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Ausgabe:

1985

Spalte:

745-747

Kategorie:

Kirchengeschichte: Territorialkirchengeschichte

Autor/Hrsg.:

Jakubowski-Tiessen, Manfred

Titel/Untertitel:

Der frühe Pietismus in Schleswig-Holstein 1985

Rezensent:

Hauschild, Wolf-Dieter

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Theologische Literaturzeitung 1 10. Jahrgang 1985 Nr. 10

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gische Berechnung und Darstellung möglich und notwendig ist. gehören
nach Bengel zur göttlichen „Ökonomie", zum Heilsplan, der sich
m Schöpfung und Geschichte manifestiert, und sie machen dessen
entscheidenden Bestandteil aus. Die „Apokatastasis panton". welche
eine Begrenztheit der „ewigen" Höllenstrafen impliziert und gemäß
der am Ende der Zeiten Gott alles in allem sein wird, erfahrt dabei freilich
eine eher zurückhaltende Behandlung. Aus seelsorgerlichen und
kirchenpolitischen Gründen lehnte Bengel eine öffentliche Propagierung
der Allversöhnung ab.

Demgegenüber widmete Oetinger unter Aufnahme des chronologischen
Rahmens Bcngels dem Tausendjährigen Reich nicht nur ein
ganzes Buch („Die güldene Zeit..." von 1759/61), sondern er gelangte
auch durch Hinzunahme des Gedankens vom Zwischenzustand
nach dem Tode, den er wesentlich dem Einfluß Swedenborgs
verdankte, zu einer deutlicheren Ausprägung der Lehre von der All-
Versöhnung als sein Freund, wobei er sich nicht scheute, diese auch
öffentlich zu verkünden. Im Blick auf Oetinger wird Groth durch
seine Konzentration auf den Chiliasmus und die Apokatastasis freilich
dazu verleitet, diesen auch sonst zu stark von Bengel abhängig
und zu wenig eigenständig zu sehen. Oetinger hat aber sein „System"
faktisch vor allem auch in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen
Philosophie (Leibniz, WollTu. a.) herausgebildet, was bei Bengel
fast keine Rolle spielt. Außerdem ist auch gerade die im „System"
des württembergischen Prälaten zum Ausdruck kommende Grundkonzeption
des lneinanders von „Naturgeschichte". Weltgeschichte
und Heilsgeschichte als Prozeß der Selbstoffenbarung Gottes sowohl
in formaler als auch in materialer Hinsicht viel stärker von J. Böhme
bestimmt, als es bei Groth deutlich wird. Schließlich wollte Oetinger
auch besonders mit seinen „philosophischen" Ausführungen die
•wahren Grundbegriffe" der Schrift aufweisen.

Den Höhepunkt der Entwicklung des Chiliasmus- und besonders
des Apokatastasisgcdankens im älteren württembergischen Pietismus
sieht Groth dann aber in dem „System" des Laientheologen und
Theosophen Michael Hahn erreicht, der wiederum stark von Oetinger
beeinflußt ist (Kap. V). Zwar lehnt Hahn Bengels eschatologische
Chronologie ab. aber die Vorstellung vom - einfachen - Millenium
wird von ihm noch intensiviert. Von dem Gedanken der Wiederbringung
kann sogar gesagt werden, daß Hahns theosophisches Lehrgebäude
„durch und durch" von ihm geprägt sei (S. 228IT).

Der lehrreichen Arbeit Groths ist neben einem umfangreichen
Anmerkungsteil ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein
Personenregister beigelügt. Zu bedauern ist, daß der Autor bei der
Zitierung Octingerscher Texte statt der Erstdrucke meist die für wissenschaftliche
Zwecke unzureichende Ehmannsche Ausgabe der theo-
sophischen Werke (1858-64) des Prälaten bzw. deren Nachdrucke
verwendet hat.

Ostfildern Guntram Spindlcr

Jakubowski-Tiessen, Manfred: Der frühe Pietismus in Schleswig-
Holstein. Entstehung, Entwicklung und Struktur. Göttingen: Van-
denhoeck & Ruprecht 1983. 188 S. gr. 8' = Arbeiten zur Geschichte
des Pietismus, 19. Lw. DM 44,-.

Territorialgeschichtliche Untersuchungen haben die Pietismusforschung
wesentlich befruchtet, weil sie Beiträge zu einer differenzierten
und damit wirklichkeitsgetreuen Erfassung dieses komplexen Phänomens
lieferten. Das gilt auch für-die vorliegende Arbeit, eine von Hart-
niut Lehmann betreute Kieler Dissertation, die zu einem bereits
mehrfach bearbeiteten Thema durch systematische Auswertung aller
erreichbaren Quellen (mit relativ viel Archivmaterial) durchaus neue
Aspekte beibringt, deren Relevanz über den rein tcrritorialgeschicht-
Uchen Rahmen hinausgeht.

Der Pietismus verbreitete sich in Schleswig-Holstein später als in
anderen Territorien: erste Spuren zeigten sich um 1693/94, erst nach
1700 gewann er im nennenswerten Maße Anhänger und seit 1730 (zu
einer Zeit, wo er anderwärts bereits im Niedergang begriffen war)

erreichte er seine Blüte. Vf. bearbeitet nur die Zeit vor 1730. wobei er
- nach einer instruktiven Darstellung der politischen, ökonomischen
und sozialen Voraussetzungen in den von Kriegsnöten und -folgen
geplagten Herzogtümern, die eine gewisse Disposition für die pietistische
Eschatologie und Kirchenkritik schufen - die Gesamtthematik
nicht im verlaufsgcschichtlichen Zusammenhang darstellt, sondern in
verschiedenen Längsschnitten analysiert. (Als wichtige Ergänzung sei
auf die genetisch verfahrende Darstellung von Jakubowski-Tiessen
und H. Lehmann verwiesen, in: Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte
, Band 4. Neumünster 1984, S. 269-334.)

Für die Entstehung der pictistischen Bewegung spielen als äußere
Faktoren die Nöte jener Zeit eine Rolle (S. 11-29). Aber eine
genauere sozialpsychologische Ableitung ist schwierig, so daß Vf. gut
daran tut, vor allem die Selbstaussagen der Pietisten auszuwerten, die
dem üblichen Schema entsprechen: Die Not wurde als Strafgericht
Gottes über die Sünden der Christen, insbesondere über die eklatanten
Mängel in Amtsführung und Lebenswandel der Geistlichkeit
angesehen. Die „Entfaltung des Pietismus" in der Zeit vor 1730 wird
ausführlich in einem zweiten Teil (S. 30-78) nicht chronologisch
dargestellt, sondern anhand der .. Formen der Aufnahme und Vermittlung
pietistischcr Ideen" minutiös analysiert: Durch Korrespondenz
mit Spener. Breckling und später mit Francke holten sich die
verstreuten Pietisten Rat und stärkten sich in ihrem Zusammengehörigkeitsbewußtsein
; die pietistischen Druckschriften, voran
Spcners Bücher, wurden anfangs durch den Kieler Theologieprofessor
Christian Kortholt und den nach Holland ausgewichenen Friedrich
Breckling (der 1656-60 als Geistlicher in Flensburg und Handewitt
wirkte) vermittelt, später direkt von Halle aus versandt; persönliche
Einflüsse wirkten - abgesehen von einzelnen Reisen - vor allem durch
das Studium in Halle (bis 1727 sind 274 Studenten nachweisbar,
davon 82 Theologiestudenten) und durch geschickte Personalpolitik
bei Stcllenbesetzungen.

Die sozialgeschichtlichen und politischen Aspekte thematisiert Vf.
in drei Untersuchungsgängen. Zur Diskussion über die ..sozialc(n)
Träger des Pietismus" (S. 79-101) steuert er die Erkenntnis bei. „daß
keine der in der neueren Pietismusliteratur vertretenen Thesen die
soziale Struktur des frühen schleswig-holsteinischen Pietismus voll
erfaßt" (S. 101). In der Anfangsphase fanden sich die Sympathisanten
hauptsächlich in der Geistlichkeit (bis hinauf zu den Gcneralsuper-
intendenten im herzoglichen Herrschaftsteil. Sandhagen 1689-97
und Muhlius 1697-1733. die dadurch in heftigen Gegensatz zu den
dezidiert antipietistischen Generalsuperintendenten des königlichen
Anteils, Schwanz und Dassow. gerieten); Bürger schlössen sich nur
vereinzelt und erst nach 1700 der Bewegung an. vor allem in Flensburg
und Husum; im Adel sowie in den Unterschichten fand der Pietismus
, soweit die Quellen erkennen lassen, fast keine Anhänger.
Damit hängt es zusammen, daß seine politische Bedeutung vor 1730
gering war (S. 157-167). Diese Sozialstruktur hatte u.a. zur Folge,
daß die schleswig-holsteinischen Pietisten vor 1720 wohl die Reform
der Gemeindearbeit beeinflußten, aber keine Konventikel bildeten
(S. 102-120) - ausgenommen die Separatisten in den Freistätten
Altona und Friedrichstadt, wo weitgehende religiöse Toleranz
herrschte.

Die Verhältnisse in diesen verfassungsrechtlich und politisch bemerkenswerten
Städten schildert Vf. (vor allem in dem Abschnitt über
den radikalen Pietismus S. 121-156). ohne ihren Einfluß auf die Herzogtümer
und die übrigen norddeutschen Territorien exakt bestimmen
zu können. Zu den verfassungsrechtlichen Besonderheiten
Schleswig-Holsteins gehörte ferner die Bindung an den Kopenhagener
Hof; die dortigen Anhänger des Pietismus konnten so die Bewegung
im Lande fördern. Leider geht Vf. der wichtigen Frage, wie der Früh-
pielismus mit der sog. Reformorthodoxie und dem sog. mystischen
Spiritualismus zusammenhängen, nicht ausdrücklich nach. Für beide
Strömungen hat es in Schleswig-Holstein herausragende Vertreter
gegeben, vor allem Kortholt und Breckling. Ihren Einlluß hebt Vf. in
vielen Einzelheiten hervor, wobei sich zumal für Breckling wichtige