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Ausgabe:

1985

Spalte:

858-860

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schulz, Michael T.

Titel/Untertitel:

Johann Christoph Blumhardt 1985

Rezensent:

Scharfenberg, Joachim

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Theologische Literalurzeilung I 10. Jahrgang 1985 Nr. I 1

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religiösen Entwicklung des einzelnen Subjekts ebenso wie die Reflexion
der Entwicklungs- und Veränderungsprozessc der religiös-christlichen
Lebenswelt-beide sind nicht voneinander zu trennen.

Im Blick ciiifden Subjektbegriff: Als kritischen Zielpunkt praktischtheologischen
Interesses bei Niebergall arbeitet Luther dessen „das
Subjekt ernstnehmendes Ideal der Persönlichkeit" heraus. Von hier
aus interpretiert er Niebergalls Plädoyer, die Gemeinde (als „Gemeinschaft
der Persönlichkeiten") zum Bezugspunkt der von der Praktischen
Theologie zu verhandelnden Tätigkeiten zu erheben als Absage
an das bloß abstrakte Subjekt „der" Kirche: „Im Interesse der
konkreten Handlungssubjekte wehrt Niebergall einer Verflüchtigung
der Subjekttrage in ekklesiologische AllgemeinbegrifTe" (S. 277).
Auch hier liegt die Anfrage an die heutige Praktische Theologie auf
der Hand: Wie kann sie die betroffenen Menschen als Subjekte in
ihrem theoretischen Ansatz über lediglich programmatische Absichtserklärungen
hinaus kategorial ernstnehmen? Welches Verständnis
von Kirche müßte sich daraus ergeben?

Die eigentliche Pointe dieser Arbeit Luthers liegt für mich neben
dem überzeugend gelungenen methodischen Ansatz darin, ein konkretes
Problem gegenwärtiger Praktischer Theologie in produktiver
interpretierender Auseinandersetzung mit einem historischen Ansatz
2" erörtern, ohne der Gefahr zu erliegen, den historischen Ansatz mit
aktuellen Problemstellungen zu überfremden, die nicht dessen eigene
sind, um damit eigene konzeptionelle Thesen historisch zu legitimieren
. Und daneben hat sich der Vf. den Verdienst einer-wohl ersten -
eingehenderen Untersuchung neuerer praktisch-theologischer Entwürfe
auf die Berücksichtigung(smöglichkeiten) der Erwachsenenbildung
als praktisch-theologisches Problcmfeld erworben.

In dem abschließenden Abschnitt „Das Subjekt der Praktischen
Theologie" (S. 279-296) gelingt es Luther, mit wenigen Strichen
Umrisse eines Verständnisses von Praktischer Theologie zu zeichnen,
das weiterfuhrende Perspektiven enthält. Anknüpfend an Niebergalls
Urteil: „Man hat freilich oft den Eindruck, als wenn die Kirche nur
dazu da wäre, um als Ausgangspunkt für die Ableitung der Amter zu
dienen: die Selbstbetätigung wird gepriesen, aber im wesentlichen nur
wieder in der Tätigkeit des Amtes-selber gesucht", was sich auf
Achelis Definition bezieht: „Die Praktische Theologie ist nichts
anderes als die Lehre von der Selbstbetätigung der Kirche zu ihrer
Selbsterbauung" kritisiert Luther die eigentümliche Subjektlosigkeit
der Praktischen Theologie: „Die Kirche als .aktuoses Subjekt' wurde
zum Subjekt ohne Subjekte. Die Hypostasierung der begrifflichen
Größe Kirche zum KollektivbcgrifT dispensierte von der Beschäftigung
mit den tatsächlichen, beteiligten und betroffenen Subjekten der
Praxis" (S. 280).

Gegen solchen „kirchentheorctischcn Objektivismus", sei er aus
einem dogmatischen Hegriff vom Wesen der Kirche gespeist oder von
einer allein an der Bestandserhaltung interessierten funktionalen Kirchentheorie
her motiviert, fordert Luther „die Klärung dessen, was
jeweils inhaltlich unter dem Auftrag und dem Wesen der Kirche zu
verstehen ist. nicht von den betroffenen Subjekten (zu) abstrahieren,
ihnen als bereits vorentschiedene Formel vor(zu)setzen, sondern in
den Verständigungsprozeß aller Beteiligten ein(zu)holen" (S. 284).
Ein Plädoyer also für einen veränderten Blick, für eine empirische
Perspektive auf Kirche, indem gefragt wird, „wie Menschen mit der
christlichen Religion umgehen, wie sie die christliche Religion leben,
wie Religion und Glaube ihr Denken und Handeln, ihr Deuten und
Wollen bestimmen und prägen", eine empirische Perspektive, bei der
die konkrete Wirksamkeit der christlichen Religion und der Kirche in
den Blick gerät.

Diese Reflexion aufdas Praktisch-Wcrden der christlichen Religion
in konkreten Handlungssubjckten vermißt Luther auch dort, wo
Praktische Theologie als Handlungswissenschaft konzipiert wird (hier
kommt häufig lediglich der Pfarrer als Subjekt in den Blick, und dies
reduziert aufseine Rolle als Vollzugsorgan kirchlicher Aufgaben und
Funktionen). Dies hat zu tun mit dem Verständnis von Handlung.
Luther möchte Handlung nicht als Herstellung bestimmter Leistungen
und Wirkungen verstanden wissen, sondern, in einem weiteren
Kontext, als Praxis. Handeln nicht als monologischer Leistungsakt.
sondern als kommunikativer, intersubjektiver Verständigungsprozeß.
Kirchliche Praxis wäre dann die gemeinsame Interaktion (als inhaltlich
gerichteter Prozeß) verschieden beteiligter und betroffener Subjekte
und Gruppen in der Kirche. ...Praxis' ist das Leben, das sich im
Bewußtsein und in der kritischen Spannung zur durch Religion vermittelten
Idee des .guten' oder .gelungenen' oder .versöhnten' Lebens
vollzieht."

Luther formuliert in diesem Zusammenhang ein grundlegendes Bedenken
gegen die Übernahme des HandlungsbegrifTs als einzige
Oricnticrungskategorie der Praktischen Theologie: religiöse Praxis
wird dabei schnell auf die Ebene aktiver Tätigkeit eingeengt. Praktische
Theologie hat es aber nicht nur mit Handlungen religiöser Subjekte
zu tun. sondern die Dimensionen des „Erlebens" und „Erlei-
dens" sind ebenso religiös relevant. Praktische Theologie darf nicht
vergessen, daß es in religiöser Praxis um beides geht, um das Handeln
von Subjekten sowie um das Deuten, mit dem Subjekte ihrem Leben,
d. h. ihrem Handeln und ihrem Erleben und Erleiden, einen Sinn
geben. Damit ist Luther dicht bei Niebergall, der Motiv zum Handeln
und Quietiv der Sinngebung als die beiden zentralen Aspekte der
Praktischen Theologie herausgestellt hat. Nur wenn eine handlungstheoretisch
fundierte Praktische Theologie diese subjektiv vermittelte
Sinndimension berücksichtigt, ist sie vor einer technokratischen Versiongefeit
.

Summa mmmarum: Den Prozessen des Praktisch-Werdens der
christlichen Religion nachzuspüren und ihre produktive Kraft nachvollziehen
zu versuchen und fragen, wie Religion in Lebenssituationen
(des Handelns und Erlebens) wirksam wird, würde das „Praktische
" der Praktischen Theologie ausmachen. Der Praktischen
Theologie ginge es um das Wirksam- H erden der (christlichen) Religion
im praktischen Lebensvollzug der Menschen. Wirksam wird
Religion, auch die christliche, immer nur in Subjekten und durch
Subjekte. H. Luther plädiert deshalb dafür, die Praktische Theologie
grundbegrifflich als Subjekttheorie anzulegen:

„Praktische Theologie als Anwalt der Subjekte - und das heißt vor allem der
sog. Laien - nimmt deren eigenständige religiöse Kompetenz ernst. Sie fordert
und fördert sie zugleich mit ihrem Erkenntnisintercsse. Sie bricht mit der konventionellen
Struktur, derzufölge Praktische Theologie sich mit der Vermittlung
einer von Experten ausgearbeiteten Theologie und Religion an Laien
beschäftigt. Es geht ihr nicht länger darum, wie Glauben, Religion. Theologie
.unter's Volk' gebracht wird, sondern wie die Subjekte in Selbständigkeit Religion
leben bzw. leben können. Sie bringt die Laien thematisch und methodisch
zur Sprache, in der kritischen Absicht, daß sie aus der religiösen Rezeptionshaltung
und dem Schweigen befreit werden und selber zum Sprechen kommen."
(S. 293)

Dazu kommt:

„Kritisch ist diese Perspektive insofern, als Praktische Theologie nicht bloß
bei den empirischen Subjekten der religiösen Lebenswelt ansetzt und bei ihnen
stehen bleibt, sondern immer zugleich davon ausgeht, daß die einzelnen Menschen
angesichts der unversöhnten Verhältnisse Subjekte noch gar nicht sind,
sondern es immer erst werden können. Die Identität der Subjekte ist also immer
eine noch ausstehende." (S. 293/94)

Damit entfaltet H. Luther das weiter, was in G. Ottos - ursprünglich
von B. Päschke geprägter - eher aphoristischer Formel von der
Praktischen Theologie als „kritische Theorie religiös vermittelter Praxis
in der Gesellschaft" aufscheint. H. Luther hat diese Arbeit Gert
Otto gewidmet.

Hude Jürgen Lott

Schulz, Michael T.: Johann Christoph Blumhardt. Leben-Theologie
- Verkündigung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1984.
444 S.gr. 8" = Arbeiten zur Pastoraltheologie, 19. Kart. DM 34,-.

Jede Auseinandersetzung mit Johann Christoph Blumhaidt
(1805-1880) muß wohl oder übel eine Vorentscheidung fällen: Soll
sie die Einzigartigkeit seiner für das 19. Jahrhundert sicher ganz und