Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1985

Spalte:

691-693

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kraml, Hans

Titel/Untertitel:

Die Rede von Gott sprachkritisch rekonstruiert aus Sentenzenkommentaren 1985

Rezensent:

Dalferth, Ingolf U.

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

691

Theologische Lileralurzcitung 1 10. Jahrgang 1985 Nr. 9

692

gut gelungene Bildreproduklioncn (u. a. eine Karikatur aus J. D. Falks
,.Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire" von 1801),
ein Literaturverzeichnis sowie indices der Personen. Orte und Zitationen
beigegeben.

Leipzig Kurt Nowak

Systematische Theologie: Dogmatik

Kraml, Hans: Die Rede von Gott sprachkritisch rekonstruiert aus
Sentenzenkommentaren. Innsbruck-Wien: Tyrolia Verlag 1984.
181 S. 8° = Innsbrucker theologische Studien. 13. Kart. ö. S.270-.

Kramls Innsbrucker Dissertation ist ein engagiertes, klar argumentierendes
und bemerkenswert lesbares Plädoyer lür die Auflassung der
Theologie als praktische Wissenschaft. Inspiriert von (rcligions)philo-
sophischen Einsichten L. Wittgensteins wird unter Verwendung von
Rekonstruktionsmethoden der sog. Erlanger Schule und in ausdrücklicher
Übereinstimmung mit der moralischen Ablehnung kritikimmuner
Argumentation durch den Kritischen Rationalismus der
Versuch gemacht, im Rückgriffauf das Theologieverständnis der Sen-
tenzenkommentarc des Hochmittelaltcrs ,,zu zeigen, was abgelehnt
wird, wenn Gott abgelehnt wird, oder was angenommen wird, wenn er
angenommen wird" (14). Resultat des Rekonstruktionsversuchs ist,
daß die unterschiedlichen Entwürfe führender Theologen des Mittelalters
in einer Auffassung der Praxisrelevanz von Theologie konvergieren
, die nach Kramls Ansicht gerade in der gegenwärtigen Situation
beträchtliche Aktualität und Attraktivität zu beanspruchen vermag
.

Nach einer knappen Einleitung (9-17). die über Motivation, Ziel
und Methode der Untersuchung informiert, wird im zweiten Kapitel
(18-65) die gegenwärtige Situation skizziert, die durch den Sinnlosigkeitsverdacht
gegenüber religiösem Reden und die Versuche zu dessen
Abwehr und Widerlegung charakterisiert ist. In diesem Kapitel ist
nichts zu lesen, was nicht längst wohlbekannt wäre. Es ist der wohl
überflüssigste Teil des Buches.

Erst mit dem dritten Kapitel (66-132). das sich der Tradition christlichen
Redens von Gott zuwendet, wird es interessant. Zunächst wird
im Anschluß an Wittgenstein eine Interpretationshypothese skizziert,
derzufolge „Religion, Glaube und Theologie nur im Rahmen einer
Kulturthcorie verstanden werden können" (71). Religion ist .kulturelle
Kontingenzbcwältigungspraxis'. die zur Orientierung und Sicherung
gemeinsamen Lebens dient; Glaube ist ..Religion, die sich ausdrücklieh
sprachlich bekennen läßt" (10). Theologie die normativinterpretierende
Theorie des im Bekenntnis Gesagten und in der Religion
Gelebten. Sodann wird gezeigt, daß der ..Großteil der sprachlichen
Elemente, die dem heutigen christlichen Sprechen von Gott zur
Verfügung stehen,. . . aus dem Mittelalter" stammen (72). Das motiviert
den Rückgang auf die Sentenzenkommentare als ..die theologische
Standardliteratur des späteren Mittelalters" (77), und zwar insbesondere
auf deren Prologe bzw. Einleitungen, da in diesen die Frage
nach dem Gegenstand und dem Wissenschaftscharakter der Theologie
verhandelt wird. Schließlich wird nach Erlanger Manier eine Interpretationssprache
aufgebaut, indem die wichtigsten Interpretationsbegriffe
wie .Handeln'. .Zweck', .Mittel', .theoretische' bzw. .lebenspraktische
Beschäftigung' und .Wissenschaft' methodisch eingeführt
werden. .Praktische Wissenschaft', der entscheidende Begriff in
Kramls These, läßt sich damit präzisieren: während die philosophische
Protowissenschaft „die elementaren sprachlichen Mittel für jede
Art von Wissenschaft zur Verfügung zu stellen" sucht und die technischen
Wissenschaften „ein Wissen um die Mittel zur Erreichung
bestimmter Zwecke vermitteln", ist praktische Wissenschaft diejenige
theoretische Bemühung, „die sich mit unseren Zwecksetzungen und
deren Begründung" beschäftigt (89).

Daß die Theologie nach übereinstimmender Auffassung der mittelalterlichen
Kommentatoren der lombardischen Sentenzen in eben

diesem Sinn praktische Wissenschaft sei. wird dann im Hauptteil
dieses Kapitels (90-132) - dem eigentlichen Zentrum der Untersuchung
- an einer Reihe exemplarischer Entwürfe aufgewiesen, die
von derGlossa des Alexander von Haies über Robert Kilwardby, die
Summa Halensis. Johannes Bonaventura. Thomas von Aquin. Wilhelm
de la Marc bis zu Johannes Duns Scotus reichen. Kramls besonderes
Interesse gilt dabei dem Franziskanertheologen Wilhelm de la
Marc, der ihm zufolge so klar wie kein anderer Theologe des Mittelalters
außer Duns Scotus den praktischen Charakter der theologischen
Wissenschaft erkannt hat. Die ganze Theologie, in Schrift und Sentenzenwerk
, wird von ihm als Gesetzeswissenschaft (Gesetz und
Gesetzesauslegung) begriffen. Ihr „Gegenstand ist das Handeln des
Menschen in der Gottesverehrung, die zu verstehen ist als Bemühung
um das Ziel, das allein um seiner selbst willen erstrebt werden kann
und soll, indem alle geschaffenen Güter diesem Ziel dienstbar gemacht
werden" (125). Glaubenssätze und die diese erläuternden theologischen
Sätze haben dementsprechend immer handlungsleitcnde
und lebensorientierende Funktion, sie sind nicht deskriptiv, sondern
präskriptiv, besitzen also „Gebotscharakter", „nicht Aussagecharakter
im strengen Sinn" (137). Dem scheinen Theologen wie Thomas
von Aquin oder Heinrich von Gent zu widersprechen, die die Theologie
ausdrücklich eine spekulative und keine praktische Wissenschaft
nannten, weil sie sich mit Gott als dem letzten Ziel des Menschen
beschäftigt und nicht nur aus bereits angenommenen Normen und
den sie begründenden Zielen Handlungsanweisungen ableitet. Doch
gerade sofern sich die Theologie mit dem letzten Ziel des Menschen
befaßt, ist sie „nach der vorgeschlagenen Interpretationssprache eine
praktische Wissenschaft". Es ist also „auch das. was Thomas und
Heinrich spekulativ nennen, präzise praktisch nach der vorgeschlagenen
Einführung des Wortes .praktisch'" (131).

Auf dieser Grundlage wird im vierten Kapitel (139-163) zu zeigen
versucht, was unter diesen Umständen mit dem Wort .Gott' gemeint
sein kann. Rede von Gott ist im Horizont einer als praktische Wissenschaft
verstandenen Theologie nicht im Sinn von Behauptungen zu
deuten, die Anspruch auf Wahrheit oder Falschheit erheben, sondern
im Sinn von Forderungen an das Handeln der Menschen, nämlich den
Forderungen nach „Gerechtigkeit. Wahrheit und Einheit im Umgang
der Menschen miteinander" (151), die allenfalls daraufhin befragt
werden können, „ob man sich nach ihnen richten solle oder nicht"
(137). Das Wort .Gott' fungiert in solcher Rede dementsprechend
weder als Eigenname noch als Prädikator. sondern als Operator, „der
den Menschen zu einem bestimmten Handeln verpflichtet und durch
dessen Verwendung der Mensch diese Verpflichtung übernimmt"
(163). Wer bekennend ,Gott' sagt, legt sich auf eine bestimmte
Lebenshaltung fest, und religiöser Glaube unterscheidet sich vom
bloßen Fürwahrhalten eben dadurch, daß er Handlungsverpflichtun-
gen nach sich zieht. Die Frage nach Gottes Existenz ist demzufolge
nichts anderes als die Frage, „ob es sinnvoll ist, ein Leben nach diesem
Maßstab zu fuhren". Sie ist positiv zu beantworten, wenn „dieser
Maßstab ein konfliktfreies Leben oder eine willkürfreie Konfliktbesei-
tigung möglich macht " (155). Freilich kann niemand durch argumentative
Mittel zur Orientierung an diesem Maßstab verpflichtet werden
, vielmehr ist das immer „eine willentliche Leistung" (167). Wer
aber durch sein Bekenntnis zum Ausdruck bringt, daß er diesen Maßstab
für sich akzeptiert, der kann und muß sich bei der Übereinstimmung
seines Handelns mit seinem Bekenntnis behaften lassen.

Im Schlußteil (164-172) wird dementsprechend gezeigt, daß der so
rekonstruierte Glaube keineswegs gegen Kritik unempfindlich ist, da
„überprüft werden kann, ob der Gläubige sich an das im Glauben
Bekannte hält" (164). Beinhaltet der Glaube an Gott doch die Verpflichtung
, keine Zwecke und Mittel im menschlichen Handeln zuzulassen
, „die in der Verletzung von Gerechtigkeit, Wahrheit und Einheit
bestehen" (151). Es gibt also durchaus Handlungen, die mit dem
Bekenntnis des Glaubens unvereinbar sind. Religiöser Glaube ist
nicht kritikimmun.

Kramls Argumentation weist nicht nur eine Fülle präziser Einsich-