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Ausgabe:

1985

Spalte:

828-830

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Heckel, Martin

Titel/Untertitel:

Deutschland im konfessionellen Zeitalter 1985

Rezensent:

Koch, Ernst

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Theologische Literaturzeitung I 10. Jahrgang 1985 Nr. 11

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1476 weit verbreitet waren. Die Darstellung der marxistischen Interpretation
des Wirkens von Hans Behem verkennt, wie häufig bei
nichtmarxistischen Kritikern, daß der Konzeption von der frühbürgerlichen
Revolution ein weitergefaßtes Revolutionsverständnis zugrunde
liegt.

Im 1. Teil seiner Arbeit „Die Niklashäuser Fahrt 1476" (37-126)
schildert Arnold zunächst, wie „in Krise und Beharrung" des
15. Jahrhunderts mit seinen apokalyptischen Prophezeiungen, Ketzerbewegungen
und Wallfahrtsfieber der Boden für Hans Behems
Auftreten bereitet wurde. Der Abschnitt ist vorwiegend geistesgeschichtlich
angelegt, d. h. wirtschafts- und sozialgeschichtliche
Aspekte, aber auch die politischen Zusammenhänge werden dabei
kaum berührt. In einem zweiten Abschnitt wird auf Grund der Quellenüberlieferungen
die Wallfahrt nach Nikiashausen beschrieben, bei
der auch, wie sonst bei Wallfahrten, erwartete Heilungswunder motivierend
wirkten. Arnold weist daraufhin, daß in geringem Ausmaß
auch die Beteiligung Adliger nachgewiesen werden kann. Entscheidend
für die Auslösung der Wallfahrt oder ihre Wiedererweckung
(Anknüpfung an Ablaßbriefe von 1354) war Hans Behem, der
Prophet. Ihm und seinem Programm, durch das sich diese Wallfahrt
von allen vorangegangenen unterschied, ist das Kernstück des ersten
Teiles gewidmet. Arnold entscheidet sich für die Namenschreibung
„Behem", weil sie durchgängig in den urbarialen Aufzeichnungen des
Heimatdorfes Helmstadt-zwischen Würzburg und Wertheim-belegt
ist. Er hält es für wahrscheinlich, daß Hans Behem Anfang 20 gewesen
sein wird, als er zu predigen begann. Während sich die Spielmannstätigkeit
(Pauker und Pfeifer) durch zeitgenössische Quellen belegen
läßt, wird erst in derChronistik erwähnt, daß Behem Hirt war. Arnold
hält es für wahrscheinlich, daß der Spiclmann „wenigstens zeitweise
Schafe gehütet hat" (86) und'damit in doppelter Weise ein „standesloser
" war. Nicht nur weitere Einzelheiten zur Persönlichkeit, sondern
auch die genaueren Zusammenhänge der Berufung zum Propheten
in Nikiashausen bleiben wie bisher voller Rätsel. Von den „ideologischen
" Helfern Behems beim Organisieren der Wallfahrt kann
Arnold nur wie üblich den Ortspfarrer und einen angeblichen Begar-
den nachweisen. Bei der Rekonstruktion von Behems „Lehre" weist
Arnold mit Recht auf den fragmentarischen Charakter der Überlieferung
(Aufzeichnungen der „notarien und testes" auf Grund einer einzigen
Predigt vom 2. Juli 1476). Der Bußruf mit eschatologischem
Unterton, der scharfe Antiklerikalismus, die sozialen Forderungen
weisen zwar partiell Ähnlichkeiten mit bekannten spätmittelalterlichen
Bewegungen (Waldenser, Hussiten u. a.) auf, ohne daß Abhängigkeit
zwingend nachweisbar wäre. Arnold kommt zum Ergebnis:
„In Behem konvergiert eine Vielzahl von geistigen Strömungen, deren
ideengeschichtliche Herkunft im einzelnen kaum mehr zu eruieren"
ist (I 10). Wenn aber der Autor hinzufügt, der Dorfhirte habe „aus den
vielgestaltigen Anregungen und den nach Umfang und Gewicht nur
schwer einzuschätzenden Einflüsterungen seiner Hintermänner ein
umfängliches kirchliches und weltliches Reformprogramm entwik-
kelt, das seinen Anhängern aus dem Herzen sprach - und nach dem
Munde redete" (ebd.), ist zu fragen, ob hier nicht die Basis der nüchternen
Quelleninterpretation zugunsten traditioneller Vermutungen
schon wieder verlassen wird. Auch sonst finden sich in diesem Abschnitt
Formulierungen, die nicht ohne weiteres nachzuvollziehen
sind. So ist nicht einsichtig, was die allgemeine moderne stammespsychologische
Beobachtung, daß dem „fränkischen Menschenschlag . . .
die Gabe der Rede nicht in jedem Fall eigen" sei, für die Beurteilung
eines Phänomens aus dem 15. Jahrhundert erbringen soll (89). Ist es
angemessen, zu behaupten: „Was er den Zorn Gottes über die Verhältnisse
in Kirche und Welt nannte, war in Wahrheit der Zorn seiner
Zuhörer" (ebd.)? Oder gar: „Propagandistisch geschickt gibt Behem
sein Evangelium als ein ihm nur geoffenbartes aus" (ebd.). Die
mangelnde theologische Bildung des Laienpredigers soll Behem ein
weitgehend festes „Programm" einer religiösen und politisch-sozialen
Reform aufgezwungen haben, das die Pilgerscharen von ihm hören
wollten (95). Daneben ist die Rede vom unschuldsvollen Gemüt

Behems, das sich der Jungfrau Maria nahefühlen mußte (96), von
einer beinahe rührenden Naivität (99 u. ö.). Mit einer kurzen Darstellung
der Gefangennahme Behems am 12. Juli, des Zuges der Wallfahrer
nach Würzburg zwei Tage darauf, der in Anlehnungan J. Elluls
Definition als Revolte, nicht als Revolution verstanden wird, sowie
der Hinrichtung und des Endes der Wallfahrt schließt Arnold den
ersten Teil seiner Arbeit ab. Er versäumt nicht daraufhinzuweisen,
daß sich niemand von den Aufständischen von 1525 „auf das Programm
des Hans Behem oder auf die Bewegung des Jahres 1476 berufen
" habe (126).

Die wesentlich knapper gefaßte agrarhistorische Untersuchung des
Dorfes Nikiashausen, das zum Besitz der Grafen von Wertheim gehörte
, im zweiten Teil der Arbeit (127-185), kann sich auf das in seltener
Vollständigkeit erhaltene ungedruckte Quellcnmatcrial im Wertheimer
Archiv stützen. Es kann nachgewiesen werden, daß Nikiashausen
mit seinen 120 bis 150 Einwohnern in der frühen Neuzeit zu den
kleinsten Siedlungen in der Umgebung des Taubertales gehörte. Alle
Bewohner waren Leibeigene der Grafschaft Wertheim mit Kleinstbesitz
(Feldstücke, Wiesen, Gärten, Weinberge). Der größte Teil des
Acker- und Wiesenlandes gehörte zum Besitz von vier ritterschaftlichen
Lehenshöfen. Die Lage der Besitzstücke kann vielfach bis ins
14. Jahrhundert zurück identifiziert werden. Auch die Konstanz der
Abgabenhöhe in den Jahrzehnten vor und nach 1525 ist nachzuweisen
. Teilung von Besitzstücken scheint verstärkt vor allem in der
ersten Hälfte des 16. und massiert im ausgehenden 17. Jahrhundert
vorgekommen zu sein, „weil die kleinbäuerlichen Güter oder Seiden
schon immer an der unteren Rentabilitätsgrenze gelegen haben"
(182). Von Gewicht sind die detaillierten Untersuchungen zur sozialen
Struktur und zu den Besitzverhältnissen in Nikiashausen, weil sie
die bisher vorwiegend an Oberschwaben orientierten Erkenntnisse ergänzen
und außerdem konkrete Werte für die sonst für die frühe Neuzeit
kaum faßbaren „armen Leute" erbringen. Für Nikiashausen
selbst kommt Arnold im Blick auf 1476 zu dem Ergebnis: „Nichts in
der Situation dieses Dorfes weist im Vergleich mit anderen ländlichen
Siedlungen auf eine extrem unerträgliche oder sich zu Ende des Mittelalters
verschlechternde Lage seiner Bewohner hin; singulare Bedeutung
erlangte Nikiashausen allein durch das Auftreten des ekstatischen
Predigers Hans Behem" (185).

Im dritten Teil druckt Arnold das gesamte bisher bekannt gewordene
Quellenmaterial zu den Ereignissen von 1476 (zu ergänzen ist
der Hinweis auf den Abdruck von 1/10 und 1/28 bei S. Hoyer: Neues
zum Pfeifer von Nikiashausen. Jb. für Geschichte des Feudalismus 3.
1979, 216-218) sowie die ältesten Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte
des Dorfes Nikiashausen ab. Die notwendigen Beigaben
(Bibliographie, detaillierte Register)schließen das Buch ab, das.
ungeachtet mancher Fragen zur Beurteilung im einzelnen, als die abschließende
Arbeit zur Wallfahrt von 1476 gelten kann. Da neue
Quellenfunde kaum zu erwarten sind, ist auch Arnolds Feststellung
nicht anzufechten: „Die Persönlichkeit des Hans Behem bleibt voller
Rätsel" (89).

Corrigenda: 6: Der Begriff „historisches Volkslied im eigentlichen Sinne"
entspricht nicht dem Forschungsstand; 13: Diepold Peringer, der Bauer von
Wöhrd. war kein Laie; 61: ..Epochenjahr" ist unangemessen, denn die Berechnung
der Lebensjahre nach herausragenden Ereignissen war auch sonst üblich:
363: Strobach... . Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Berlin Siegfried Bräuer

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Heckel. Martin: Deutschland im konfessionellen Zeitalter. Göttingen
: Vandenhoeck & Ruprecht 1983. 277 S. 8- = Deutsche Geschichte
, 5. Kart. DM 16,80.

Eine neue Darstellung deutscher Geschichte im Jahrhundert zwischen
1 550 und 1650 zu lesen, macht den Theologen von vornherein