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Ausgabe:

1985

Spalte:

114-116

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Oberman, Heiko Augustinus

Titel/Untertitel:

Wurzeln des Antisemitismus 1985

Rezensent:

Bräuer, Siegfried

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Theologische Litcraturzcitung I 10. Jahrgang 1985 Nr. 2

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schließlich 1555 die beiden Konfessionen Katholizismus und Luthertum
reichsrechtlich in die Hände der Fürsten gelegt wurden" (160).

Das ausführliehe Referat mag von dem Profil wie von den Grenzen
dieses Buches ein Bild vermittelt haben. Mir als einem an manchen
der Thesen des Vf. nicht ganz unbeteiligten Autor (vgl. mein Buch
Reichsstadt und Reformation. 19621 erscheint auf der einen Seite die
Entschlossenheit, mit der Blicklc alle alteren Formen der Refor-
mationsgeschichtsdarstellung verabschiedet und damit ernst macht,
daß die Reformation ..die weitestgehende Verzahnung sozialer und
ideeller Bewegungen (war), die es in der europäischen Geschichte
gegeben hat*' (Vorwort), eindrucksvoll, auf der anderen Seite jedoch
die Tendenz zur Vereinseitigung und Vereinfachung der Zusammenhänge
problematisch. Ich beschränke mich jetzt auf kritische Einwendungen
und folge dabei der Hauptlinie der Argumentation und Beweisführung
des Verfassers.

1. Mit seiner weitgehend auf die politische Dimension der Geschichte
beschränkten Sicht verzeichnet der Vf.. so scheint mir. den
ihm so stark am Herzen liegenden Vorgang der Rezeption der refor-
matorisehen Ideen. Dal.* die Menschen des ausgehenden Mittelalters
durch die von der Kirche propagierte Leistungsfrömmigkeit elementar
, gewissermaßen in ihrer Existenzbegründung selbst, beengt und
geängstigt waren, und daß demgegenüber Luther, indem er gültige,
aber nicht geltende christliehe Wahrheiten erneut inthronisierte
(Christus ist Retter, nicht Ritter; Norm aller Erkenntnis ist die Bibel.
u- a.). bis in tiefe seelische Schichten hinein befreiend wirkte, kommt
bei solcher ..Politisierung" nicht hinreichend heraus.

2. Die Meinung des Vf., Luther habe zunächst im Adel und erst
Später in den Städten Resonanz gefunden, dürfte kaum haltbar sein.
Der Vf. kommt zu dieser Meinung, weil er in seiner Darstellung der
spätmittelalterlichen Gesellschaft und ihrer Luther-Rezeption einen
Zusammenhang gänzlich außer acht läßt, der hier nach meinem
Urteil maßgebende Bedeutung hat - die Sphäre der Bildung und das
die Gebildeten ansprechende Medium der Verbreitung der Reformation
, die Flugschriften. Um es zugespitzt auszudrücken: Als Luther
anfing. Adlige zu beeindrucken, halten städtische Bürger bereits
500 000 Exemplare seiner Schriften gekauft und gelesen.

3. Anhand der Flugschriften-Literatur läßt sich auch ein wichtiger
Einwand gegen Bliekles Tendenz, Zwingli gegen Luther auszuspielen,
'ormulieren: Davon abgesehen, daß er die theologische Dillerenz
der beiden Reformatoren wohl überzeichnet, verschärft er auch in
m. E. unzutreffendem Maß die Konkurrenz ihrer Wirkungen. Als die
ersten Publikationen Zwingiis auf dem Markt erschienen, waren
Luthers Schulten dort längst in Massen präsent; daß aber der Züricher
Reformator etwas anderes verlrat als der Wittenberger, war vor dem
Spätjahr 1524 niemandem bewußt, nicht einmal den Beteiligten,
geschweige denn ihren Lesern, und als es bemerkt wurde, da nicht
anhand der Obrigkeits-, sondern anhand der Abendmahlslehre. Noch
weniger leuchtet ein. daß die Bauern, die ja im Unterschied zu vielen
Stadtbürgern in der Regel nicht imstande waren, an den literarischen
Kämpfen der Zeit Anteil zu nehmen, am Vorabend des Bauernkrieges
von den theologischen Differenzen der Reformatoren einen Begriff
Schabt haben sollen; daß sie sich für die eine Richtung der Reformation
gegen die andere ..entschieden'" hätten (III), halte ich für eine
Fiktion.

4. Bliekles These vom expandierenden ..Komnumalismus" des
Spätmittelalters hat ihre historische Verankerung in Süd- und Südwestdeutsch
iand, den dem Vf. besonders vertrauten Landsehalten. Ob
sie sieh auf ganz Deutschland anwenden läßt, ist fraglich und muß
einstweilen dahingestellt bleiben. Dort, wo jedoch ..kommunalisli-
sche" Tendenzen auch im lutherischen Bereich wirklich nachweisbar
sind. z. B. in norddeutschen Städten, sind sie im Zusammenhang der
Reformation kaum weniger zum Zuge gekommen als in Oberdeutschland
, wie zuletzt u. a. die gründliche Arbeit von O. Mörke. Rat und
Bürger in der Reformation. Soziale Gruppen und kirchlicher Wandel
in den weifischen Hansestädten Lüneburg. Braunsehweig und Göttingen
. 1983. gezeigt hat. Daß die sozialethischen Maximen Luthers und

des Luthertums dem ..Kommunalismus" gänzlich entgegengesetzt
gewesen seien und Luthers ..Weltwirkung" in dessen Unterdrückung
bestehe, erscheint wenig plausibel.

Göttingen Bernd Moeller

Oberman, Heiko A.: Wurzeln des Antisemitismus. C hristenangst
und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation.
Berlin: Severin und Siedler 1981. 224 S. 8

An neueren Publikationen über Luthers Verhältnis zu den Juden
herrscht kein Mangel. Obermans Buch nimmt aber eine Sonderstellung
ein. Es stammt aus der Feder eines Sachkenners, der maßgeblichen
Anteil am heutigen Erkenntnisstand über die schwer belastete
Thematik hat. Das Buch ist in einem überaus gut lesbaren Stil geschrieben
. Sein Autor ist als Niederländer außerdem frei vom Verdacht
einer vordergründigen Vergangenheitsbewältigung. Schließlich
vermeidet er von vornherein die Fixierung auf Luther und damit auch
die herkömmliche Engführung. Der autobiographische Rückblick im
Vorwort erschließt die Judenfrage sofort als europäisches, ja als Problem
der Weltchristenheit.

Gleich eingangs weist Oberman daraufhin, daß Humanismus und
Reformation der Neuzeit neben Vorwärtsweisendem auch den alten
Judenhaß weitervermittelt haben. Die üblichen Rollenzuweisungen -
Reuchlin als Vater der Judenemanzipation. Luther als bigotter Antisemit
. Erasmus als Urbild der Toleranz - halten der Quellenüberprüfung
nicht stand. Der Antijudaismus war integraler Bestandteil aller
Reform Programme des 16. Jahrhunderts (28). Dem Nachweis dieser
These widmet Oberman die drei Hauptteile seines Buches. Im I.,
..Die Juden auf der Wende der Neuzeit" (23-83). arbeitet er zunächst
Reuchlins Position heraus. Auf dem Hintergrund der Überzeugung
von der Kollektivschuld der Juden trat der schwäbische Humanist
sowohl für den Rechtsschutz der Juden, als auch für das Schutzrecht
der christlichen Gesellschaft ein. Er forderte ..Buße. Bekehrung. Besserung
- für Verstockte bleibt die Vertreibung" (39). Die schrillen
Töne bei Johannes Pfefferkorn sieht Oberman in der chiliastischen
Bekehrungshoffnung des Konvertiten begründet, dessen Kritik an der
christlichen Ritualmordhetze durch Andreas Oslander noch überboten
wurde. Oslanders anonym erschienene Schrift von 1529 rief
wiederum eine Replik Johannes Ecks hervor, die ..alle bisherigen
Judenpublikationen der Reformationszeit an Grobheit. Haß und Verleumdung
" hinter sich ließ (45). Auch Erasmus ist in die Kette der
Antijudaisten einzureihen. Er macht z. B. die Juden für den Bauernaufstand
verantwortlich. Die vorreformatorische Endzeiterwartung
und Antichrislfurcht verstärkte die antijudaistischc Tendenz erheblich
. Der junge Luther nahm durch seine Hochschätzung des Alten
Testaments /war eine gew issc Sonderstellung ein. sah aber ebenfalls in
der Bekehrung den ein/igen W eg zum Heil für die Juden. Bei Justus
Jonas spielt dagegen die gemeinsame Vorgeschichte von Juden und
Heiden ebenso eine größere Rolle wie die gemeinsame Zukunft. Der
2. Teil. ..Von der Agitation zur Reformation. Der Zeitgeist im „luden-
spicgcl'" (85-122). nähert sich der Thematik von der Seile der Massenwirksamkeit
. Erneut sind Pfefferkorns Schriften zunächst das
Exempel, durch welche die Verstocktheil der Juden genauso aufgedeckt
wird wie die Härte der Christen. Ihr Autor wird dadurch /um
Außenseiter. Eberlin von Günzburg in seiner Flugschrift ..Der
Glocken Turm" von 1523 und vor allem Luther beklagen gleichfalls
die bisherige Judenpolitik. Ihr Interesse ist aber nicht auf die Juden-
emanzipation gerichtet, sondern auf Kirchenkritik und die Hoffnung,
daß sich das Evangelium durchsetzt. An der Regensburger Austreibung
von 1519 und dem Engagement Balthasar Huhmaiers dabei
demonstriert Oberman. daß auch die späteren Täufer (z. B. Hätzer)
„alles andere als Judenfreunde" waren (103). Durch die Flugschriftenliteratur
, in der die mittelalterliche Bußpredigt fortgesetzt w ird, erfahren
die Juden ebenfalls keine Entlastung. Erst im 3. Teil. ..Martin
Luther. Heil und Unheil aus den Juden" (123-183). konzentriert sich