Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1985

Spalte:

116

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Mitscherling, Maria

Titel/Untertitel:

Die Lutherhandschriften der Forschungsbibliothek Gotha 1985

Rezensent:

S. B.

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

115

Theologische Literaturzeitung 1 10. Jahrgang 1985 Nr. 2

116

Oberman vorwiegend auf den Willenbergcr Reformator. An der
Kurzform des Bekenntnisses von 1520 zeigt er auf. daß Luther sein
Kriteriuni für die Beurteilung der Juden der Theologie entnahm.
Luthers Judenbild orientiert sieh nicht am Sakramentsschänder, Kindermörder
, Wucherer oder gar am Volksfremden; ..entscheidend sind
die Juden allein als prototypischer .Meßkanon', um die Einbruchstel-
len des Teufels in die zeitgenössische Kirche zu sondieren" (141). Die
Abweisung Christi und die Grundlosigkeit der selbstsicheren Berufung
auf Abraham entdeckt Luther jetzt in der Kirche. Gleichzeitig
meint er. mit dem Durchbruch des Evangeliums sei die Zeil der
Judenbekehrung gekommen. Er ist aber schon früh in der ..Kritik am
Judentum als Religion so kompromißlos wie in späteren Jahren"
(148). Die Härten des alten Luther sind damit bereits programmiert
(151). Hinzu kommt schließlich als „Grundmerkmal des alten
Luther" eine gesteigerte apokalyptische Naherwartung. In den letzten
schriftlichen Äußerungen Luthers ändert sich ..die befürwortete
Judenpolitik, nicht aber die Judenschau in der Verkettung .Juden.
Papst und Türken', die drei jetzt entbundenen Schrecken der Endzeit"
(161). Der Reformator kennt schließlich nur noch die Alternative
Judenbekehrung oder Änderung der eigennützigen obrigkeitlichen
Judenpolitik, d. h. für die Betroffenen Austreibung. Oberman kommt
zum ernüchternden Ergebnis, daß Luthers Reformation für die politische
und soziale Lage der Juden keine Besserung gebracht hat. Uber
das Mittelalter haben Luthers Impulse dennoch ansatzweise bei Jonas
und Osiander hinausgeführt. Außerdem findet sich bei Luther selbst
bereits der Bußruf, daß Christen und Juden lür das Kreuz Jesu verantwortlich
sind. In einem Epilog. ..Der steinige Weg zur Koexistenz"
(185-195). ordnet Oberman die Ergebnisse in seine Gesamtsicht der
Reformation ein. Weder die an Luther orientierte Reformation, noch
die Phase der Stadtreformation, sondern erst die ..dritte Reformation"
C alvins in Genf brachte die veränderte Einstellung zu den Juden.
Das gemeinsame Exulantenschicksal verhalf der „Sicht von dem
einen gemeinsamen Gottesbund für Juden und Christen" zum Durchbruch
(189). Oberman leitet aus diesem Ergebnis die These ab. daß
..die ersten greilbaren Fortschritte in Richtung Toleranz . . . nicht auf
ein neues Heidentum zurückzufuhren sind" (190) und schließt die
Hypothese an, daß die durch den religiösen Fanatismus langfristig
geprägten Vorstellungen nur durch ein ebenso wirksames Gegengift
ausgelöscht werden können. Wenn dem Antisemitismus an die Wurzeln
gegangen werden soll, ist das gemeinsame Erbe zu nutzen: „Die
Schau der gemeinsamen Verfolgung, das Bestehen auf dem einen, in
Ciottes Geschichtsplan verankerten Fundament lür die Zusammengehörigkeit
von Juden und Christen" (191). 19 Kurzviten der ..handelnden
Personen" von Bucer bis Zwingli. aus der Feder von Manfred
Schulze beschließen den Band (201-217, bei Hutten bleibt das anti-
judaistische Hexameterpamphlet auf Pfefferkorn unerwähnt).

Die Fülle der einprägsamen Formulierungen konnte in dem
Inhaltsreferat kaum angedeutet werden. Zu diesem Punkt stellen sich
aber auch Fragen nach einem gewissen Hang zur Vereinfachung bzw.
Überinterpretation ein, z. B. wenn Reuchlin „auf der Suche nach
einer Zwci-Reiche-Lehre" vorgestellt wird, weil er die Juden als Mitbürger
im Kaiserreich und Gegner im Gottesreich beurteilt (38). Ob
Genf so ohne weiteres als Ausgangspunkt der Toleranz beansprucht
werden kann, ist bekanntlich umstritten. Damit ist auch die Frage
nach Möglichkeit und Grenze, relbrmatorische Phasen oder gar
Reformationen zu numerieren, ins Spiel gebracht. Die Kenntnis der
realen Verhältnisse im Blick auf die Juden in Kursachsen oder im
Mansfeldischen wird durch Obermans Buch ebensowenig vorangebracht
wie in der bisherigen einschlägigen Lutherliteratur. Die Wurzeln
des Antisemitismus werden ausschließlich im geistigen Bereich
aufgewiesen, wobei Luthers Apokalyptik vielleicht doch zu stark herausgestellt
wird. Aber gerade die scharfen Konturen faszinieren den
Leser.

Corrigenda: 119 Anm. 48: Die beiden Mflntzerbriefe sind an die Vettern
Lrnsl und Albrecht von Mansfeld gerichtet. Der bei Müntzer gefundene Brief ist
nicht mit ihnen identisch. F.s handelte sich vielmehr um Graf Albrechts Schreiben
an die Frankenhäuser Aufständischen vom 10. Mai 1525; 129: „Minderzahl
" in dem sehr frei übersetzten I löltzeldruck bezieht sich auf die Vngabe der
Jahresza Iii.

Berlin Siegfried Brauer

Mitscherling, Maria: Die Lutherhandschriften der Forschungsbibliothek
Gotha. Gotha: Forschungsbibliothek 1983. 240 S. 1 Taf. 8* =
Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha. 21.

Der Reichtum der Gothaer Bibliothek an Lutherhandschriften war
seit langem kein Geheimnis. Das ganze Ausmaß ist aber erst jetzt
durch den Katalog von M. Mitscherling überschaubar. In mühevoller
Kleinarbeit hat die Bearbeiterin die in den Handschriften Luther
zugeschriebenen oder die sofort als Lutheräußerungen erkennbaren
Texte verzeichnet, insgesamt 2697 Nrr. Nr. 1-2 Bibelübersetzungen.
Nr. 3-31 Bibel- und Bucheinzeichnungen, Trostsprüche. Nr. 32-39
Bibelauslegungen, Nr. 40-69 Predigten. Nr. 70-1 I I Katechismustexte
, Nr. 112-201 Lieder und Gedichte. Nr. 202-257 Schriften vermischten
Inhalts. Nr. 258-288 Disputationen, Nr. 289-2560 Briefe.
Nr. 2561-2685 Tischreden (unter Ausschluß von Einzelstücken). In
der Anordnung wird von der WA ausgegangen, d. h. es ist vorrangiges
Ziel des Katalogs, die handschriftlich überlieferten Luthertexte in der
WA nachzuweisen. Die Nachteile - Aulbau und Anlage der Handschriften
sind teilweise nicht erkennbar - werden durch eine Handschriftenübersicht
(199 bis 228) zum guten Teil abgefangen. Die
unterschiedliche Bearbeitung des Briefwechsels in WA spiegelt sich
allerdings im Katalog ebenfalls wider. Eine vollständige Kollation
aller Texte war angesichts des Um längs der Überlieferung unmöglich,
desgleichen ein Verweis auf wichtige Textveröffentlichungen, die über
die WA hinausführen, z. B. bei der Heidelberger Disputation
(Nr. 258. vgl. Lutherjahrbuch 1979).

Der Aufwand an Arbeit hat sich gelohnt. Der Katalog demonstriert
eindrucksvoll, „daß die handschriftliche Uberlieferung reicher ist, als
es die WA erscheinen läßt" (II). Das gilt in erster Linie lür die Briefe,
betrifft aber auch die anderen genannten Gattungen, vor allem die
Lieder. Glanzpunkt des Kataloges ist die Auffindung und vollständige
Wiedergabe (auch als Faksimile) der Abschrift eines bislang unbekannten
Briefes von den Visitatoren Luther und Melanchthon an den
Rat zu Kahla vom 7. März I 532 (Nr. 2560). Mit der vermutlieh eigenhändigen
Adresse auf einer Abschrift des Briefes an Miltitz vom
I 7. Mai 1519 wurde ein weiteres Lutherautograph entdeckt (Nr. 360).
Es findet sich leider nicht mit unter den 16 Abbildungen. Der Katalog
berichtigt einige Fehlangaben der WA. z. B. zu Chart. A 122 (201)
und Chart. A 380 (204). Vor allem aber gibt er interessante Aufschlüsse
zur Wirkungsgeschichte und zur Rezeption der Lutherschriften
. Im Blick auf die Briefe macht die Bearbeiterin darauf aufmerksam
, daß der Kulminationspunkt der handschriftlichen Überlieferung
um 1530 (Coburgaufenthalt) liegt. Weiterhin sind gutachterliche
briefliche Stellungnahmen oder solche von grundsätzlichem Charakter
in Briefen besonders häufig abgeschrieben worden, zur Taufe unge-
borener Kinder, Krankenkommunion, zu Eheproblemen und vor
allem zum Widerstandsrecht gegenüber dem Kaiser. Diesen von der
Bearbeiterin hervorgehobenen Problemkreisen kann der Katalogbenutzer
leicht weitere hinzulügen, z. B. Geltung des mosaischen
Gesetzes (Nr. 5871', Nr. 612-616 u. ö.) und Ablehnung eines evangelischen
Konzils über einheitlichen Gottesdienst (Nr. 629-635). Für
die Erforschung „der Lutherrezeption durch die Jahrhunderte" gibt
die Bearbeiterin ebenfalls wertvolle Anregungen (8). Selbst lür die
Geschichte der Müntzerrezeption bietet der Katalog einen Hinweis.
Chart. B 185, Bl. 100' (Nr. 5.32) enthält aus dem Lutherbrief vom
3. August I 523 nur den wichtigen Abschnitt über den Besuch des Allstedter
Schossers bei Luther.

Dem Katalog sind Register der Briefempfänger und Briefschreiber
beigegeben.

Berichtigung: Nr. 507 wird doch in WA Br 3 erwähnt: S. 14 Anm. I I.
Berlin Siegfried Bräuer