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Ausgabe:

1985

Spalte:

779-781

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Kahl, Brigitte

Titel/Untertitel:

Armenevangelium und Heidenevangelium 1985

Rezensent:

Kahl, Brigitte

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Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 10

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(2) Die Mose-Tradition ist in Hos 12,14 greifbar (§2, 37-42).
Hos 12,14 gehört sehr eng mit 12,13 zusammen, da'beide Verse in
Prosa und in bewußter Entsprechung zueinander formuliert sind. Es
ist beabsichtigte Komposition Hoseas, wenn er Jakob und Mose im
gleichen Kapitel nennt und nebeneinanderstellt. Beide sind für Hosea
die Repräsentanten des geschichtlichen Anfangs Israels. In Jakob
begegnet der Stammvater Israels, der zum Träger des göttlichen
Segens wurde. Mose wird als der Diener Jahwes angesehen, der in dessen
Auftrag Israel aus der ägyptischen Knechtschaft befreite. Diese
Interpretation von Hos 12,13f ist verständlicher als die Deutung, hier
gehe es um die Gegenüberstellung zwischen den um eine Frau dienenden
Jakob und den in Gottes Diensten stehenden Mose.

(3) Die zur Wüstenerwählungs-Tradition zählenden Texte
(9,10-17; 10,1-2.11-13a; 11,1-7; 13,4-8; 2,16f; 12,10) beurteilen
alle die Zeit vor dem Einzug Israels ins Kulturland als eine Zeit der
idealen Gemeinschaft zwischen Jahwe und seinem Volk (§ 3, 43-93).
Hosea verwendet zur Darstellung der Liebe Jahwes zu Israel das Bild
von den Trauben und Frühfeigen, die er in der Wüste fand (9,10;
10,1). den Vergleich Israels mit einer schönen und gelehrigen Jungkuh
(10,11), das Bild von Israel als Gottes Sohn (11,1) sowie die unterschiedlichsten
Motivworte (nä'är; ben - 11,1) und Verben (masa',
ra'« - 9,10a; 'abär - 10,11a; 'ahäb, gara'- l,l;jadä' - 13,5a). Es
geht hier um das Exklusivverhältnis zwischen Jahwe und Israel. Die
innige Gemeinschaft mit ihm steht so sehr im Mittelpunkt, daß das
Motiv des Murrens vollkommen außer Acht bleiben kann. Diese
Sicht sowie der Hinweis auf die Wüste berechtigt dazu, in dieser Tradition
eine Uminterpretation der Sinaitradition zu sehen.

(4) Die Blindes- Tradition ist in Hos 2,20; 6,7; 8,1; 10,4; 12,2 greifbar
, wo der Prophet den Begriff b'rit sowie die beiden Wendungen
kamt berit (2,20; 10,4; 12,2)und 'abär b'rit (6,7; 8,1) verwendet (§4,
94-137). Wenn es richtig ist. diese Stellen auf Hosea selbst zurückzuführen
, so kann man nicht von einem „Bundesschweigen" bei Hosea
reden. Er verwendet diesen Begriff dazu, um die gnädige Zuwendung
Jahwes zu seinem Volk (2,20; 8,1) und das gottlose Handeln Israels
einander gegenüberzustellen (6,7; 10,4; 12,2). Hosea verbindet mit
b''rit vor allem einen personalen Aspekt, b''rit ist bei ihm weniger ein
Rechts- als vielmehr ein Relationsbegriff.

(5) Beziehungen zur Dekalog-Tradition (tj 5, 138-167) finden sich
in 12,10; 13,4, wo Hosea die Selbstvorstellungsformel verwendet, in
8,4-6; 13,1-3, wo er gegen Israels Bilderdienst polemisiert und in
4,2a, wo er fünf Vergehen Israels nennt, die sich mit dem klassischen
Dekalog in dem Verbot des Meineids (Ex 20,7.16/Dtn 5,11.20), der
Lüge (Ex 20,16/Dtn 5,20), des Mordens (Ex 20,13/Dtn 5,17), des
Diebstahls (Ex 20,15/Dtn 5,19) und des Ehebruchs (Ex 20,14/
Dtn 5,18) in enge Beziehung setzen lassen. Der exegetische Befund
läßt sich so erklären, daß Hosea eine Vorform des Dekalogs, wie
er uns in Ex 20/Dtn 5 überliefert ist. kannte.

Die Aufnahme und Verarbeitung der Traditionen bei Hosea zeigt,
daß er die für die Glaubensgeschichte Israels wichtigen Traditionen
kennt und in seine Verkündigung in Kontinuität zur 'Tradition aufnimmt
und verarbeitet. Er nimmt weder eine radikale Uminterpretation
vor, noch ändert er ihren Aussagegehalt grundsätzlich um. Auf
Grund der extensiven Aufnahme und Indienstnahmc der Hcilstradi-
tionen Israels für die aktuelle Verkündigung ist das Hoseabuch ein
anschauliches Beispiel für die innerbiblische Rezeption von wichtigem
Traditionsgut.

Kahl, Brigitte: Armenevangelium und Heidenevangelium. „Sola
scriptura" und die ökumenische Traditionsproblematik im Lichte
von Väterkonflikt und Väterkonsens bei Lukas. Diss. Berlin/DDR
1983, 199 S.

In der exegetischen Forschung ist noch immer keine Einigung
darüber in Sicht, worin eigentlich der konkrete Anlaß für den großangelegten
Versuch des Lukas bestand, die Gesamtheit der christlichen
Überlieferung nochmals „von vorn" zu überdenken und neu

zur Darstellung zu bringen (Lk 1,3). Das hängt hauptsächlich damit
zusammen, daß sein Werk stark divergierende Tendenzen aufweist,
die nicht ohne weiteres einer einzigen Konzeption zuzuordnen sind.
Vergleicht man etwa Lk 1 mit Apg 28, so fällt es schwer, zwischen der
stark sozialkritischen Ausprägung des Anfangs („Armenevangelium")
und dem auf politische Konformität und Duldung orientierten
Schlußteil des Doppelwerkes einen Zusammenhang zu finden. Ungeklärt
ist nicht nur, in welchem Verhältnis der „Armenevangelist" zum
„Kirchenevangelistcn" Lukas steht, sondern auch deren beider Relation
zum „Heidenevangelisten".

Im Ergebnis einer Analyse der sprachlichen Tiefenstruktur des
lukanischen Proömiums geht die Arbeit von der These aus, daß die
Heidenmission der zentrale Konflikt ist, der das Doppelwerk von der
ersten bis zur letzten Zeile bestimmt. Der Übergang in die nichtjüdische
Ökumene führte zur Zeit des Lukas zur Trennung zwischen
Synagoge und christlicher Gemeinde. Letztere gerät dadurch gegenüber
Rom in eine Art „Existenz-Vakuum". Denn aus den verschiedensten
politischen und ideologisch-religiösen Gründen konnte es
nicht im Interesse der römischen Machthaber liegen, dem christlichen
„Weg" einen Raum innerhalb der Religionensymbiose des Imperium
Romanum zu gewähren. Das auffällige Bemühen des Lukas, die
Kontinuität zwischen paulinischer und jüdischer Überlieferung unter
Beweis zu stellen, ist daher diktiert vom Streben nach „Rückbindung"
an das Judentum, genauer gesagt an dessen „nicht-aufständischen"
Teil, da dieses immerhin einen - wenn auch labilen - modus vivendi
mit Rom besaß. „Sicherheit" als Programm-Wort des lukanischen
Werkes (Lk 1,4) wäre insofern wesentlich von dessen Schluß-Wort her
zu interpretieren: der „ungehinderten" Predigt des Paulus in Rom.
nachdem erwiesen ist, daß zwischen christlicher asfaleia und
römischersecuritas keine unvereinbaren Gegensätze bestehen.

Diese Problemstellung, die für den .historischen Paulus' noch nicht
absehbar war, erklärt auch das modifizierte lukanische Paulus-Bild.
Paulus selbst ,war' Jude - der lukanische Paulus muß beweisen, daß er
es ist.

Theologisch tragendes Element des lukanischen Kontinuitätsauf-
weises zwischen paulinischem Heidenevangelium und jüdisch-juden-
christlicher Überlieferung ist dabei, wie eine Exegese von Lk I -4 und
Apg 9/10 belegt, das Armenevangelium. Schon das programmatische
Auftreten Jesu in seiner Vaterstadt (Lk 4,16-30) macht deutlich, daß
die alttestamentlich-jesuänische Heilsverkündigung für „Arme.
Gefangene, Blinde, Zerschlagene" in tiefgreifende Konflikte mit den
„Vätern" führt. Dieser Väterkonflikt ist nach Lukas inhärenter
Bestandteil der jüdischen Vätertradition als solcher, die immer wieder
die Krisis zwischen gehorsamen und ungehorsamen Vätern bewirkt.
Genau an dieser Stelle ist der Anknüpfungspunkt für das Heidenevangelium
gegeben. Die der Väterüberlieferung wesenseigene „Väterrela-
livierung" bereitet den Boden für die Aufnahme von Nicht-Abrahamssöhnen
in die Heilsgemeinschaft (Lk 3,8). Das „allein" der
göttlichen Gehorsamsforderung wird zur Integrationsbasis für „alle
Menschen". So findet die Zuwendung Jesu zu den Deklassierten
innerhalb Israels - Armen, Kranken, Frauen, Zöllnern, Sündern -
ihre „volle Erfüllung" (Lk 1,1) in der Gemeinschaft auch mit den
Heiden.

Das Heidenevangelium führt also nicht nur das alttestamentlichc
Armenevangelium fort, sondern auch den damit verbundenen .Väterkonflikt
'. Die gesetzesfreie paulinische Evangeliumsverkündigung ist
so als traditionskonform, der durch sie ausgelöste Streit mit den
„Vätern" als innerjüdisch ausgewiesen. Dies erklärt zugleich, weshalb
die .sozialkritischen' Texte im Sinne des Armenevangeliums mit dem
Übergang von Jerusalem in die Ökumene (Apg8fT) praktisch völlig
verschwinden.

In einem knapp gehaltenen Rahmenteil wird versucht, die Konsequenz
dieser Ergebnisse im Kontext der gegenwärtigen ökumenischen
Diskussion zu reflektieren. Das betrifft einmal die prinzipielle Frage
nach der „Alleingeltung" der Schrift gegenüber der Tradition, wie sie
etwa durch die Lima-Erklärungen über Taufe, Eucharistie und Amt