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Ausgabe:

1985

Spalte:

903-904

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Anderson, Margaret Lavinia

Titel/Untertitel:

Windthorst 1985

Rezensent:

Nowak, Kurt

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Seite 1

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903

Theologische Literaturzeitung I 10. Jahrgang 1985 Nr. 12

904

seits erweist die Rechtfertigung zwei Aspekte, den des Glaubens und
den der Selbstbeschuldigung. Damit bekommt die Sünde eine negative
Dignität von einem Ausmaß, das der bisherigen Christenheit
unbekannt geblieben ist. Auch für diese Deutung des Apostelbriefes
beruft sich Luther auf Augustin, von dem er ebenfalls den tragenden
Ausdruck ineurvatio, curvitas für die sündige Haltung des Menschen
vor Gott übernimmt. A. Nygrens Andeutungen folgend, belegt der Vf.
diese Übernahme (S. 170). Dabei ist er der Meinung, daß L. bei
Augustin andere Texte weggelegt hat, welche die Fähigkeit des Menschen
zu siegreichem Bekämpfen der Sünde betonten. Luthers Anthropologie
hätte die Sündhaftigkeit des Menschen eben dort verabsolutiert
, wo der Römerbrief nur an eine geschichtliche Kontingenz
der Sünde gedacht hätte. Quellort der Lutherischen Hamartiologie
wäre eben nicht einzig und allein Pauli Botschaft gewesen, sondern
persönliche Erfahrungen und Enttäuschungen des Klosterlebens. Das
käme besonders vom fünften Kapitel an zum Vorschein, wo L. den
eigentlichen Duktus des gedeuteten Textes verläßt.

Prag Amcdco Molnar

Kirchengeschichte: Neuzeit

Anderson, Margaret Lavinia: Windthorst. A Political Biography.
Oxford: Clarendon Press 1981. XII. 522 S., 1 Taf. gr. 8'.
Lw.£25.-.

Nach mehr als sieben Jahrzehnten liegt mit dem Buch von M. L.
Anderson (Associate Professor am Swarthmore College/Pennsylvania
) erstmals wieder eine große Windthorst-Biographic vor. Die etwas
problematische Quellenlage - Briefe und persönlicher Nachlaß
Windthorsts sind auf dessen eigenen Wunsch größtenteils vernichtet
worden - bietet für das geringe Interesse der deutschen Geschichtswissenschaft
an diesem großen Parlamentarier wohl nur eine Teilerklärung
. Der politische Katholizismus ist insgesamt lange Jahre ein Stiefkind
der Historiker gewesen. Die Autorin macht zu Recht auf Konstellationen
in der deutschen Geschichtsschreibung aufmerksam, die
z. T. bis in die Gegenwart nachwirken: Dominanz der „nationalliberalen
" und demgegenüber Herabsetzung der katholischen Tradition
.

Der noch von Klaus Epstein inspirierten Arbeit kamen neuere
Qucllenfunde und Editionen zugute, u. a. die Publikation von Windt-
horstbriefen durch H. Schröter (1954). die Editionen R. Li Iis, überdies
die Entdeckung von Windthorsts Korrespondenzen mit der Kurie und
P. A. Reuss (Theologisches Seminar Trier), der viele Fäden zwischen
der Zentrumspartei, dem deutschen Episkopat und der Kurie geknüpft
hat. Die Auswertung relevanter Nachlässe (Cardauns, Fechen-
bach, Hertling, Bachem) sowie der Aktenbestände des Politischen
Archivs des Auswärtigen Amtes (Reichstag. Reichstagswahlen, Centrumspartei
) hat die Studie auf eine insgesamt auch archivalisch tragfähige
Basis gestellt.

Das Buch bietet den historischen Stoff in vier großen, etwa gleich
langen Teilen dar: "Hanover" (Parti). "Prussia" (Part II). "The
Empire" (Part III). "Trouble with Rome"(Part IV). Damit ist die verlaufsgeschichtliche
Linie zugleich problcmgcschichtlich akzentuiert.
Der Teil "Hanover" schildert Windthorsts Leben und politisches
Wirken in den Jahren 1812-1866 (Jurastudium. Rechtsanwalt in
Osnabrück, hannoveranischer Justizminister, Mitglied der zweiten
Kammer und der Regierungspartei). Neben der Würdigung von
Windthorsts landespolitischer Position in den konstitutionellen Auseinandersetzungen
der Zeit hebt die Vfn. bereits in diesem Kapitel ein
für ihre Gesamtbewertung wichtiges Element heraus. Windthorst war
eine irenische Persönlichkeit, in der sich religiöse und politische Toleranz
zu einem Verantwortungsbewußtsein für das Gemeinwesen zusammenrügten
, das die eigene (katholische) Interessenlage durchaus
zu transzendieren verstand. Im Teil "Prussia" (1866-1877) liegt das

Schwergewicht auf der Darstellung der politischen Aktivitäten Windthorsts
zugunsten einer Belebung und Verstärkung des politisch-katholischen
Elements nach dem preußisch-österreichischen Krieg und der
Bildung des Norddeutschen Bundes durch Preußen. 1867 trat Windthorst
als Abgeordneter in den Reichstag des Norddeutschen Bundes
und in das preußische Abgeordnetenhaus ein. Er wurde zum Kontrahenten
Bismarcks in den Auseinandersetzungen im Zollparlament.
Nach dem Ausbruch des Kulturkampfes rückte Windthorst zum führenden
parlamentarischen Gegner Bismarcks auf. Wenngleich Windthorst
gegen das Infallibilitätsdogma opponierte (Berliner Laienkonzil
), forderte ihn die staatliche Strategie zur engagierten Solidarisierung
mit der katholischen Kirche heraus (Gründung des Zentrum). Im
Kapitel III "The Empire" (1877-1879) wird Windthorst als Mittelpunktgestalt
des politischen Katholizismus gewürdigt. Einerseits
betrieb er eine weiträumige katholische Sammlung und wirkte auf den
Abbau der durch den Kulturkampf geschaffenen Restriktionen (Maigesetze
) hin. Andererseits verstand er seine Position nicht in intercs-
senpolitischer Enge, vielmehr als Kampf gegen Staatsomnipotenz
überhaupt. In diesem wie auch im letzten Teil "Trouble with Romc"
wird Windthorsts Politik insofern von der kurialen Interessenlage
abgehoben, als sie nach dem Urteil der Vfn. der Verteidigung demokratischer
und parlamentarischer Prinzipien aller ultramontanen
Strategie gegenüber die Priorität gegeben habe (Konflikt Windthorst-
Leo XIII.). "Unlike the Pontifcx, Windthorst was never Willing to
sacrifice constitutional principles and the general welfare for the special
interests of Catholics; not because his allegiance to the Church
was any less, but because he saw that Catholicism could not florish in
a framework of tyranny, where the rights of others - be they embar-
rasing Jesuits, obstreperous Poles, or godless socialists - went
begging"(400).

Windthorst wird hier zu einem dezidierten Demokraten und Anwalt
der Menschenrechte, zu einem Gegner jenes Reichsfeinddenkens
und der ihm eigentümlichen Strategie des ..inneren Kampfkurses",
welches die politische Kultur in Deutschland bis tief in das 20. Jahrhundert
so unheilvoll belastet hat. Gefragt werden muß. ob die Vfn.
die Gegentypik Windthorst - Leo XIII. nicht etwas zu stark pointiert.
Was die Zentrumspartei angeht, so lautet das Urteil: in den liberalen
1870er Jahren sei das Zentrum kaum mehr gewesen als eine Wahrerin
von Eigeninteressen. In den illiberalen 1880er Jahren habe es funktional
(nicht also im substantiellen Sinn) die Rolle einer demokratischen
Kraft gespielt.

Das Buch endet mit einer Schilderung der Ehrungen, die Windthorst
noch kurz vor seinem Tode (15.3. 1891) durch den Reichstagspräsidenten
und die Abgeordneten erfahren hat, und mit Hinweisen
auf die Weiterwirkung seines politischen Vermächtnisses auch über
die Grenzen Deutschlands hinaus. Die Transparenz der Darstellung
bis hin zu den letzten großen Ereignissen in Windthorsts Leben (Bismarcks
Absetzung, Kooperation mit Caprivi) und die Weite des historisch
-politischen Urteilshorizonts machen das Buch zu einer fesselnden
Lektüre. Die Autorin hat den bei einer politischen Biographic
stets riskanten Balanceakt zwischen prosopographischer Darbietung
und historisch-politischer Geschichtsschreibung mit Bravour absolviert
. Ein genau gearbeiteter Anmerkungsteil, eine ausgewählte
Bibliographie und der spezifizierte Index der Personen und Sachen
verleihen dem Werk auch im technischen Standard Überzeugungskraft
.

Leipzig Kurt Nowak

Besier, Gerhard: Die protestantischen Kirchen Kuropas im Krsten
Weltkrieg. Ein Quellen- und Arbeitsbuch. Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht 1984.282 S. m. 33 Abb. 8". Kart. DM 38.-.

Weit über Fachkreise hinaus hat sich der Hg. bereits einen Namen
gemacht durch seine Untersuchungen im Umkreis des ersten Weltkrieges
. Vorliegender Band setzt diese Bemühungen insofern fort, als