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Ausgabe:

1985

Spalte:

910-911

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Thulstrup, Niels

Titel/Untertitel:

Commentary on Kierkegaard's Concluding unscientific postscript 1985

Rezensent:

Schjorring, Jens Holger

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Theologische Literaturzeitung I 10. Jahrgang 1985 Nr. 12

910

und vertrauten Seelsorger der Familie Kierkegaard, geschrieben von
Miels Thulstrup. Dieser längste Artikel des Bandes (S. 15-69!) zeichnet
sich aus durch hervorragende Sachkenntnis, verbunden mit großem
Einfühlungsvermögen. Dem Leser wird die Fülle der theolo-
BKch-erbaulichen Werke Mynsters vorgestellt. Die inneren und
äußeren Beziehungspunkte Kierkegaards zu dieser Persönlichkeit
werden anhand von Tagebuchnotizen des Letzteren klar herausgearbeitet
. Es wird verständlich, warum die Schärfe der Polemik Kierkegaards
im ..Kirchenkampf" („Augenblicks"-StreU mit Vorphase
1854/55!) den 1854 verstorbenen Bischof als Repräsentanten der
Staatskirche voll treffen soll.

Gleich soll darauf hingewiesen werden, daß von Niels Thulstrup
zwei weitere Abhandlungen im v orliegenden Band stammen, die auch
aut i'1 Deutschland bisher unbekannte Tagebuchnotizen des großen
Dänen zurückgreifen. In dem Artikel über den theologischen Werdegang
Henrik Nicolai Clausens (1793-1877) und dessen ncutestamenU
liehe Forschung und Lehre an der Kopenhagener Universität wird
sorgfältig die kritische Haltung Kierkegaards gegenüber Clausens
Rationalismus herausgearbeitet (vgl. besonders die Nachweise
S. 167-169). Ebenso wichtig ist der dritte Beitrag Thulstrups über den
Heidelberger Theologen Carl Daub (1765-1836). der vom jungen
Kierkegaard ausführlich gelesen wurde: „Trotz der spekulativen Position
und Methode von Daub bewahrte sich Kierkegaard beachtlichen
Respekt vor ihm, las seine Werke und bezog sich gelegentlich aufseine
Meinung .. ."(S. 210).*

Johann Georg Hamann (1730-1788), der „Magier des Nordens",
ist ein großer Anreger. Das ist auch der Fall bei der Wirkung seiner
Schrillen auf Kierkegaard. Albert Andersons ausführliche Studie zeigt
Hamanns Sokratesrezeption. die wiederum Kierkegaards Sokrates-
°ild beeinflußt hat (S. I 10-134). - Claus v. Bormann beginnt seine
tielängelegte Untersuchung über Lessing mit folgendem Satz: „Kein
Denker mit der Ausnahme von Sokrates empfing so enthusiastisches
Lob von Kierkegaard, wie es Lessing tat" (S. 135).* In der Tat kann
nian Lessing als einen bedeutenden Lehrer Kierkegaards bezeichnen;
denn nicht nur im ersten Teil der „Unwissenschaftlichen Nachschrift
" (1846), sondern auch in anderen Teilen des schriftstellerischen
Werks finden sich wesentliche Spuren Lcssingschen Denkens
(vgl. S. 135-157).-Verdienstvoll ist der Artikel über Franz v. Baader
(1765-1841). den Freund Sendlings, dessen kosmopolitisches Denken
nicht nur den jungen Kierkegaard angeregt hat. Marie M. Thulstrup
weist u. a. die Bedeutung von Baaders „Vorlesungen über spekulative
Dogmatik" (fasc. 1. Stuttgart und Tübingen 1828. fasc. 2-5.
Münster 1830-1838) Tür Kierkegaards Dissertation (1841) und „Der
Begriff Angst" (1844)nach(S. 170-176;bes.S. 173!).

Kehren wir zur Kopenhagener Szene zurück und damit zu zwei
Philosophen, deren Einfluß auf Kierkegaard immens war. Beide
Waren seine persönlichen Lehrer an der Universität und üben bis
heute einen großen Einfluß auf das dänische Geistesleben aus. Es sind
Poul Martin Möllcr(l 794-1838). dem H. P. Rohde einen gediegenen,
kenntnisreichen Artikel widmet (S. 89-109), und Frederik Christian
Sibbcrn (1785-1872), dessen Leben und Beziehung zu Kierkegaard
einfühlsam von Robert J. Widcnmann beschrieben wird (S. 70-88).
Der zu früh verstorbene Möller und der Kierkegaard überlebende Sibbcrn
haben sich bemüht, den Menschen eben nicht im spekulativen
Denksystem aufgehen zu lassen, sondern in seiner alltäglichen Oegebenheil
experimentell zu erfassen. Fs ist klar, daß mit derartigen tradierten
Erfahrungen im Rücken Kierkegaard die hegelianisch gebundene
Dogmatik eines Hans Lassen Martensen (1808-1884). des Nachfolgers
von J. P. Mynster auf dem Bischofsstuhl von Seeland, angreifen
mußte, wie es neben anderen wichtigen Fakten von J. H. Schjor-
ring in einem umfassenden Artikel (S. 177-207) einsichtig geschildert
wird.

Krefeld Wolfdietrich von Klocdcn

* Die Übersetzungen aus dem Englischen stammen vom Rezensenten.

Thulstrup. Niels: Commentary on Kierkegaard'* Cuncluding l nscien-
tific Postscript with a new lntroduction. Transl. by R. J. Widcnmann
. Princeton; Princcton Universitv Press 1984. XVII, 405 S. gr
8". Lw.$ 18.-.

Die Zielsetzung dieses Kierkegaard-Kommentars liegt auf mehreren
Ebenen: In erster Linie gibt er dem nicht des Dänischen mächtigen
Leser den notwendigen Vorrat an historischen Informationen, damit
die vielen zeitbestimmten Züge dieses Hauptwerks von Kierkegaard
es nicht unlesbar machen. Dann will dieser Band auch zu einer Klärung
des grundlegenden systematisch-theologischen Anliegens der
„Unwissenschaftlichen Nachschrift" beitragen: auf der einen Seile
steht das „System", das ganzheitliche Denken Hegels und des Hegelianismus
, auf der anderen Seite Kierkegaards Polemik dagegen und
seine Alternative.

Niels Thulstrup hat somit zugleich ein Nachschlagewerk handbuchartigen
Zuschnitts und eine monographische Untersuchung vorgelegt
. In dieser Hinsicht fügt sich das Buch gut in N. Th.s übrige Veröffentlichungen
ein, die zahlreich in englischer w ie deutscher Sprache
erschienen sind. Da N. Th. die „Nachschrift" als den Schlußpunkt der
Auseinandersetzung Kierkegaards mit Hegel betrachtet, schließt sich
der vorliegende Band eng an den Kommentar desselben Verfassers zu
den „Philosophischen Brosamen" und seine Untersuchung zur Entwicklung
des kierkegaardschen Werkes bis 1846 (englisch 1962 und
1980 erschienen, deutsch 1959 und 1972) sowie eine lange Reihe von
Untersuchungen in der von N. Th. selbst herausgegebenen „Biblio-
theca Kierkegaardiana" an.

Die „Nachschrift" wird als Abschluß der ersten Hauptphase im
Werk Kierkegaards gesehen, die den Weg vom Leben in der Unmittelbarkeit
zum Christentum beschreibt. Zugleich leitet die „Nachschrift
" jedoch die zweite Hauptphase ein. in der es um die Frage geht.
wasChrist-sein eigentlich bedeutet (S 106).

In der ersten Hälfte des Buches liefert N. Th. einen theologic- und
philosophiegeschichtlichen Abriß der Problemstellung, die Kierkegaard
von seinen besonderen Voraussetzungen her behandelt. Diese
breit angelegte Skizze reicht von der antiken Philosophie über die
Hauptposition der Alten Kirche und des Mittelalters (vor allem
Augustins und der Scholastik) bis zur Renaissance, dem philosophischen
Rationalismus und schließlich den unmittelbaren Voraussetzungen
Kierkegaards: Kant, Schleiermacher und Hegel. Diese Informationen
wird der Leser zweifellos auch anderen Werken entnehmen
können, hier aber sind sie im Rahmen einer kurzen Übersieht
gesammelt. Von vermutlieh größcrem informativen Wert für nicht-
dänische Interessenten sind die Abschnitte des Buches über die theologische
und philosophische Situation in Dänemark zur Zeit Kierkegaards
(70-90). N. Th.s Hauptthese ist hier, daß der Hegelianismus in
Dänemark nur einen begrenzten Einfluß hatte, jedenfalls im Vergleich
zur Lage in Deutsehland. Zwar gab es einzelne, die es sich zur
Aufgabe machten, das hegelsche Denken in Dänemark einzuführen
und zu verarbeiten, so den Philosophen J. L. Heiberg und den Theologen
H. L. Martensen. Was den letzteren angeht, so geschah die Einführung
der Spekulation in die dänische Arena jedoch unter einem
grundlegenden Vorbehalt; dies lag nicht zuletzt an dem Einfluß des
katholischen Thcosophen F. v. Baader. Martensen erhob als Theologe
den Anspruch, mit seiner theistischen Theologie „über Hegel
hinausgekommen" zu sein. Abgesehen von einzelnen Theologen, die
jedoch nur marginale Bedeutung hatten, begegneten die führenden
Theologen einer spekulativ angeschauten Theologie mit Vorbehalten,
wenn nicht mit dezidierter Kritik. N. Th. behandelt vor allem den
Bischof Mynster und den Philosophen Sibbem,

In den folgenden Kapiteln werden dann auch die unmittelbaren
Reaktionen auf Kierkegaards „Nachschrill" sowie die Wirkungsgeschichte
dieses Buches in der Theologic dieses Jahrhunderts dargestellt
. N. Th. ist der Auflassung, daß die Einsamkeit Kierkegaards zu
dessen Lebzeiten einer verfehlten oder ganz, fehlenden Verarbeitung
seines Denkens in den letzten Generationen entspricht. Dieses
negative Fazit beinhaltet eine kritische Distanz zur Kicrkegaardfor-