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Ausgabe:

1985

Spalte:

832

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Aufklaerung und Pietismus im daenischen Gesamtstaat 1985

Rezensent:

Banning, Knud

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1 10. Jahrgang 1985 Nr. 11

832

als bewiesen worden. Die beiden Editoren und Kommentatoren
wollen eine Lücke schließen helfen, die Calvins Stoarezeption angeht,
speziell Bemerkungen zu 7 Tragödien des Seneca und der Pharsalia
Lucans. Etwa 300 Annotationen in der Tragödienedition von 1541
und einer Pharsalia-Edition von 1533, bislang nirgendwo veröffentlicht
, sind jetzt leicht zugänglich und wollen neuen Aufschluß über
das Humanismus- bzw. Klassikverständnis des Reformators
bringen.

Das vorliegende Buch „ist für die Fachwelt bestimmt" (VI), es soll
,,zu weiteren Forschungen anregen", u. zw. im Rahmen der Gesamterforschung
der Hermeneutik Calvins. Die beiden Bearbeiter weisen
ausdrücklich auf den Zusammenhang der Edition mit der kritischen
Veröffentlichung des Kommentars zu Senecas „De dementia" aus der
Feder Calvins hin (Hrsg.: F. L. Battiesund A. M. Hugo).

Das jedem Calvinforscher willkommene Kernstück des Buches ist
der Abdruck von handschriftlichen Eintragungen Calvins (54-134) in
einem Band, der schon 1572 in der Bibliotheque de l'Academie de
Calvin katalogisiert worden ist und sich jetzt in der Bibliotheque
Publique et Universitaire in Genf befindet (1). Das äußerlich unscheinbar
wirkende Buch enthält die o. g. Stoaliteratur, deren Benutzung
durch Unterstreichungen und Randstriche sowie Buchstaben-,
Wort- und Satzzusätze kenntlich ist. All dieses von Calvin aus der Zeit
um 1546 Stammende (6) ist hier verzeichnet. Beigegebene deutsche
Übersetzungen erfolgen im Anschluß an die Textausgaben von
Th. Thomann undJ. Krais(54).

In der Einleitung machen die Verfasser Angaben zur Bibliotheks-,
Buch- und Einbandgeschichte, zur Handschriftenanalyse und zu inhaltlichen
Übereinstimmungen zwischen den hier wiedergegebenen
Annotationen und weiteren humanismusbestimmten Arbeiten Calvins
. In einem 2. und 3. Kapitel versuchen Ganoczy und Scheid eine
inhaltliche Evaluation im Horizont stoischer Zentraltermini (Tyrannei
und wahrer Herrscher, Todesbewältigung, Götter und Religion)
und Calvinscher Schwerpunktfragestellung (der Papst und seine Anhänger
als Tyrannen, Todesnähe und Martyrium, Vorsehung und
Vorherbestimmung). Diese Begriffsverglcichungen verstehen die Verfasser
als Aufhellung hermeneutischer Aspekte im Lebenswerk des
Reformators.

Ein 4. Kapitel (520 bietet schon vor dem Textabdruck (Kapitel 5)
eine „Zusammenfassung der hermeneutischen Grundlinien der Stoarezeption
Calvins". Durch ein ganzes Fragebündel geben die Verfasser
ihrer Überzeugung Ausdruck, daß „die Hermeneutik Calvins an
Grenzen stößt" (53), wenn die Problembereiche der Stoa so wie beschrieben
dominant werden: „Ist der Papst mit seinem universalen
geistlichen und weltlichen Machtanspruch wirklich ein Tyrann wie
Caligula, Nero und Domitian? Ist es für Christen des 16. Jh. empfehlenswert
, sich wie Cato, Seneca oder Lucan zu verhalten? Sind
stoische Todesdarstellungen von Bedeutung für einen Christen, der
vor dem Martyrium steht? Kann der stoische Begriff des Fatums in
irgendeiner Form in Beziehung gebracht werden zum biblischen Verständnis
der Vorsehung Gottes?" (a. a. O.) Trotz dieser Irritierung bei
der schwierigen Zusammensicht zwischen stoischem und christlichem
bzw. biblischem Denken kommen die Verfasser erstaunlicherweise zu
dem Schluß: „Die im Zusammenhang von Calvins Stoarezeption aufscheinenden
hermeneutischen Prinzipien erweisen sich somit als wirkungsvolles
Instrumentar im Kampf um die Anerkennung und Verwirklichung
der evangelischen Sache." (a. a. O.) Das klingt sehr allgemein
und kann doch so generalisiert für Calvins evangelische Hermeneutik
ohne weiteres schwerlich stehenbleiben. Eine bibelinterne her-
meneutische Reflexion müßte zur Erhebung des vollen Tatbestandes
hinzukommen, wie sie die Verfasser (52) auch für erforderlich halten.
Es kommt also alles auf den Beleg an, in welcher Weise „stoische Vorstellungen
" dem (christlichen) Glauben „hilfreich zur Seite" treten.
Somit ist aus der vorliegenden verdienstvollen Edition heraus die
Frage nicht erledigt, sondern erst recht eigentlich gestellt, inwiefern
stoisches Gedankengut und Bibelexegetica einander korrespondieren
oder im Gegensatz zueinander zu erkennen sind.

Als anerkennende Notiz am Schluß sei hinzugefügt, daß eine ganze
Reihe von Dokumentationen, Übersichten und Verzeichnissen den
Band für den Leser vorteilhaft aufschließen.

Berlin Joachim Rogge

Kirchengeschichte: Neuzeit

Lehmann, Hartmut, u. Dieter Lohmeier [Hrsg.]: Aufklärung und Pietismus
im dänischen Gesamtstaat 1770-1820. Neumünster: Wach-
holtz 1983. 286 S. gr. 8' = Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte
, 16. DM 54,-; geb. DM 64,-.

Das Buch enthält vierzehn gelehrte Abhandlungen, die als Vorträge
während eines Symposiums auf dem dänischen Refugium Fuglsang
im Jahr 1981 vorgelegt und debattiert worden sind.

Die Teilnehmer wärest deutsche und dänische Spezialisten für Geschichte
, Kunstgeschichte, Literatur-, Kirchen- und Musikgeschichte.
Die meisten Referenten kamen aus Kiel und Kopenhagen, einige auch
aus Aarhus, Hamburg, Boch und Bamberg. Ihre Interessen sind natürlich
ebenso weitreichend wie speziell; die meisten Beiträge beziehen
sich jedoch auf die Herrnhuter in Christiansfeld sowie auf die Familie
Reventlow und ihren Kreis. Solche detaillierte und gezielte Untersuchungen
sind gemäß dem gelehrten Vorwort der Herausgeber notwendig
, um konkret zu beweisen, wie der Pietismus und die Aufklärunggemeinsam
die Entwicklung geprägt haben. Trotz der unbestreitbaren
Unterschiede haben diese beiden entscheidenden Geistesströmungen
viele gemeinsame Züge, die nicht übersehen werden dürfen
.

Es ist unbestreitbar, daß man in dieser Sammlung manches über die
eine wie die andere Seite des Kulturlebens der damaligen Zeit, im
weitesten Sinne, zu wissen bekommt - z. B. über J. F. Struensee und
den aufgeklärten Absolutismus, über Moral und Politik bei A. P.
Bernstorff, Organisationsformen der Aufklärung, die Freimaurerei,
Heidenmission, aufklärerische Gedanken über wilde Völker, das geistige
Leben in Christiansfeld und deren Kunstgeschichte, die Musik
der Herrnhuter, über Johannes Ewalds „enttäuschte Philet", über
Matthias Claudius, „die Christentumsgesellschaft", über die Religiosität
von Lavater und der Emkcndorfer. Es ist also eine gute
und fruchtbare Idee, Forscher verschiedener Disziplinen zusammenzurufen
, um der Entwicklung in anderen Teilen des dänischen Gesamtstaates
als z. B. Kopenhagen zu folgen. Davon ist dieses Buch ein
beredtes Zeugnis.

Doch bekommt man ein etwas unklares Bild von der Entwicklung,
das sich auch hier leicht in Lokalem und ziemlich Provinzlerischem
verliert. Der Grund ist nicht nur, daß es den Herausgebern schwerfällt
, die Verfasser innerhalb des Rahmens, der so schön im Vorwort
skizziert wird, zu halten. Es ist auch die Frage, ob man der Entwicklung
in den Hauptzügen durch die vielen und detaillierten Spezialstu-
dien folgen kann. Dies darf nämlich nicht, wie hier, dazu führen, daß
man unterläßt, sich auf einige der damaligen Hauptströmungen zu
konzentrieren, wie z. B. die Normalphilosophie, woran sich sowohl
Pietisten wie die Theologen der Aufklärungszeit, Geschichtsforscher
und Verfasser hielten, und wovon viele geprägt waren. Diese Strömungen
hatten sich durch mehrere Jahrhunderte entwickelt und stets
neue Gestalten gefunden, und sie waren wohl jetzt ein gemeinsamer
Ausdruck für den Geist der neuen Zeit geworden. Das empfindet man
zwar in diesem Buch, aber man vermißt unstrittig das Verständnis dafür
und Studien darüber.

Man darf hoffen, daß eine Zusammenarbeit wie diese sich auch in
der Zukunft über fachliche und nationale Grenzen hinaus entwickeln
kann, und also auch, daß man sich auf eine oder mehrere der Hauptströmungen
, die entscheidend für die Entwicklung wurden, konzentrieren
kann - und daß dies nicht nur auf Spezialgebieten zum Ausdruck
kommt.

Nivä Knud Banning