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Ausgabe:

1985

Spalte:

851-853

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Titel/Untertitel:

Faces of Jesus 1985

Rezensent:

Prien, Hans-Jürgen

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Theologische Literaturzeitung 1 10. Jahrgang 1985 Nr. 11

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doch meine ich, daß es Trillhaas gelungen ist, in wenigen Worten
etwas von der Faszination einzufangen, mit der Troeltsch unserer
eigenen Zeit gegenübertritt, mit der die von ihm gestellten Fragen
zu unseren eigenen werden. Niemand, der sich wirklich ernsthaft
um eine Verständigung des christlichen Glaubens mit dem Geist
der Neuzeit bemüht, wird seine Erscheinung vergessen.

München Reinhard Lcuzc

Systematische Theologie:
Dogmatik

Miguez Bonino, Jose [Ed.]: Faccs of Jesus. Latin American Christo-
logies. Transl. from the Spanish by R. R. Barr. Maryknoll, N. Y.:
Orbis Books 1984. VI, 186 S. gr. 8 Kart. $ 10.95.

In der gegenwärtigen Kontroverse um die Theologie der Befreiung
spielt die Christologie eine herausragende Rolle. Das wird auch in der
Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über einige
Aspekte der „Theologie der Befreiung" v. 6.8.84 deutlich, wo
behauptet wird, „gewisse Formen der Theologie der Befreiung"
ersetzten das fleischgewordene Wort durch eine Jesusgestalt, die die
Forderungen des Kampfes der Unterdrückten symbolisch zusammenfasse
, wodurch dem Tod Jesu eine ausschließlich politische Deutung
gegeben und die ganze Heilsökonomie der Erlösung geleugnet
werde.

Der hier zu besprechende, von dem argentinischen methodistischen
Systematiker Miguez Bonino herausgegebene, nun in englisch vorliegende
Band ermöglicht es einem breiteren Kreis hiesiger Theologen
erstmals, den Wahrheitsgehalt dieser massiven Vorwürfe an den Quellen
einer repräsentativen Auswahl von Befreiungstheologen zu verifizieren
. Bisher war man im wesentlichen auf Claus Bussmanns Untersuchung
Befreiung durch Jesus'.' Die Christologie der lateinamerikanischen
Befreiungstheologie. München: Kösel-Verlag 1980. 181 S.
angewiesen, in der diese Beiträge noch nicht ausgewertet worden
sind.

Das Thema wird in diesem Band unter dreierlei Aspekten behandelt
: 1. als normative Frage (Wie muß Jesus richtig verstanden werden
?): 2. als analytische Frage (Wie wird Jesus de facto heute in
Lateinamerika verstanden?); 3. als theologisch-konfessionelle Frage
(Wie wirkt die Kraft Christi heute in Lateinamerika?). Diese Fragestellungen
werden in verschiedenem Maße in den Beiträgen berücksichtigt
, die unter den folgenden vier Obertiteln abgefaßt worden sind:

Teil I: Die ('hristusbilder Lateinamerikas: Der Franziskaner Leonardo
Boff, der die erste lateinamerikanische Christologie vorgelegt
hat (Jesus Cristo Libertador. Petröpolis: Ed. Vozes Ltda. 1972.
285 S.), versteht sich als Vertreter eines liberalen brasilianischen Christentums
, das in der Zeit der Unabhängigkeitskämpfe vom freimaurisch
-nationalistischen niederen Klerus in Auseinandersetzung
mit der Hierarchie dargestellt wurde, das aber durch das II. Vatikanische
Konzil und die Konferenz von Medelling (1968), die die Möglichkeit
der Erfahrung eines liberalen, revolutionären Christentums
eröffneten, zum gemeinsamen Ausdrucke einer neuen christlichen
Existenz wurde. Der Reichtum der Christologie erschöpfe sich nicht
in dogmatischen Formeln. ,,Es kommt zu einer Parusie Christi in
jeder Generation", d. h. die normative Frage lasse sich nicht akademisch
beantworten. Vielmehr erfahre jede Generation im Nachvollzug
seines Lebens existentiell neu, warum Jesus abgelehnt, gefoltert
und gekreuzigt wurde. „Bis zu seinem endgültigen Kommen können
wir nur seine Manifestation als Herr der Geschichte erfahren. Das
bedeutet Offenbarung heute." Boff stimmt Carlos Mesters darin zu,
daß die Kirche nicht vorgeben dürfe, die alleinige Herrin und Verteidigerin
der von Christus vertretenen Werte zu sein. Christus stehe an
der Seite der Männer und Frauen, die die Freiheit suchen und sich der
Unterdrückung bewußt werden, in der sie leben. Und er ermutige sie,
ein befreiendes Projekt zu finden, das ihnen erlaube, ihr Leben selbst

in die Hand zu nehmen. Die Grundaussage der Christologie Boffs seit
seinem erwähnten Buch ist, daß die Gottheit Jesu in seiner Menschheit
gesucht werden müsse. Denn gerade in der Menschheit Jesu
erfolge die Selbstoffenbarung Gottes. Nur Gott konnte so menschlich
sein wie Jesus!

Joäo Dias de Araüjo untersucht die Christusbilder in der brasilianischen
Volksfrönimigkeit, die vom Leiden Christi geprägt sind, unter
den Stichworten: ein toter Christus, ein ferner Christus, ein machtloser
Christus, ein Christus, der nicht achtungsgebietend ist, ein doke-
tischer oder nicht inkarnierter Christus. Die Christusbilder der protestantischen
Predigt (Saül Trinidad/Juan Stam) tendieren dazu, Christus
zu einem deus ex machina zu machen, zu einem magischen Universalheilmittel
nach dem Motto: „Nimm Christus an und beende
deine Probleme!"

Teil II: Die Bedeutung der lateinamerikanischen Christusbildet'
Christus wurde nach den Worten Unamunos in Spanien zum Gefangenen
gemacht, d. h. daß der spanische Messias von der Monarchie
vereinnahmt und zur Legitimation ihrer Herrschaft mißbraucht
wurde (Trinidad). C hristus wurde in der Kolonialzeit als der himmlische
Ferdinand von Aragon (Christus als Pantokrator) und Maria als
die ewige Isabella von Kastilien dargestellt (Georges Casalis)! Aber die
unterworfenen und unterdrückten Indios internalisierten das Bild des
leidenden, hilflosen Christus. Entsprechend den Seligpreisungen der
Bergpredigt erschien ihnen ihr trauriges Los als ebenso Gott gewollt
wie die Herrschaft der Spanier. Pedro Negre Rigol unterstreicht deshalb
, daß die Proklamation Christi zum Befreier zu den Christusbildern
des Volkes in Widerspruch stehe, „die Gefangene des katholischen
Kolonialismus oder des protestantischen Neokolonialismus
sind". Casalis weist daraufhin, daß es hohe Zeit sei, die Christologie
des leidenden Knechts zu entwickeln, der leide, weil er kämpfe. Das
bedeute den Bruch mit allen Konkubinaten des Konstantinischen
Zeitalters. „Die ,Diesseitigkeit des Christentums', von der Bonhoef-
fer" spreche, sei „ein persönliches und gemeinschaftliches Abenteuer
gelebten Glaubens in Solidarität mit den Armen".

Teil III: Christus und Politik: Die hiermit zusammenhängenden
brennenden Fragen, die auch schon in den obigen Beiträgen anklangen
, werden von Ignacio Ellacuria, Segunda Galilea und J. Severino
Croatto behandelt. Sie sind sich der Unmöglichkeit bewußt, hinter die
bereits im NT vorhandenen verschiedenen Christologien zurück zum
historischen Jesus vorzudringen. Nun aber zeige die lateinamerikanische
Wirklichkeit, daß es Mittelklasscn-Christusbilder und revolutionäre
Christusbilder deshalb gäbe, weil es Mittelklassen-Christen
und revolutionäre Christen gibt. Auf Grund dieser soziologischen
Einsicht kommen sie zu dem Schluß, daß auch im NT die unterschiedlichen
, zum Teil sogar einander widersprechenden Christologien
unterschiedlichen Formen von Wirklichkeitsverständnis entsprechen
müssen, die durch die jeweilige gesellschaftliche Praxis und
Ideologie bestimmt sind. Miguez schlägt als Arbeitshypothese für die
weitere Forschung vor, den Rahmen des mexikanischen Soziologen
Gilberto DIaz zu verwenden, der in Mexiko drei gesellschaftlich
bedingte Christologien ermittelt hat: eine magische im ländlichen
Milieu, eine subjektivistische in der städtischen Mittelschicht und
eine historisch-politische in den für gesellschaftlichen Wandel eintretenden
Bewegungen.

Teil IV: Theologische und pustorale Überlegungen. Nun vertritt
allerdings keiner der Autoren die Meinung, daß Christus nur eine Projektion
bestimmter gesellschaftlicher Bedingungen sei. die ideologisch
reflektiert werden und nur zur Rechtfertigung einer bestehenden oder
angestrebten historischen Praxis dienen und in Form von Eis-Egese in
die biblischen Texte hineingelescn werden. Hugo Assmann und Negre
bemühen sich, die dialektische Beziehung zwischen Kontext und Bewußtsein
aufzuzeigen, um den circulus vitiosus zwischen Legitimierung
und Determinierung zu durchbrechen. Lamberto Schuurman
vertritt die These, daß ein neues historisches Situationsbewußtsein als
hermeneutischer Schlüssel zur Wiederentdeckung unbeachteter biblischer
Themen führe. Croatto versteht Eis-Egese als eine Erinnerung