriftlichen
Äußerung. Das Tagebuch zeigt dieses Ringen - auch die vergeblichen
Versuche, einen Druck seiner Werke zugelassen zu erhalten
. Geschriebene Korrespondenzen, Magazine u. ä. waren die Möglichkeit
, wie Hahn sein damals schon ziemlich verbreitetes Ansehen
weiter gestärkt hat. Insofern verwundert es nicht, daß er selbst an auszugsweise
Veröffentlichung des Tagebuches gedacht hat (S. 51, 353).
Andrerseits diente ihm das Tagebuch zum Nachschlagen vergessener
Ereignisse, Berechnungen usw. Er hat das Tagebuch mit Ausnahme
seiner wenigen Reisen täglich geführt. Diese Präzision führt einmal
zur Eintragung 15. 12. 1787: „Vergessen aufzuschreiben". Die letzte
Eintragung nimmt er neun Stunden vor seinem Tod vor.

Auch seine Frau hat ein Tagebuch geführt, das er mit sichtlicher
Neugier eines Tages, als sie es „im Stubenkasten herumfahren ließ",
gelesen hat (S. 206).

Von der Idylle eines funktionierenden evangelischen Pfarrhauses
war in Echterdingen freilich wenig zu spüren. Die hohe Kindersterblichkeit
teilte Hahn sicher mit andern Familien (von 1781-1789
kamen sechs Kinder zur Welt, von denen 1790 nur noch zwei lebten).
Daß er aber mitunter seine Frau beschuldigte, sie sei an dem Tod
schuldig (S. 80f). trübt das Bild erheblich. Dauernde Klagen über das
Essen (Kaffee mit Salzwasser gekocht!) und die Finanzen durchziehen
das Tagebuch, aber auch Selbstvorwürfe, daß er mitunter auch vor
Gemcindcgliedern Streit angefangen habe. Auch die Kinder, die
dauernd anwesenden Vikare und die Mitarbeiter in seiner Werkstatt
haben es wohl mit diesem Choleriker recht schwer gehabt. Trotzdem:
Er bleibt sich selbst und auch seinen Fehlern gegenüber ehrlich.
Naturwissenschaftlich-technische Arbeit und biblisch-theologische
Arbeit sind für ihn eine Einheit. So exzerpiert er seitenweise im
August 1783 einen chronologischen Grundriß der biblischen Geschichte
und einige Tage später Carl von Linnes vollständiges Natursystem
des Mineralreiches. Hahn ist wacher Zeitgenosse. Er liest
Herder und schließt sich ihm an. Ein mechanistisches Weltbild lehnt
erab-dic Welt und Gott selbst ist mehrals ein funktionierendes Uhrwerk
. „In scharfem Verstand ist außer Gott kein Ding in der Welt"
(S. 306). Vgl. in der Einleitung eine gute Zusammenfassung seiner
Stellung zur Aufklärung (S. 18). Trotzdem ist Hahn Pietist. Das Stundenverbot
wurde geschickt unterlaufen durch „Hausgottesdienste"
und Versammlungen beim Nachbarn. Dabei wurde mitgeschrieben.
Pietistischc Pfarrkonferenzen organisierte er nicht mehr selbst, sondern
besuchte sie etwa in Nürtingen. Die sogenannten „Correspon-
denzbücher" waren der eigentliche Zusammenhalt der Pietisten.

Natürlich gab es ein ständiges Kommen und Gehen in seinem Plärrhaus
. Das galt freilich nicht nur dem Pietisten, sondern auch dem Hersteller
von Rechenmaschinen und Uhren.

Es kann aus der Fülle, die ein tägliches Tagebuch mit sich bringt,
hier nur exemplarisch einiges vorgestellt werden. Interessant sind
seine Ausführungen, wie man unehelichen Müttern helfen kann, um
die Kindsmorde zu verhindern (S. 110-112). Seine Bibelauffassung ist
in folgendem Zitat einzufangen: „Alles, was in der Bibel steht, haben
die Menschen aus sich selbst heraus erdacht, und ist doch Offenbarung
Gottes." (S. 347)

Der Gemeindepfarrer, Pietist und Theologe kommt in folgendem
Zitat gut heraus: „Mir ist heute über die Erziehung zum wahren Christenthum
ofenbar worden, da es auf die Unterweisung in der zartesten
Kindheit und Aufwachsung unter guten Anstalten und Unterweisungen
viel ankomme. Weil man ja weiß, daß jede Religion durch Auferziehung
sich festsetzt, das man meynt. daß sy allein die wahre. Wie