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Ausgabe:

1985

Spalte:

72-73

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Kirn, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Das Bild vom Juden im Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts, dargestellt an den Schriften Johannes Pfefferkorns 1985

Rezensent:

Kirn, Hans-Martin

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rheologische Literaturzeitung 1 10. Jahrgang 1985 Nr. I

72

Texte aus der Zeit des Pietismus, der Aufklärung und der Restauration
enthalten). Als abschließender Band ist eine Ausgabe von eucha-
ristischen Texten der ökumenisch orientierten jüngsten Zeit mit dem
Titel „Sacrum Convivium" vorgesehen.

Der vorliegende Band enthält in 27 Kapiteln 806 liturgische Texte
aus 1 76 Abendmahlsordnungen auf der Basis von 429 Ausgaben, bearbeitet
von 12 liturgiegeschichtlichen Sachkennern, Das Spektrum
reicht von den vorlutherischen deutsehen Messen, über Luthers und
Bugenhagens, denen der nordischen Länder, der Schwei/, der Niederlande
und Englands sowie der Ordnung Calvins bis zu den Abendmahlsliturgien
der Brüderunität und der Remonstranten. Frieder
Schulz, der auch die kurpfälzische Ordnung v on 1563 (Kap. 23) bearbeitet
hat, steuerte eine Einführung zum gesamten Band bei. Jedes Kapitel
hat eine klare Gliederung: Quellenangaben (Druckvorlage ist in
der Regel entweder eine, wissenschaftliche Ausgabe oder der Erstdruck
), Einleitung mit Angaben über Entstehung. Aufriß des Abendmahlsteils
. Bibliographie und durchnumerierter Textteil. Der Einflußbereich
der jeweiligen Ordnung erhält einen Extraabschnitt.

Die Abhängigkeilen und Einflußbereiche wichtiger Abendmahlsordnungen
sind durch dieses Quellenwerk erstmalig verhältnismäßig
einfach zu überblicken. Im einzelnen ergeben sieh Fragen, Verständlicherweise
setzt das 2. Kapitel ..Das Abendmahl nach den Ordnungen
Martin Luthers", bearbeitet von Hans-Christian Drömann, mit der
Formula Missae von 1523 ein. wobei es ratsam gewesen wäre, auch
auf die Neuausgabe in der Studienausgabe Bd. 1, 365-386 zu v erweisen
. Auf Luthers vorangehende Auseinandersetzung mit der Messe
(z. B. Abroganda missa privata) wird in der Einleitung mit keinem
Wort Bezug genommen. Gleichfalls Bedenken erheben sich zum
1. Kapitel: ..Das Abendmahl nach den deutsehen Messen vor Marlin
Luther", ebenfalls von Drömann bearbeitet. Die einsichtige Gliederung
ruft zumindest für Thomas Müntzer einen einseitig statischen
Eindruck hervor, weil der Einfluß von Luthers vorangehender Formula
missae völlig ausgeblendet bleibt. Das Verhältnis von Müntzers
„Ordnung und Berechnung" zur „Dculsche(n) Evangelisehen Messe"
wird außerdem zu unkompliziert wiedergegeben (10). Die „Deutsche
Evangelisehe Messe" isl zwar früher konzipiert worden als die Recht-
fertigungsschrift ..Ordnung und Berechnung", erschien aber erst im
Sommer 1524 als Müntzers letzte liturgische Schrift in Allstedt. Im
Abschnitt über Karlstadt fehlen in der Bibliografie die wichtigen
neueren Arbeiten von W. Neuser. L'. Bubcnheimer und R. Sider, aber
auch N. Müllers grundlegende Arbeil über die Wittenberger Bewegung
aus dem Jahre 191 I. Im 3. Kapitel über Bugenhagens Abendmahlsordnungen
vermißt man die Erwähnung der wissenschaftlichen
Ausgaben von H. Lietzmann und L. Hänselmann. Niehl ergründbar
ist, warum Drömann bei den Präfationen der Kirchenordnung Pommerns
I 542 IT(571) jeden Hinweis auf Müntzers Präfationen (231) unterläßt
, obgleich er sie in seiner Dissertation aus dem Jahre 1962
selbst dem Einflußbereich der Textlässung Müntzers zugewiesen hatte
. (H.-Chr. Drömann: Wort- und Sakramentsteil des reformatorischen
Gottesdienstes in den lutherischen Kirchenordnungen des
16. Jahrhunderts. Theo!. Diss. Göttingen 1962, 203). Im Abschnitt
über Müntzer fehlt außerdem sein früherer Hinweis auf die Agende
Bringhausen und die Kirchenordnung Spiegelberg-Pyrmont/Lippe
sowie J. Spangenbergs Gesangbuch (ebd.). Die Einleitung zur Messe
des Nürnberger Augustinerpriors Volpreeht ist allzu knapp geraten.
Man vermißt den Hinweis von B. Klaus auf die Auseinandersetzung
mit Müntzers Messe (671). Zur Mecklenburger Ordnung wäre die
Diss. von Gerhard Bosinski (Das Schrifttum des Rostocker Reformators
Joachim Slüter. Berlin 1971) nachzutragen (99 und 69 Anm. 3).

Die Fragen, zu denen sich unter der Benutzung noch weitere
gesellen werden, können den Werl dieses einzigartigen Quellenwcrkes
in keiner Weise schmälern. Der Liturgiewissenschaft ist ein hervorragendes
Arbeitsmittel in die Hand gelegt worden. Der reformationsgeschichtlichen
Forschung werden ebenfalls vielseitige Anregungen
gegeben. Sie sollte zumindest bei der Darstellung des Abendmahlsverständnisses
auf die verschlungenen Wege achten, die reformatorische

Abendmahlsordnungen genommen haben und die womöglich auch
Fragen nach Einflußbereichen und Traditionen in bezug auf andere
Themen hervorrufen. Über alle gesehiehtsorientierte Arbeit hinaus
erhofft sieh die Hrsg. durch den jetzt geschaffenen Zugang zu der Vielgestaltigkeit
der reformatorischen Abendmahlsliturgien eine Förderung
des ökumenischen Bew ußtseins. Auch für diesen Impuls gebührt
ihr und den Bearbeitern Dank.

Druckfehler 97: Verweis auf 69 stall 73; 601 und 604: Allstedt stall
Allstädl.

Berlin Siegfried Brfiuer

Referate über theologische
Dissertationen in Maschinenschrift

Kirn, Hans-Martin: Das Bild vom Juden im Deutschland des frühen
16. Jahrhunderts, dargestellt an den Schriften Johannes Pfefferkorns
. Diss. theol. Tübingen 1984. 226 S. u. XXIX S. Textanhang
(„Wdenspiegel" 1508).

Die zwischen 1507 und 1521 veröffentlichten Streitschriften
ermöglichen, im Zusammenhang gelesen und zeilgeschichtlich interpretiert
, einen Einblick in wesentliche Faktoren des spätmittelalterlichen
Judenbildes hinsichtlich Religion, Wirtschaft und Recht. Unter
dem Vorzeichen eines von Franziskanerobservanten in der Tradition
päpstlicher und mönchischer Anstrengungen zur Judenmission angeregten
Rahmenprogramms entstanden, beleuchten diese Schrillen
von Erscheinungsformen jüdischer und christlicher Volksfrömmigkeit
her einerseits den jüdisch-christlichen Grundkonflikt als Streit
um das wahre Oeselz und helfen andererseits zur sachgerechten
Präzisierung der Fragestellungen, mit denen weitere Stellungnahmen
zur sog. ..Judenfrage" im 16. Jahrhunderl behandelt weiden können.
Im Wesentlichen isl folgende Differenzierung vorgenommen: (I) das
Bild vom Juden in Glaube und Ritus im Spiegel christlicher Predigt
und spätmittelalterlicher Frömmigkeit; (2) das Bild vom Juden in der
Gesellschaft im Spiegel endzeitlich-missionarisch verstandener Weltverantwortung
; (3) die sog. „Reuchlinaffäre" und ihre Bedeutung für
die Frage nach dem Bild vom Juden.

(1) Die christliehe Missionspredigt thematisiert die Überwindung
des Juden als eines Polemikers gegen den christlichen Glauben in
einer Zeit messianischer Enttäuschung (Rabbi Ascher ben Rav Meir)
und fortschreitender Verarmung des deutschen Judentums. In Hinblick
auf den jüdischen Ritus („Judenbeichte") findet die Verknüpfung
von Mission und Inquisition Ausdruck in der Verbindung von
didaktisch verstandener Verspottung des Juden als Narren mit dem
Versuch, ihn als menschenfeindlich eingeschworenen Beter zu entlarven
. Das Verhältnis zur rabbinischen Tradition ist zwiespältig: Einerseits
wird sie als antimosaisch herausgestellt (vgl. die kaiserliehen
Konfiskationsmandate 1509), andererseits kann sie in der (lestalt des
Passahfestes durch allegorische Auslegung zu einer Art „Christenspiegel
" geformt werden und so den rabbinischen Juden zum Vorbild
machen („Osterbüchlein"). Pfefferkorn bekämpft anfangs den Aberglauben
vom jüdischen Ritualmord und das christliche Vorurteil vom
gelauften Juden als eines schlechten Christen (..Halbjude"), um
schließlich im Streit um seine Rechtgläubigkeit eben dem Aberglauben
vom Ritualmord und Hostienfrevel zu verfallen.

(2) Die antijüdische Agitation, die den Juden als Untertan christlicher
Obrigkeit belangen will, führt in das Spannungsfeld von Judenmission
und Judenvertreibung und offenbart zugleich ihre obrigkeitskritischen
und gesellschaftsreformerischen Impulse: besonders beim
Problem zinstragender Geldleihe (Jude als Wucherer). Das Bild vom
Juden als Heiden führt in das Dilemma der missionarischen Zwangspredigten
und die Frage legitimer Gewalt; das Bild vom Juden als
Häretiker („Ketzer des Alten Testaments") zum Ruf nach der Inquisition
und obrigkeitlicher Hilfestellung zur Kirchenzucht als missionarischem
Mittel. Das Bild vom Juden als Dämon gibt Zeugnis von der
Dämonisicrung der Welt, bei Pfefferkorn durch die Angst gefördert.