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Ausgabe:

1985

Spalte:

817-819

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Roloff, Jürgen

Titel/Untertitel:

Die Apostelgeschichte 1985

Rezensent:

Burchard, Christoph

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Literaturzeitung 1 10. Jahrgang 1985 Nr. 11

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Roloff. Jürgen: Die Apostelgeschichte. Übers, u. erklärt. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 1981. IV, 387 S., 1 Kte. gr. 8* = Das Neue
Testament Deutsch. Neues Göttinger Bibelwerk, Teilb. 5.
1 7. Aufl.; 1. Aufl. dieser neuer Fassung.

Knapp 20 Jahre nach G. Stählins konservativ-kritischem Kommentar
von 1962 ist J. RololTs erschienen (die späte Besprechung ist
meine Schuld). Eine eigene Leistung, keine Neubearbeitung. Stählin
ist noch zu haben. Das NTD verfügt wie bei den Synoptikern nun
auch bei der Apostelgeschichte über zwei gediegene Kommentare
nebeneinander. Lukas bleibt gefragt.

Natürlich merkt man, daß Roloff jünger ist. Er bekennt sich am
Ende eines Forschungsüberblicks, der das Zentrum der knappen Einleitung
bildet (S. 6-10), ausdrücklich zur kompositionsgeschicht-
lichcn Forschung, die unter den Kommentaren E. Haenchen und
H. Conzelmann exemplarisch repräsentieren. Lukas ist ein Mann der
zweiten oder gar dritten Generation, der um 90 und vielleicht in Rom
ein Buch Für seine Zeit schrieb, mit literarischer Kunst und einer
theologischen Konzeption, die nicht die der von ihm beschriebenen
Großen der Vergangenheit, auch nicht Paulus', ist und aus dem Dop-
pelwcrk erst erhoben werden muß. „Die dabei erzielten Ergebnisse
waren eindrucksvoll und weithin überzeugend. Wir können heute in
ihrem Lichte die Apg nicht mehr einfach als einen Tatsachenbericht
über die Geschichte des Urchristentums lesen, sondern müssen immer
zuerst fragen: Was will Lukas uns mit seiner Erzählung sagen?" (S. 8)
Freilich haben die konsequenten Kompositionsgeschichtler übertrieben
und Lukas literarisch zum erbaulichen Romanschriftsteller, theologisch
zum Frühkatholiken gemacht: Heilsgeschichte statt eschatolo-
gischc Existenz heute, Christentum die Spitzenleistung der allgemeinen
Religionsgeschichte, Mittler des Heils die Kirche mit ihrer durch
Sukzession gesicherten Tradition anstelle des gepredigten freien Wortes
RololTfindet (m. E. mit Recht), daß die theologische und die Forschungslage
heute eine ..Revision dieser verengten Sieht" nötig und
möglich machen. Erstens wollte Lukas wirklich Geschichtsschreiber
und nur als solcher Theologe sein. Also müssen wir „neben und mit
der Frage nach dem, was er theologisch sagen will, die Frage nach den
tatsächlichen Vorgängen zu ihrem Recht kommen lassen. Lukas als
< icschichtsschreiber wird dabei nicht so schlecht abschneiden, wie
einige seiner Kritiker meinten" (S. 9). Zweitens: „Die Frage nach den
Quellen darf, so schwierig sie auch sein mag, nicht vorschnell ad acta
gelegt werden" (S. 9). Drittens muß die Formgeschichte stärker eingesetzt
werden, um die Grundbausteine der Apg oder gegebenenfalls
ihrer Quellen zu analysieren. „Dieses Material repräsentiert die
verschiedenartigsten Gattungen: christologische Formeln, Schemata
der Missionspredigt Für Juden und Heiden, Erzählungen von Apostelwundern
, Personal legenden. Gründungstraditionen von Gemeinden
und liturgische Stücke, um nur die wichtigsten zu nennen. Seine
Analyse kann uns ein faszinierendes Bild der verschiedenen Lcbens-
vollzüge derältesten Kirche geben" (S. 10).

So kommt ein Kommentar heraus, der sich im Ansatz von seinem
Vorgänger unterscheidet, obwohl sie im historischen und theologischen
Einzelurteil oft übereinstimmen. Man sieht es ganz gut an
Apg 17. Beide sind sich einig, daß die Areopagrede nicht von Paulus
und nicht paulinisch ist. Aber Stählin zeigt, daß Lukas und Paulus gar
nicht so verschieden sind und daß die Rede sich in der Sache nirgends
..vom Grund des biblischen Denkens" entfernt (S. 240). RololT läßt
die Unterschiede stehen und betont nur, daß Lukas Paulus insofern
kein Unrecht getan hat, als auch der Apostel Elemente des zugrundeliegenden
Argumentationsschemas auf seine Weise benutzt hat. „So
hilft uns die Areopagrede dazu, zu erkennen, in welchem Maße Paulus
in vorgegebenen hellenistisch-jüdischen Traditionen verwurzelt
war"(S. 268).

Die Einleitung behandelt im übrigen den nachträglichen und unzutreffenden
Titel „Taten der Apostel", die Gliederung (nach dem Prolog
1.1-26 fünfteilig: 2,1-5,42; 6.1-9,31; 9,32-15,35; 15,36-19,20;
19,21-28,31), den sekundären Charakter des westlichen Textes und
nennt Literatur. Nützlich wären vielleicht noch Abschnitte über die

Chronologie und die Zeitgeschichte (Prinzipat. Aufbau und Verwaltung
des Imperiums, Rolle der Städte. Religionen und ihre Verbreitung
, Reichsideologie, Reisebedingungen usw.). Im Lauf des Buches
kommt das (auch, was eine colonia ist?), aber ein Gruppenbild würde
die Zusammenhänge deutlicher machen.

Die Kommentarabschnitte zerfallen in A (allgemeine Analyse) und
B (Exegese Vers für Vers). Eingestreut sind wie immer „Ausführungen
" (der verdiente Verleger des Ur-NTD mochte keine Fremdwörter
): Jesu Himmelfahrt. Die „Zwölf - die Apostel - die „zwölf Apostel
". Die Reden der Apostelgeschichte. Die Bezeichnung Jesu als
„Herr" (kyrios). Ursprung und Bedeutung der christlichen Taufe. Die
urchristliche Gütergemeinschaft - Ideal und geschichtliche Wirklichkeit
. Simon Magus. Die erste Missionsreise (steht historisch richtig;
sogar Stählin hatte sie nach dem Apostelkonzil angesetzt, aber ich
glaube jetzt, R. hat recht). Apg 15.1-34 und der Bericht des Paulus
(Gal 2.1-10). Der westliche Text von 15.1-34. Die Epoche der
großen paulinischen Mission und ihre Darstellung durch Lukas. Die
Areopagrede und Paulus. Gallio und die Chronologie des Urchristentums
(die Gallioinschrift ist aber kein Erlaß an Delphi, sondern wegen
Delphi, vermutlich an Gallios Nachfolger). Der Schlußteil der
Apostelgeschichte. Am Ende Namen- und Sachweiser von Walter
Kotschcnreuther, Abkürzungsverzeichnis (gleichzeitig nützlicher
Überblick über zitierte antike Literatur und Autoren) und Karte
(Stählins große bunte mit den Stadtplänen hinten drauf war aber viel
besser; Actakommentare sollten überhaupt illustriert sein, aber das
kostet).

Zwei etwas tiefere Bedenken sind mirgekommen.

a) R. hat eine Vielquellentheorie. Außer kleineren Einzelsachen
benutzte Lukas einen „Missionsbericht der antiochenischen Gemeinde
" (Apg 13 f), ein „Wege- und Stationsverzeichnis aus dem Kreis der
Paulusmitarbeiter" (16,6-8.10b. 1 1-15: I 7.1-4.10-1 1 a. 15a. 17.34;
18,1—5a.7f. 11), einen „Rechenschaftsbericht der Kollektendelegation
" (20,2b—6.14— 16; 21,1-17), einen „von Freunden des Paulus
verfaßten Haftbericht" (21,27-36; 22,24-29; 23,12-24. 23.26f;
25,1-12) und einen „von einem Paulusbcgieiter stammenden Bericht
über die Romreise des Apostels" (27,!-9a.l2-20.27-30.32.38-44;
28,1.1 1-13.14b.16b), dazu vielleicht noch Kränze von Petrus- und
Pauluslcgcnden (S. 10). Das berühmte „Wir" übrigens stammt in
16-21 aus Itincrar und Kollektenbericht (S. 239). in 27f mindestens
zum Teil von Lukas (S. 3580- Viel ist das insgesamt nicht. Für weite
Partien hatte Lukas kein Material oder jedenfalls keins über das spezielle
Ereignis (so für die Reden). Hinter 16,24-34 (Kerkermeister)
steckt höchstens eine dürre Nachricht und die Erinnerung an 12,5-1 I.
Frei geschaffen hat Lukas u.a. 22,30-23,11 (Paulus vordem Syn-
hedrium), 25,13-22 (Festus und Agrippa), 27,9b-11.21-26.31.
33-37 (die Paulusszenen der Schiffsreise). 28,1-10 (Paulus auf
Malta), 28,1 7-31 (Paulus in Rom) - das heißt, nimmt man noch die
Reden 22 und 26 samt Situation dazu, den meisten Stoff und den Lauf
der Handlung des Schlußteils Apg 19.21 -28,31, den R. mit Recht für
den Höhepunkt des Buches hält (S. 288). Dafür gibt es Gründe. R.
steht auch nicht allein. Aber erstens sind mir seine Maßstäbe nicht
klar geworden. Warum kann Lukas den Kerkermeister und Paulus'
Wunder auf Malta nicht aus der Tradition haben (wie er nach S. 68
übrigens auch soll)? Wenn wirklich nicht, sind dann die Petruswunder
womöglich auch von ihm? Hat es noch Sinn, historisch unwahrscheinliche
Angaben auf Denkbares zu reduzieren wie z. B. in
23,12-35 (V. 23: nicht 470 Soldaten bringen Paulus nach Cäsarea,
aber ein Trupp; V. 31 f: die Fußtruppen begleiten die Reiter nicht
60 km bis Antipatris, aber aus Jerusalem hinaus)? Vor allem aber
zweitens: im Prinzip wird R. ja recht haben. Dann müssen wir uns
wohl doch auch für die Apostelgeschichte nach einer annehmbaren
Definition von historischem Roman umsehen.

b) Nach R. zeigt Lukas gerade im Schlußteil des Buches auch, wie
„Israel als ganzes" sich in Ablehnung des Christentums hincinsteigert
und nicht nur nie mehr zum Glauben kommen wird, sondern auch
sein eigenes Judentum aufgibt. Mit scheint, daß R. zu starke Schlüsse