Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1985

Spalte:

847-851

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Protestantismus und Neuzeit 1985

Rezensent:

Leuze, Reinhard

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

847

Theologische Literaturzcitung 1 10. Jahrgang 1985 Nr. 1 I

848

„Glaubenslehre" auf eine ganzheitliche Skizzierung von Troeltschs
Theologie zielt, etwas zurück.

Zumal Troeltschs Vorlesungen und Vorlcsungsaufrisse noch nicht
in einer kritischen Werkausgabe vorliegen, wird der unveränderte
Neudruck der „Glaubenslehre" - unverändert bis hin zu dem
„fatalen Druckfehler" auf S. 228: neologisch statt noologisch; (vgl.
Troeltsch-Bibliographie S. 2590 - als eine mit Freude und Gewinn
zu benutzende Publikation anzusehen sein, für die dem Verlag und
dem Autor der Einleitung Dank abzustatten keineswegs eine bloße
Formalität ist.

Leipzig Kurt Nowak

Renz. Horst, u. Friedrich Wilhelm Graf [Hrsg.]: Troeltseh-Studien.
Bd. 3: Protestantismus und Neuzeit. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
Gerd Mohn 1984.352 S.8°. Kart. DM 64,-.

Mit dem Titel .Protestantismus und Neuzeit" wird das Problem-
feld umrissen, dem sich der dritte Band der von Horst Renz und
Friedrieh Wilhelm Graf herausgegebenen Troeltseh-Studien zuwendet
. Es geht zunächst um Ernst Troeltsch als Geschichtsphilosophen
, vor allem um seine berühmt, ja zum Teil berüchtigt gewordene
Einordnung der Reformationszeit in die Geistesgeschichte. Ein
weiterer größerer Abschnitt beläßt sich mit den theologischen Implikationen
dieser spezifischen Sicht der vom Mittelalter über die Reformation
bis zur Neuzeit verlaufenden Entwicklung. Aber Troeltsch
soll nicht nur als das die Geschichte von außen betrachtende Subjekt
in den Blick kommen, er soll uns auch als handelndes Subjekt seiner
eigenen Zeit vorgestellt werden. Deshalb bietet der Band aufschlußreiche
Hinweise über sein politisches Engagement im Ersten Weltkrieg
, über seine politische Einflußnahme in den Anfängen der Weimarer
Republik und schließlich - ganz konkret - über seine Tätigkeit
als parlamentarischer Unterstaatssekretär im preußischen Ministerium
für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Auch die weiteren
Beiträge dieses Bandes lassen sich unter das Thema .Geschichte' subsumieren
. Hier geht es um die Wirkungsgeschichte von Troeltsch
selbst, vor allem um den Widerhall, den er im europäischen Ausland
gefunden hat.

Wie setzen wir uns heute mit der Geschichtsdeutung Troeltschs
auseinander? Läßt sieh seine Meinung, die sowohl die Reformation
wie den ganzen Altprotestanlismus dem Mittelalter zuordnet und
demgemäß die Epochenseheide zwischen Mittelalter und Neuzeit
auf das späte 17. Jahrhundert verlegt, aufrecht erhalten? In seinem
Beitrag .Reformation und Neuzeit" (21-34) hält Wolfhart Pannenberg
diese Zuordnung nach wie vor für gerechtfertigt. Luther sei
nicht zu verstehen ohne das mittelalterliche „Syndrom von Erbsün-
dcnlehre und Bußmentalität" (29). und gerade daran zeige sich die
Diskrepanz zur neuzeitlichen Theologie, die sich diese Voraussetzungen
so nicht mehr aneignen könne, auch wenn sie sich in einem
betonten Sinn als lutherisch bezeichne. Allerdings folgt aus dieser
Zustimmung für Pannenberg keine unkritische Übernahme der Thesen
Troeltschs. Troeltsch habe nämlich „das Gewicht der Tatsache
nicht ausreichend gewürdigt, daß es in erster Linie der unentschiedene
Ausgang der Konfessionskriege gewesen ist, der die Ablösung
der modernen Kultur vom mittelalterliehen Christentum und darum
auch die Ablösung des Neuprotestantismus von der kirchlichen Kultur
des Altprotestantismus veranlaßt hat." (30) So könne man das
Fazit ziehen, der „historisch wichtigste Beitrag der Reformation zur
Entstehung der Neuzeit" liege „in ihren ungewollten Wirkungen"
(ebd.)

Weist aber jenes von Pannenberg bezeichnete Syndrom wirklich
auf die entscheidende Kluft von Mittelalter und Neuzeit hin? In
seinem sorgfältigen und differenzierten Beitrag .Die Ambivalenz der
Moderne. Zu Troeltschs Verhältnisbestimmung von Reformation
und Neuzeit' (54-77) gellt Hermann Fischer auf dieses Problem
ein. Er macht darauf aufmerksam, daß für Troeltsch gerade der Kirchenbegriff
die Verbindung von Mittelalter und Altprotcstantismus
herstelle (vgl. 61). Pannenberg verwendet nun eben diesen Begriff
um über Troeltschs Konzeption einer kirchenfreien christlichen Kulturwelt
hinauszuführen (vgl. 33f). Hat also das Mittelalter ihn selbst
eingeholt? Oder enthüllt diese Aporie das Ungenügende der
Troeltsch'schen Geschichtsdeutung? Die Mängel dieser Deutung
werden bei Fischer klar herausgestellt. Sie liegen vor allem darin,
daß Grundeinsichten der Reformation nur formelhalt skizziert, aber
nicht eigentlich bearbeitet werden (vgl. 72IT). Die Neuzeit erscheine
als das Gegenbild zur kirchliehen Einheitskultur von Mittelalter. Reformation
und Altprotestantismus (vgl. 75). ihr liege „kein einheitliches
gestalterisches Prinzip zugrunde" (69). Weder der Individualismus
noch der Rationalismus können als solche Prinzipien angesehen
werden, denn sie bieten lediglich formelle Voraussetzungen,
ziehen aber nicht bestimmte positive Inhalte nach sich (vgl. ebd).
Da Troeltsch das Verhältnis von kirchlicher Einheitskultur und Neuzeit
als Kontrastbild in Erscheinung treten läßt, kann er nach der
Meinung Fischers von vornherein „für die Frage nach der Identität
von altem und neuem Protestantismus... keinen angemessenen
Antwortspielraum" mehrbercitstellen (76).

Die Einsicht, daß der Individualismus nur ein formales Prinzip sei
und sich demgemäß nicht dazu eigne, die Neuzeit von sich aus zu
charakterisieren, haben sich allerdings nicht alle von Troeltsch
beeinflußten Theologen zu eigen gemacht. Trutz Rendtorff stellt den
Begriff der Individualität in den Mittelpunkt seines Beitrages, der
mit der Überschrift .Perspektiven einer Religionsgeschichte der
Neuzeit' einen etwas hochtrabenden Titel gefunden hat (89-99).
Die Modernität der Religion wird dadurch gesichert, daß gerade sie
„als Inbegriff der individuellen Lebenswelt" (97) thematisiert werden
soll. Indessen legt Rendtorff nicht im einzelnen dar. wie der Zusammenhang
von Neuzeit. Individualität und Religion verslanden
werden müßte. Seine Ausführungen stellen sich für den Leser mehr
als eine Folge verschiedener Apercus denn als systematische Abhandlung
dar.

Wie unterschiedlich die Akzente auch gesetzt werden, mit dem
Verhältnis von Religion und Individualität muß sich jeder auseinandersetzen
, der von Troeltsch entscheidende Anregungen empfangt.
Insofern ist es nicht zufällig, daß die Reihe der im engeren Sinn
theologischen Beiträge mit einem Aufsatz eröffnet wird, der eben
dieses Verhältnis in den Blick nimmt (207-230). Friedrich Wilhelm
Graf macht ebenso wie H. Fischer darauf aufmerksam, daß wir
Troeltsch nicht als einen unkritischen Verfechter des neuzeitlichen
Bewußtseins mißverstehen dürfen. Die Theologie nach Troeltsch
sollte sich nicht zugute halten, die Krise des neuzeitlichen Subjekts
entdeckt zu haben, denn unter den Theologen des 20. Jahrhunderts
„ist Ernst Troeltsch der Krisentheologe par exeellenee" (218). Gral
begnügt sich allerdings nicht mit diesen historischen Feststellungen.
Erstellt die Frage, warum Troeltsch nicht dazu kam. seine Religionstheorie
material zu entfalten, und er meint, daß eine historische
Begründung an dieser Stelle nicht ausreiche, sondern daß nur die
systematische Klärung eine Lösung herbeiführen könne (vgl. 2090-
Troeltsch versteht die Individualität „als eine ontologische Grundstruktur
aller Wirklichkeit" (228). Und eben aus diesem Verständnis
resultiert nach Graf die Unfähigkeit, die Rcligionstheorie in
einem zusammenhängenden systematischen Entwurf zur Darstellung
zu bringen. Damit wird Troeltschs theologischer Entwurf unter
umgekehrten Vorzeichen betrachtet wie etwa bei Rendtorff. Während
bei diesem seine Betonung des Individualitätsgedankens /um
Ausweis der Neuzeitlichkeit wird und die Theologie nach Troeltsch
sich gerade deshalb an ihm orientieren muß. ist bei Graf dieser Gedanke
eng mit einer Unfähigkeit zum System verbunden, die sich an
niemandem besser exemplifizieren läßt als an Troeltsch selbst. Doch
damit nicht genug: Troeltsch ist für Graf nur ein markantes Glied in
einer Kette, die von Schleiermacher ihren Ausgang nimmt und wegen
ihres theologischen Programms in den Irrationalismus mündet. So
richtet Graf „an alle Theologen, die sich dem Theorieprogramm