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Ausgabe:

1985

Spalte:

908-909

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Kierkegaard's teachers 1985

Rezensent:

Kloeden, Wolfdietrich

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907

Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 12

908

bewohnt ist" (XLIV). Er ist nicht „skeptisch", sondern „nüchtern".
Seine Theologie bewegt sich innerhalb des Mysteriums. Er bietet eine
„ruhige theologische Darlegung scholastischer Theologie, allerdings
einer von ihren Subtilitäten gereinigten Scholastik, die auf die Schrift
und das Wesentliche im christlichen Glauben zurückgeführt wird"
(S. 157). Er ist weder Pelagianer noch Semi-Pelagianer. „Zwischen der
Skylla des Vertrauens in die Werke und derCharybdis des Fatalismus
öffnet er den Weg der Hoffnung" (S. 48). „Mit einer selten oder nie
erkannten Schärfe untersucht Erasmus in der Hyperaspistes die
Wahrheit [von Luthers Freiheitsauffassung]" (S. 225).

Luther wird viel kritischer beurteilt. Zwar scheinen dessen Absichten
lauter: er hat „nur ein Ziel: Christ sein und seine Brüder zu Christen
machen" (S. 4). Seine Botschaft von der „fides Christi", der
Rechtfertigung durch den Glauben, der Souveränität des Wortes wird
nicht abgelehnt. Doch schon auf den ersten Seiten werden die „Konsequenzen
" von Luthers Theologie aufgezeigt: Sie muß zur Verwerfung
des Papsttums und seines vermeintlichen Anspruchs über das Wort
Gottes führen. In der Kontroverse mit Erasmus hört Luther nicht auf,
ihn hart anzufahren, ihn falsch zu verstehen und Zitate aus dem
Zusammenhang zu reißen. „Hat Luther nicht unbewußt auf seinen
Gegner seine eigene Haltung übertragen: seinen Atheismus, seinen
Pelagianismus? . . . Indem er so gegen die Autorität des Erasmus
eifert, bewahrt er, wie er meint, die Autorität des Wortes?" (S. 127,
Fußnote 27). Schon in der Einleitung lesen wir das Urteil: „Luther sei
dem wahren Kreuz ausgewichen, das nur in der Kirche getragen werden
kann" (S. XLII).

Bei der ganzen Darstellung weiß der Leser leider nicht immer, ob er
es mit Gedankengängen von Erasmus zu tun hat, oder mit solchen von
Chantraine. Während viele Lutherforscher zu sehr Luthers Aussagen
übernehmen, identifiziert sich der Verfasser so mit Erasmus, daß er
ihn gegen Luthers Vorwürfe in Schutz nimmt, umgekehrt aber meistens
das Urteil des Erasmus über Luther stehen läßt, ja es noch verschärft
.

In einem zweiten „theologischen" Teil werden, im Anschluß an die
Kontroverse zwischen Luther und Erasmus, aber stärker systematisch
, vier Fragestellungen zur Sprache gebracht: Tradition und Hermeneutik
, das Christusmysterium, die Freiheit des Christen. Freiheit
und Hoffnung. Von Interesse, wenn auch nicht immer neu, ist in den
beiden Teilen die thcologiegeschichtliche Einordnung von Luther
und Erasmus und, besonders im zweiten Teil, die Kritik, die vorwiegend
an Luther, aber indirekt auch an dem von ihm geprägten Protestantismus
geübt wird. Dies geschieht aufgrund von katholischen Prämissen
, die der Verfasser, wenn auch unvollständig, bei Erasmus
findet und selbständig entfaltet. Im Bezug auf die Alte Kirche "„wollte
Erasmus dem freien Willen die Bedeutung wiedergeben, die ihm die
Väter Irenäus, Tertullian, Origenes, Hilarius und Augustin selber vor
der pelagianischen Sache beimaßen" (S. 258). Er will so paulinisch
wie möglich den antipelagianischen Augustin geschmeidig machen
(S. 269.448). Luther dagegen habe nur den antipelagianischen Augustin
gesehen. Im Bezug auf den freien Willen wird die Abhängigkeit
des Erasmus Origenes gegenüber unterstrichen (S. 134). An anderer
Stelle wird sie begrenzt. „Mehr als die origenistische Exegese, hat
Erasmus das Prinzip selbst der Allegorie verteidigt, das er als apostolisch
betrachtete" (S. 215). „Mehr als gewöhnlich angenommen wird"
(S. 269) oder „als er selbst es glauben ließ" (S. 448), steht Erasmus der
Scholastik nahe. „Mit Thomas von Aquin lehrt er, daß der Mensch
Ja sagt zur gratia gratumfaciens, mit der er auch mitwirkt, aufgrund
derselben Gnade. Anderseits kann der Wille des Menschen sich auf
die vorbereitende Gnade hinwenden" (S. 379). Doch, im Unterschied
zu Thomas, fehle ihm die Fähigkeit, „alles der Gnade und alles der
Freiheit in ihrer jeweiligen Sphäre einzuräumen" (S. 380), so daß er
den freien Willen bis aufs Äußerste begrenzt. Trotzdem steht Erasmus
viel näher bei Thomas als Luther. Der Verfasser verwirft die Thesen
von Pesch und behauptet eine radikale Uneinigkeit zwischen Thomas
und Luther im Verständnis des menschlichen Willens und der Wahlfreiheit
(S. XXIXff,410ff).

In diesem Teil seines Buches werden einige Schwächen im Denken
von Erasmus aufgezeigt. Bedauert wird z. B„ daß Erasmus sich nicht
schneller und deutlicher von der symbolischen Abendmahlsauffassung
des Oekolampad distanziert habe (S. 314), seine ekklesiolo-
gischen Konzeptionen neigen dem Spiritualismus zu (S. 328). seine
Theologie (insbesondere seine Christologic) war nicht genügend
ausgebaut (S. 357) und blieb zu sehr praktisch-pädagogisch ausgerichtet
(S. 379). ;,Es fehlte ihm ein gewisser Sinn für die Transzendenz
Gottes und seines Wohnens unter den Menschen, um die Theologie an
ihrer Quelle zu betrachten: als Wort Gottes über Gott" (S. 382). Seiner
„Philosophie! Christi" fehlt es an adäquaten Mitteln, die christliche
Freiheit auszusagen. „So war sie nicht im Stande, dem .Drama
des atheistischen Humanismus' vorzubeugen" (Ibid.).

Stärkere Kritik richtet sich jedoch gegen Luther, obwohl der Verfasser
sich bemüht, sein Anliegen aufzunehmen. Aufgrund der Unterscheidung
zwischen Dens absconditus und Dens revelatus (wobei leider
nur die eine bekannte Stelle von De servo arbitrio berücksichtigt
wird: WA 18,683-685) habe sich Gott nicht wirklich den Menschen
in seiner Offenbarung und im Opfer Christi hingegeben. Es besteht ein
Bruch zwischen dem ewigen Sohn und dem sich offenbarenden. Das
würde „mehr einer Logik der Macht als einer Logik des Opfers entsprechen
" (S. 354). Die Denkstruktur der Theologia enteis gefährde
die Wirklichkeit der Offenbarung durch ihre Betonung der Negativität
(S. 306). Die Herrlichkeit des menschgewordenen Sohnes werde nicht
sichtbar. Die Theologia enteis muß durch eine Theologia gloriae
ergänzt werden (S. 270), und auch durch die grundkatholische Kategorie
der Analogie (S. 418). Öfters taucht der Vorwurf auf, Luther
habe durch ein „zeitloses" Verständnis des „Wortes Gottes" (S. 106)
und durch seine hermeneutische Unterscheidung zwischen Gesetz
und Evangelium (S. 278) die Mittlerfunktion der Kirche unnötig gemacht
. Demgegenüber wäre das in Christus wirklich erschienene
Neue, die Geschichte und nicht nur die Geschichtlichkeit, der Leib
und nicht nur das Hauptsein Christi zur Sprache zu bringen. Gefragt
wird auch, ob das lutherische Schriftprinzip nicht dazu führen könnte,
daß der Text absolut gesetzt wird auf Kosten des Wortes Gottes und
ein absoluter Historismus die offenbarte Wahrheit zerstöre? (S. 285)
Andere Fragen betreffen das Verständnis von Sünde und Freiheit.

Wer an wachsende Ubereinstimmung oder offensichtliche Konvergenzen
zwischen katholischer und evangelischer Lutherforschung
glaubte, wird durch ein solches Buch (das manche Parallelen zu Beers
Lutherbuch enthält) ernüchtert. Der Weg ist dorniger als manche vermuteten
. Doch sollten auch diese Stimmen gehört und in das ökumenische
Gespräch einbezogen werden.

Strasbourg Marc Licnhard

Thulstrup, Niels and Marie M. [Ed.]: Kierkcgaard's Teachers. by

A. Anderson, S. Johansen, H. P. Rohde. J. H. Schjorring.
M. M. Thulstrup, N. Thulstrup, R. J. Widenmann. Kopenhagen:
Reitzcl 1982. 214 S. 8" = Bibliotheca Kierkegaardiana, 10. Kart,
dkr 125.-.

Innerhalb der Reihe „Bibliotheca Kierkegaardiana" einen Band
den Lehrern Kierkegaards zu widmen, ist ein mutiges Unterfangen. Es
geht um das Prinzip der Auswahl. Hierin haben die Herausgebereine
glückliche Hand bewiesen. Unstreitig ist, daß Kierkegaard nicht nur
durch die drei großen Denker und „Lehrer" des deutschen Idealismus
Fichte, Schölling, Hegel (vgl. den eigens dafür geschriebenen Band 4
der oben erwähnten Reihe!) beeinflußt worden ist, sondern durch
andere, wichtige dänische und deutsche Denker.

In dem zu besprechenden Band sind sechs dänische und vier deutsche
Persönlichkeiten aufgenommen worden, die Kierkegaards Gedankenwelt
entscheidend beeinflußt haben. Es wird folgerichtig begonnen
mit dem Schulrektor des jungen Sören Kierkegaard: Michael
Nielsen (1775-1846), dessen Charakterzüge von Steen Johansen prägnant
beschrieben werden (S. 9-14). Ihm folgt ein Lebensbild von
Bischof Jacob Peter Mynster (1775-1854), dem Konfirmator Sörcns