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Ausgabe:

1985

Spalte:

853-855

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Keane, Philip S.

Titel/Untertitel:

Christian ethics and imagination 1985

Rezensent:

Kreß, Hartmut

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Theologische Literaturzeitung 1 10. Jahrgang 1985 Nr. 11

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daran, daß die biblischen Texte uns nicht die den Glauben begründenden
Fakten vermitteln, sondern eine „relecture" der Fakten aus der
Situation der glaubenden Gemeinde heraus. Solche „relecture" sei
nicht willkürlich, sondern entspreche der Entdeckung und Belebung
einer in den Texten vorhandenen „Sinnreserve", nicht aber ihrer Veränderung
. Diese Sinnreserve sei bis heute nicht erschöpft! Raul
Vidales betont, daß sich im Herabsteigen (Kenosis) zum leidenden
Volk neue Formen der Rede von Christus heute ergeben. Die Frage
nach der Rede von Christus heute impliziere, daß wir Christus neu
annehmen und seine Botschaft aktualisieren, so daß Glaube, Theologie
, Zeugnis. Kerygma und prophetisches Zeugnis miteinander verbundene
Phasen einer globalen historischen und dialektischen Aufgabe
seien, die nur durch Identifizierung mit dem leidenden Volk als
Ausdruck der Treue zu Christus und seinem Wort zu lösen sei.

Die verschiedenen Beiträge verdeutlichen die Aufgabe, den Christus
der Evangelien zusammen mit der prophetischen Tradition und
ihrem Potential an umsetzender Menschlichkeit wiederzucnldecken,
und zwar durch kritische ..relecture" und aktives Engagement in der
historischen Praxis der Unterdrückten, die es ihnen erlaubt, Christus
als den zu erkennen, der Geschichte transformiert, als den ihnen vorenthaltenen
Befreier.

Hamburg Hans-Jürgen Prien

Systematische Theologie: Ethik

Keane. Philip S.: Christian Kthics and Imagination. A Theological
Inquiry. New York - Ramsey: Paulist Press 1984. III, 212 S. 8°.
Kart. $8.95.

Die Studie des am St. Mary's Scminary, Baltimore/USA. lehrenden
Moraltheologen hebt die Bedeutung nicht-diskursiver Faktoren in der
Ethik hervor und betont den Stellenwert der „Imagination", also der
Phantasie und der Anschaulichkeit Tür die moralische Urteilsbildung.
Es erfolgt mithin eine Abgrenzung gegen pragmatische sowie einseitig
kognitiv-rationale Denkmodcllc der Ethik. In kritischer Zuspitzung
wird vor allem die deduktive Prinzipienethik traditioneller Moraltheologie
diskutiert, da diese in der Gefahr steht, in ihrem Gehalt
zunehmend unverständlich zu werden und faktisch zu legalistischcn
oder-gerade umgekehrt-zu antinomistischen Handlungsweisen hinzulegen
(S. 8 ff). Der Autor verdeutlicht seine Aufgeschlossenheit für
neue Entwicklungen, indem er das in der Feministischen Theologie
(crbunden mit der Überwindung stereotyper Moralvorstellungen)
aufbrechende kreative Element als wesentlichen Hintergrund für sein
eigenes Denken benennt (S. 47). Er entfaltet die ethische Bedeutung
der Imagination - es ist dies freilich ein recht schillernder Leitbegriff!-
unter mehreren Gesichtspunkten. Zunächst erfolgt ein Rückblick auf
die Philosophie- und Theologiegeschichte und speziell ein Rückgriff
auf Aristoteles. Thomas v. Aquin und J. H. Newman: Anders als im
platonischen Leib-Seele-Dualismus sei bei diesen Denkern eine stärker
erfahrungsbezogene Ethik vorzufinden (S. 21 ff). Mit seinem Verweis
auf Thomas und der gleichzeitigen Ablehnung des späteren rationalen
und deduktiven Thomismus (S. 26) verfährt Keane ähnlich wie
die Vertreter der autonomen Moral in der deutschsprachigen katholischen
Moraltheologie; denn die historische Begründung autonomer
Moral erfolgt gleichfalls unter Berufung auf Thomas, jedoch mit Kritik
am späteren objektivistischen Thomismus. In einem weiteren
Kapitel wird die Ethik der Imagination sodann in gegenwärtige philosophische
und theologische Strömungen eingeordnet, wobei besonders
auf H.-G. Gadamer und auf die metaphorische und imaginative
Hermeneutik Paul Ricoeurs aufmerksam gemacht wird, welche zu
einem vertieften Wirklichkeitsverständnis hinführe (S. 47ff). Im Anschluß
an seine eigene Entfaltung imaginativer Ethik (S. 79ff) erörtert
Keane schließlich Konkretionen aus den Bereichen der Sexualethik,
medizinischen Ethik und Sozialethik (S. 11Off) und legt-anknüpfend
an das Stufenmodell J. Piagcts und L. Kohlbcrgs - Erwägungen zu

einer an Anschaulichkeit und praktischer Erfahrung orientierten
Moralerziehung vor (S. 147ff). Der Autor vertritt mithin das Anliegen
einer ganzheitlichen, auf Charakter- und Persönlichkeitsbildung
abzielenden, Kreativität ermöglichenden Ethik. Mit ihrer Ausgangsfrage
nach dem konkreten handelnden Menschen als dem ethischen
Subjekt erinnert die Studie an das Grundverständnis von Ethik als
Theorie menschlicher Lebensführung (T. Rendtorfl). Indem die
moralische Imagination-als Intuition, Emotion und konkreter Erfahrungsvorgang
verstanden - ethische Prinzipien nicht ersetzen, sondern
sie vertiefen und neubeleben soll (S. 86-95). ist zugleich eine
sinnvolle Abgrenzung gegen eine normenfreie, ausschließlich an
Handlungssituationen ausgerichtete Situationsethik („Moral ohne
Normen"; vgl. Joseph Fletcher) impliziert. Die Imagination des
ethischen Subjekts soll die jeweilige Wirklichkeitserfährung mit dem
tradierten ethischen Wissen und ethischen Prinzipien - auch des
Naturrechts - in Einklang bringen; abstrakte Prinzipien bedürfen der
Vertiefung und Erweiterung, die durch praktisches Handeln vermittelt
wird. Ferner geht es in der Imagination um die Verknüpfung ethischer
Tradition - repräsentiert vor allem durch (biblische) Geschichten
, Symbolik und Metaphorik- mit Zukupftsaufgaben (S. 95ff). Die
Zukunftsverantwortung der Ethik wird von Keane unter Berufung auf
das II. Vatikanum und auf katholische Theologen, z. B. Teilhard de
Chardin, deutlich herausgestellt. Für die in dieser Hinsicht recht
zurückhaltende evangelische Ethik ist bemerkenswert, daß neben dem
Verhältnis von Ethik und Spiritualität. Ethik und Liturgie auch die
Affinität zwischen Ethik und Ästhetik angesprochen wird (S. 15, 27ff
u. ö.). Hierbei beruft sich Keane auf B. Häring. der in seiner ethischen
Konzeption der Ästhetik ein eigenes Kapitel widmet, die Verbindung
beider Bereiche wesentlich schöpfungstheologisch begründet und die
Bedeutung der Ästhetik für die handelnde Person in ihrer persönlichkeitsbildenden
und zu Gestaltungskraft und schöpferischem Leben
einladenden Dimension sieht: „Eine Moral unter dem Gesetz der
Gnade ist ihrer Natur nach dem Schönen und der schöpferischen Gestaltung
zugewandt" (B. Häring. Frei in Christus Bd. II, 1980. S. III).
Demgegenüber verzichtet Keane zwar auf eine nähere theologische
Reflexion zur Beziehung zwischen Ku/ist und Ethik;jedoch in phänomenologischer
Hinsicht hebt er hervor, daß künstlerisches Welterfassen
mit seinen intuitiven, emotionalen und kontemplativ-erfahrungs-
bezogenen Komponenten (S. 33) eine Alternative zur rationaldeduktiven
Wirklichkeitsdeutung darstellt und daher ethischer Weltsichtals
VorbiId zu dienen vermag.

Freilich: Die vom Autor angeführten konkreten Beispiele imaginativer
Ethik machen zugleich die Grenze seines Ansatzes sichtbar. Es
wird, im einzelnen sehr knapp, eine eher zu große Fülle von Themen
berührt,z. T. mit konservativer Tendenz (im Bereich der Sexualethik)
oder auch mit kritischen Akzenten (etwa im Blick auf die Weltwirtschaftsordnung
). Jedoch bleibt z. B. bei der von Keane angesprochenen
Frage des Umgangs mit Sterbenden undeutlich, wie durch die
„Imagination" von Leiden und Auferstehung Jesu konkret die
erstrebten „angemesseneren Entscheidungen in der Sorge für die Sterbenden
" (S. 113) erzielt und die drängenden Probleme der Apparatemedizin
bewältigt werden sollen. In seiner Ablehnung der Todesstrafe
hebt Keane auf die Imagination der Hoffnungslosigkeit ab: "direct
killing suggests hopelessness"; der Verurteilte wird für Keane
stattdessen zum Symbol und zum "text". der im Blick auf eine
humane Zukunft zu lesen und zu interpretieren ist (S. 133). Oder - um
ein weiteres Beispiel zu nennen - als Argument gegen die nukleare
Kriegsführung wird Jes2,4 als eindrucksvolle religiöse Imagination
des Friedens angeführt (S. 145). Die Berechtigung dieser ethischen
Intentionen - humaner Umgang mit Sterbenden; Ablehnung von
Todesstrafe und nuklearer Kriegstechnik - kann nicht deutlich genug
unterstrichen werden. Die z. T. allerdings recht assoziativ verfahrende
Ethik der Imagination trägt zur Anschaulichkeit bei und kann emotionale
und motivationale Betroffenheit erzeugen. Bisweilen treten prophetische
Züge der imaginativen Ethik zutage-z. B. dadurch, daß der
Autor die Schwicrigkeitcn'dcr Imagination mit dem Ausbleiben pro-