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1985

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Kirchengeschichte: Neuzeit

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Neuerscheinungen

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833

Theologische Literaturzeitung I 10. Jahrgang 1985 Nr. 11

834

Merker. Nicoiao: Die Aufklärung in Deutschland. Aus dem Italien,
übers, v. D. Doucet-Roseenstein u. R. Wagenknecht. München:
Beck 1982. 347 S. gr. 8". Kart. DM 39,50.

Der Verfasser ist Professor für Geschichte der Philosophie der Neuzeit
an der Universität Rom. Er bietet in seinem - zu Rom bereits
1968 erschienenen - Buch eine umfassende Ideengeschichte der deutschen
Aufklärung von Christian Wolff bis zu den Spätaufklärern, wobei
das Schwergewicht auf Persönlichkeit und Werk Gotthold
Ephraim Lessings liegt. Verdienstvoll ist, daß der Autor die philosophiegeschichtliche
Bedeutung einer Anzahl von fast vergessenen Denkern
der Aufklärungszeit herausstellt, wie Andreas Rüdiger
(1673-1731). Christian August Crusius (1715-1775) und Georg
Friedrich Meier (1718-1777). Hierdurch trägt er wesentlich zur Erweiterung
unserer Kenntnis der Aufklärungsphilosophie bei, besonders
, wenn er immer wieder die Linie unterstreicht, die von diesen
Männern zu Kant hinführt. Sein Buch setzt anspruchsvolle Leser mit
fundierter philosophischer Bildung voraus. Die Übertragung aus dem
Italienischen stellte für die Übersetzer angesichts der Kompliziertheit
des Stoffes und der stellenweise sehr akademischen Diktion des Verfassers
zweifellos eine schwierige Aufgabe dar.

Die Aufklärung ist nach M. „eine Bewegung militanter Philosophie
", bei der es um die Reform weiter Bereiche des bürgerlichen und
Politischen Lebens ging, um die Entstehung der Ideologie des bürgerlichen
.dritten Standes'. Sie muß bewertet werden „nach dem Grad, in
dem ihr die Verwirklichung ihres eigenen Programms glückte oder
nicht" (13). Es gilt, zu überprüfen, was ihre Theorien „wirklich geleistet
haben" (36). Bei dieser Überprüfung scheiden sich die Geister.
Das Problem der Aufklärung liegt in ihrer unterschiedlichen Interpretation
.

Der Autor lehnt die „traditionelle", von Hegel herkommende Deutung
dieser Epoche ab, wonach die Aufklärung als bloßer, mehr oder
minder „abstrakter Rationalismus" abgewertet wird (31). Ebenso
grenzt er sich ab (16ff) gegen die „rechtsgerichtete" Interpretation,
wonach die Aufklärung letzten Endes bei Leibniz, Wolff und Lessing,
dann aber auch unter dem Einfluß irrationaler Tendenzen im Sturm
und Drang, bei Hamann und Herder auf eine Versöhnung von Vernunft
und Offenbarung, Wissen und Glauben, hinausgelaufen sei.
Diese Deutung geht nach M. auf C. F. Stäudlin's „Geschichte des
Rationalismus und Supernaturalismus vornehmlich in Beziehung auf
das Christentum". Göttingen 1826, zurück und wird jetzt vor allem
von B. v. Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, Hamburg
'1961. und von W. Philipp, Das Zeitalter der Aufklärung, Bremen
1963, verfochten.

Die „linke" Auffassung, zu der sich auch M. bekennt, sieht dagegen
in der Aufklärung „eine Bewegung militanter pragmatisch-operativer
Kritik, frei von mehr oder weniger dogmatisch-systematischen metaphysischen
Voraussetzungen" (19), „einen laizistischen Humanismus
. . ., der in seiner konsequenten Ausprägung notwendigerweise
zum Bruch mit der traditionellen christlichen Auffassung führen
mußte". Für M. ist „die resolute Trennung" von Glauben und Vernunft
„seit Bayleein Postulat aller echten Aufklärung" (23). Er nähert
sich dabei dem historischen Materialismus; denn: „Marx erkannte im
Materialismus den genuinen und fortschrittlichen Kern der Aufklärung
" (23). Im Hinblick „auf das Ziel der Festigung des neuen gesellschaftlichen
Bewußtseins" betont M. den Wert, den die Aufklärer seit
Wolff auf die „Praxis" gelegt haben (59); er rekurriert auf die Beziehungen
zwischen Ökonomie und Kultur, er schildert ausführlich die
damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse, wobei er ausdrücklich an
F. Mehring (Die Lessing-Legende, Stuttgart 1906), P. Rilla (Lessing
und sein Zeitalter. Bd. X seiner Lessing-Ausgabe, Berlin 1958. auch
seperat Berlin u. Weimar 1981) und G. Lukäcz (Skizze einer Geschichte
der neueren deutschen Literatur, Neuwied u. Berlin 1965)
anknüpft.

Dabei ist sich der Autor bewußt, daß die Ökonomie die philosophische
Entwicklung nur mittelbar bestimmt. Für ihn ist immer auch

wesentlich die „Summe der Ideen oder begrifflichen Vermittlungen,
die jede Generation von der vorangehenden empfangen hat" (35). Nur
durch sie kann jedes Zeitalter sich seiner speziellen historisch-materiellen
Tendenz bewußt werden; es kommt auf ihre kritische Weiterverarbeitung
an, was ausführlich an der geistigen Leistung Lessings
verdeutlicht wird (30ff, 42IT, I17ff, 178ff, 190ff, 273ff). So standen die
hervorragendsten Vertreter der deutschen Aufklärung in einem
„Emanzipationskampf" (36); sie dienten in einer progressiven Bewegung
, die aber schließlich - angesichts der in Deutschland „versäumten
Revolution" (280ff) - zu einer Bewegung des Konservatismus
wurde. Auf dem Hintergrund der „deutschen Misere" erwies sich der
„von der Aufklärung als gradlinig vorgestellte Weg des Fortschritts
und der Humanität... als ein Knäuel von Widersprüchen", und das
aufklärerische „Reich der Vernunft" enthüllte sich schließlich als
bloßes „Reich der Bourgeoisie", nachdem diese mit den Gruppen der
Feudalherrschaft Kompromisse eingegangen war(25).

Den Theologen interessiert vor allem Abschnitt IV („Philosophie
und Religion", 167-233) und besonders die Deutung Lessings als
„Schlüssclfigur" (33) der Aufklärung. Hier bringt M. leider nichts
Neues, sondern schließt sich ganz der Auffassung P. Rillas an, was ein
Vergleich mit diesem (Lessings Werke X, bes. 372,399) leicht zeigen
könnte. M. unterstellt Lessing eine „wirkliche Gleichgültigkeit
gegenüber den .geoffenbarten' Religionen" (185). Seine Hauptthese:
Lessing behandelt die Religionen allgemein „als ideologische Kon-
strukte . . ., die wie andere (z. B. die Kodifikationen auf rechtlichem
Gebiet), im menschlichen Geschichtsbewußtsein bestimmte Beziehungen
bürgerlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens widerspiegeln
" (182). Die „Offenbarungen" sind nur insofern „wahr", „als
die fortgeschrittene ... Vernunft sie als das versteht, was sie wirklich
sind: nämlich rudimentäre, irrationale Welterklärungsversuche von
Seiten einer relativ unterentwickelten Gesellschaft (oder eines primitiven
Bewußtseins)" (204). Die positiven Religionen sind demnach
lediglich „(historische) Durchgangsphasen der Entwicklung der
menschlichen Vernunft" (201). Das letzte Ziel: „Die Religion macht
einer Vernunftethik Platz" (202).

Hier greift M. Lessing gegenüber zu kurz. Er muß selbst zugeben
(203ff), daß es bei Lessing zahlreiche Stellen gibt, die erweisen, daß
Lessing ohne „Metaphysik", d. h. ohne Offenbarungsglauben, nicht
auskam. Die Wegrationalisierung bzw. Umdeutung solcher Stellen
durch M. kann nicht überzeugen (z. B. § 63 der „Erziehung des Menschengeschlechts
", wo Lessing von einem „Richtungsstoß" spricht,
den die Vernunft durch die Offenbarung erhält; § 77, wo die Offenbarung
„nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen" vermittelt
, „aufweiche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr
gekommen wäre"; M. interpretiert „nimmermehr" durch: „noch
nicht"!). Die „innere Wahrheit" des Christentums, von der Lessing
wiederholt spricht, ist nicht bloß, wie M. (200) will, ethische Wahrheit
, sondern sie ist der den ganzen Menschen nach seiner rationalen,
gefühlsmäßigen und ethischen Seite unmittelbar überzeugende „Beweis
des Geistes und der Kraft" (Gottes; denn: „Gott ist ein Geist".
Gedanken über die Herrnhuter, bei Rilla VII. 190). Man vergleiche
hierzu neuerdings Harald Schultze. Lessings Auseinandersetzung mit
Theologen und Deisten um die „innere Wahrheit", in: Lessing in heutiger
Sicht, Bremen und Wolfenbüttel 1977, 179-183. Ich verstehe
auch nicht, daß Lessings Begriff der „inneren Wahrscheinlichkeit"
eines Kunstwerkes (Rilla IV, 45; VI, 101, 174) von M. (122, 142f) mit
Recht zustimmend aufgenommen werden kann, während er gleichzeitig
die „innere Wahrheit" der Religion kritisch uminterpretiert.

Den Wert des Buches von M. liegt nicht so sehr in seiner Religionskritik
, sondern in seiner philosophiegeschichtlichen Darstellung.
Karl-Marx-Stadt Wolfgang Gericke

Bester, Gerhard: Auf dem Weg' nach Treysa 1945 (LM 24, 1985,
306-308).

Sauter. Gerhard: Versäumnis und Schuld der Vergangenheit (LM 24. 1985,
464-467).