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Ausgabe:

1985

Spalte:

906-908

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Chantraine, Georges

Titel/Untertitel:

Erasme et Luther libre et serf arbitre 1985

Rezensent:

Lienhard, Marc

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905

Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 12

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an 94 Texten gezeigt wird, wie die protestantischen Kirchen der sich
irn Kriege befindlichen Länder zunehmend in einen nationalistisch
geprägten Schlagabtausch gerieten und die ökumenischen Beziehungen
- trotz aller Vermittlungen Schwedens (Nathan Söderblom) -
'etztlich erloschen. Bislang mußte man sich solche Zeugnisse in mühsamer
Kleinarbeit zusammensuchen, und es ist das besondere Verdienst
des Hg., daß er nicht nur das verstreute bekannte Material
jetzt sammelte, sondern zugleich darüber hinausging, indem er in den
Archiven von Berlin, London, Paris und Genf selbst nachsuchte und
so in der Lage war, ein erstmals abgerundetes Bild des Geschehens zu
geben. Kriterium der Auswahl dabei ist: „Der Schwerpunkt. . . liegt
auf den öffentlichen Stellungnahmen der offiziellen Kirchenführer in
Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Skandinavien. Erst in
zweiter Linie wurden die Korrespondenzen zwischen einflußreichen
Kirchenmännern und Theologen über die Landesgrenzen hinweg
berücksichtigt. An dritter Stelle stehen einige wenige Beispiele für die
zahlreichen religiösen Äußerungen zum Krieg. Hier war das Haupt-
kritcrium, daß Theologen im feindlichen Ausland sie kannten und
sich in ihren Stellungnahmen auf sie bezogen." (S. 5)

Vorangestellt ist der Dokumentation, zu der der Hg. z. T. eigene
Übersetzungen lieferte, eine Einleitung (S. 11-27). Hier wird kurz der
weg Europas in den Krieg umrissen und u. a. auch dargelegt, wie
angesichts der Dauer des Krieges und der eingesetzten, immer radikaler
werdenden Mittel Ansätze liberaleren Denkens vor allem seit 1917
schließlich völlig erstarben. Ja. diese Verhärtung dauerte, wie Dokumente
des Jahres 1919 lehren, bis über das Ende des Krieges hinaus
fort. Anzufragen bleibt, ob bei der Schilderung des Selbstverständnisses
der deutschen evangelischen Theologenschaft nicht zu undifferenziert
auf den ..deutschen Gott", wie ihn insbesondere E. M Arndt in
die Theologie eingeführt hatte, abgehoben wird (S. 180- Gottes
erwähltes Volk zu sein, war keineswegs ein einheitlicher Gedanke
deutscher Theologen; wer z. B. konservativ (also nicht liberal oder alldeutsch
) dachte, dem war der Erwählungsgedanke fremd und die gnädige
Zuwendung Gottes allenfalls möglich auf der Basis der versuchten
, aber unvollkommenen Rechtlichkeit menschlichen Handelns vor
Gott. Diese „offene" Predigt hat es während des ganzen Krieges in
Deutschland gegeben, und übrigens auch auf den Kriegsschauplätzen
.

Die Lektüre der Texte selbst ist dann ebenso unerfreulich wie atemberaubend
und beklemmend. Die - teilweise schon übel zu nennende
- Politisierung der Kirchen erhellt, wie schwer es gewesen sein
muß, seit den zwanziger Jahren wieder ökumenische Arbeit in Gang
zu bringen. Im übrigen läßt die Lektüre aber auch eine leise Diskrepanz
zum gewählten Titel der Publikation spüren. Natürlich ist dem
Hg. bewußt, daß sich „Kirche" nicht etwa deckt mit den offiziellen
Verlautbarungen von Kirchenmännern. Und wohl deshalb greift er
auch zu flankierenden Orientierungshilfen, wie einem sehr umfänglichen
Literaturverzeichnis (S. 266-271), und er streut Texte und
Abbildungen ein, die. so er selbst, der Kennzeichnung des „kirchlichen
Binnenklimas" dienen sollen. Das gelingt auch, aber eine
gewisse Ungewichtigkeit bleibt doch.

Gerade die umfänglichen Literaturangaben stellen auch vor Fragen. Nicht
fehlen sollte: Wilhelm Pressel, Die Kriegspredigt 1914-1918 in der evangelischen
Kirche Deutschlands, Göttingen 1967. Anschaulicher als andere genannte
Titel sind sodann: Ein feste Burg. Predigten und Reden aus eherner Zeit,
hg. von Bruno Doehring. 2 Bde., Berlin 1914/15; Der Weltkrieg. Illustrierte
Kriegschronik des Daheim. Bd. 1 u. 2, Bielefeld und Leipzig 1915 (gleich wichtig
durch Abbildungen und Texte); offenbar heute vergessen ist: Ferdinand
Avenarius. Das Bild als Verleumder. Beispiele und Bemerkungen zur Technik
der Völker-Verhetzung. München o. J. (1915?).

Zu weiteren Überlegungen verführt auch der Untertitel: „Ein Quellen
- und Arbeitsbuch". Man kann nur wünschen, daß der Band unter
dieser Zielstellung eine möglichst weite Verbreitung findet. Aber -
denkt man an einen mit der Sache weniger vertrauten Leser -,
vielleicht wäre dann nicht doch ein Stück Kommentierung angebracht
? Sonst könnte der Fall eintreten, daß seinerzeit tendenziöse

Aussagen, weil nie widersprochen, schließlich die Qualität historischer
Wahrheit erhalten. So wünschte man sich - um ein Beispiel für
andere zu nennen - eine versachlichende Notiz bei einem so heißen
Eisen wie „Reims". Oft geht es jedoch auch um ganz harmlose Informationen
, die man 70 Jahre später nicht einfach voraussetzen kann.
Die beigegebene, ausgewogene Zeittafel (S. 29-32) und das ausführliche
Personenregister mit Daten etc. (S. 273-283) vermögen diese
Sachvermittlung nicht ausreichend zu leisten.

Zum Personenregister: Paul Oskar Hokler, S. 67 bzw. 276, ist identisch mit
Paul Oskar Höcker. 1865-1944. ehedem ein bekannter Unterhaltungsschriftsteller
; unbefriedigend, zumal für einen Leipziger Leser, ist die Auflösung von
Dr. Löbel. Pastor der lutherischen Hauptkirche zu Leipzig, S. 157, 158, 159
(Pastor Zoebel), wobei das Register, S. 278. dann vollends Verwirrung stiftet.

Diese gemachten kritischen Anmerkungen möchten aber nicht verdecken
, daß man dem Hg. ganz ausdrücklich Dank schuldet: Er hat
nicht nur einen heiklen Stoff thematisch überzeugend präsentiert,
sondern er hat sich auch wiederum eines Stiefkindes der einschlägigen
Forschung, nämlich der Aussagekraft des Bildes, sehr einfühlsam
angenommen1, und vor allem, er hat bei seinen Ermittlungen den Weg
der vergleichenden Kirchengeschichte beschritten, eine Maßnahme,
die allein diesem Forschungsgebiet angemessen sein dürfte. Insofern
liegt tatsächlich ein „Arbeitsbuch" vor, das man immer wieder zur
Hand nehmen wird.

Leipzig Gerhard Graf

1 Vorher schon in: Krieg - Frieden - Abrüstung, Göttingen 1982; vgl. auch
ThLZ 109, 1984,452-454(Rez. K.Hammer).

Dogmen- und Theologiegeschichte

Chantraine, Georges, S. J.: Erasme et Luther, libre et serf arbitre.

Etüde historique et theologique. Paris: Ed. Lethielleux; Namur:
Presses Universitaires 1981. XLVI, 503 S. Beilage: 1 Tabelle 8" = Le
Sycomore, serie „horizon", 5.

Der Verfasser ist von der Frage bewegt, „wie theologisch (und also
rational) die Wahrheit Luthers ausdrücken, die Erasmus nicht aussagen
konnte, und umgekehrt, die Wahrheit des Erasmus, die Luther
nicht aussagen konnte". Er fragt weiter: „wie die beiden versöhnen
innerhalb der Wahrheit?," (S. XLV u. S. 272). Offensichtlich steht er
selbst jedoch viel näher bei Erasmus als bei Luther. Auf vielen Seiten
ist er bestrebt, die katholischen Grundanliegen des Humanisten, ja
überhaupt sein theologisches Denken herauszustellen gegenüber all
denen (Lortzschule u. a.), die bei Erasmus das „katholische" oder das
„theologische" vermissen. Darüber hinaus werden, besonders im
zweiten Teil, grundlegende theologische Fragen angeschnitten, die
aus katholischer Sicht an Luther zu richten sind.

Im ersten, „historischen Teil", wird zunächst aufgrund des Briefwechsels
die Entstehung der Kontroverse geschildert. Ein zweites
Kapitel behandelt Grundaspekte der Auseinandersetzung: das jeweilige
Verhältnis zu Augustin und Origenes, die hermeneutische Frage,
Antichrist und Tragödie als jeweilige Grundkategorien, mit denen
Luther und Erasmus die Geschichte beurteilen, die Frage des freien
und des unfreien Willens, Mythos und Logos. Die vier weiteren Kapitel
wenden sich dann den Texten zu: Vom freien Willen, Vom unfreien
Willen, die beiden Hyperaspistes, mit denen Erasmus auf
Luthers Schrift von 1525 noch einmal geantwortet hat.

Chantraine ist bestens vertraut sowohl mit den Texten von Luther
und Erasmus, als auch mit der Sekundärliteratur. Als wichtiger und
neuer Beitrag seines Buches muß die Darstellung und Würdigung der
beiden, im allgemeinen wenig beachteten Hyperaspistes des Erasmus
hervorgehoben werden. Welches Bild der Kontrahenten wird gezeichnet
? Erasmus ist der „friedfertige" Humanist, aber auch, mehr als im
allgemeinen gesehen wird, Theologe, dessen Denken „von der umfassenden
Gegenwart der lebendigen Tradition des Geistes in der Kirche