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Ausgabe:

1985

Spalte:

689-691

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Blackwell, Albert L.

Titel/Untertitel:

Schleiermacher's early philosophy of life 1985

Rezensent:

Nowak, Kurt

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689

Theologische Literaturzeitung I 10. Jahrgang 1985 Nr. 9

690

1981 als Band 206 der Monographien zur philosophischen Forschung
im Verlag Anton Hain. Die jetzt vorliegende 2. Auflage (im Elwcrt-
Verlag, Marburg) stellt - abgesehen von einer Druckfehlerberichtigung
aufS. 19-einen unveränderten, fotomechanischen Nachdruck
der 1. Aufl. dar, die in der ThLZ bisher noch nicht rezensiert wurde.

Keil verhehlt nicht, daß er als Theologe bzw. Religionsphilosoph in
Kontinuität zu seinen bisherigen theologisch-philosophischen Werken
Ontologie betreibt. Dies wird nicht erst an dem letzten, krönenden
Abschnitt über „Gott" (S. 48ff) deutlich, sondern schon am Einstieg
beim Phänomen der Religion als einer einheitlichen, auf Wahrheit
Anspruch erhebenden Wirklichkeitsdeutung, die als solche notwendigerweise
die Frage einschließt nach dem, „was wahres Sein und
was bloßer Schein sei" (S. 1). Damit ergibt sich jedenfalls für eine „in
die Klarheit des Bewußtseins getretene Religion" (a. a. O.) das unabweisbare
Desiderat der Ausarbeitung einer Ontologie.

Eine solche legt Keil in beachtlicher Knappheit und Prägnanz selbst
vor, indem er in zehn Abschnitten jeweils thesenartig die Grundbegriffe
der Ontologie (z. B. Wirklichkeit, Subjektivität, Freiheit,
Unendlichkeit, Ordnung, Zeit, Gott) entwickelt. Eine jedem Abschnitt
angefügte „Anmerkung" dient einerseits der philosophiegeschichtlichen
Zuordnung und Abgrenzung der jeweiligen Hauptthesen
, andererseits Literaturhinweisen zur intensiveren Beschäftigung
.

Zwei philosophischen Strömungen weiß Keil sich (implizit und
explizit) am meisten zu Dank verpflichtet: Der transzendentalphilosophischen
Erkenntniskritik Kants sowie der Phänomenologie Hus-
serls (s. S. 6f, 14, 33). Ihre Einflüsse zeigen sich einerseits bei dem
durchgängigen Versuch, eine naive („realistische") Erkenntnistheorie
reflexionsphilosophisch zu problematisieren, andererseits in dem
Insistieren auf der notwendigen „Leibbezogenheit" (S. 4 u. ö.) aller
^ irklichkeit. Beide Akzente halten sich bei Keil aber gegenseitig so in
Bewegung, daß seine Ontologie den Charakter der Beschreibung bzw.
Analyse eines Prozesses gewinnt, u. zw. eines in sich gestuften
• .unendlichen Prozesses" (S. 43). Die damit verbundene Grundthese
von der Jnjinilesimalität des Seins" (S. 37 u. ö.) führt dann hin zum
Begriff von Gott als dem „Sein schlechthin" (S. 44 - zu unterscheiden
von Wirklichkeit, Realität, Existenz Gottes [S. 16]) bzw. präziser als
der „Allintegration des Seins" (S. 49). Dieser Gottesbegriff ist für Keil
dem christlichen Glauben gegenüber nicht indifferent, weil - so Keils
schon in früheren Schriften wiederholt vertretene These - in der Feindesliebe
Christi jene Allintegration beispielhaft geschehen und hypothetisch
vorweggenommen ist.

Auch wer Keil in dieser kühnen Verbindung von Ontologie, Theologie
und Christologie nicht zu folgen vermag, weil sie auf einer kate-
gorialen Gleichstellung (und nur graduellen Unterscheidung) von
Feind und Feindschaft (Sünder und Sünde) basiert und deswegen auch
^Wischen ..Liehe" und „Integration" nicht zu unterscheiden vermag,
wird in dieser kleinen Schrift eine Fülle von Einsichten und Fragestellungen
linden, die die vom Vorwort empfohlene meditierende Lektüre
(warum nicht auch als Basistext einer Lehrveranstaltung?) zu
e|nem lohnenden und anregenden Unterfangen macht.

Marburg(Lahn) Wilfried Härle

Blackwell, Albert L.: Schleiermacher's Early Philosoph) of Life.

Determinism, Freedom, and Phantasy. Chico, CA: Scholars Press
1982. XII. 327 S„ 13 Taf. gr. 8" = Harvard Theological Studies, 33.
Lw.$ 39.95.

Nach Jack Forstman (A Romantic Triangle. Montana 1977. - Rez.
durch H.Gerdes in ThLZ 105, 1980 Sp. 8520 liegt nunmehr eine weitere
amerikanische Arbeit zum jungen Schleiermacher vor. Sie konzentriert
sich strenger als Forstman auf die frühromantische Lebensetappe
, verzichtet aber nicht auf gelegentliche Ausblicke in die mittlere
und späte Lebens- und Werkphasc. Andererseits bezieht sie auch
die intellektuelle Entwicklung Schleiermachers vor dem Eintritt in

den frühromantischen Kreis ein. Das geschieht insbesondere durch
eine Analyse der Freiheitsschrift von 1791 /92, welche der Autor, über
den Teildruck Diltheys hinausgehend (Denkmale, 19-46), im Manuskript
zu Rate gezogen hat, das sich im Archiv der Akademie der Wissenschaften
der DDR befindet (Nachlaß Schleiermacher Nr. 133).

Die Kernthese von B.s Untersuchung läßt sich wie folgt zusammenfassen
. Schlciermachers deterministisch-empirischer Ansatz (Freiheitsschrift
) hat sich unter dem Einfluß des frühromantischen Lebens-
gefühls und Ideenguts mit dem Bewußtsein der (ethischen und religiösen
) Freiheit des Ich und der kreativen Interaktion von Ich und Welt
im Medium der Phantasie verknüpft, wobei im Phantasiebereich
romantische Überspitzungen nicht ausgeblieben sind. Die Studie ist
dementsprechend gegliedert. Parti: Determinism (1789-1796);
Part II: Freedom (1796-1799); Part III: Phantasy (1800-1804). Der
Autor entfaltet sein Thema in enger Verschränkung von problemanalytischen
und biographischen Betrachtungslinien. Die biographische
Betrachtung gewinnt mit fortschreitender Darstellung die Oberhand
(Part II. III). Man erkennt hinter dieser Verfahrensweise den Einfluß
Diltheys, welcher der isolierten philosophischen Gedankenwelt
Schleiermachers bis 1796 die lebensgeschichtlich bewegte und in ein
vielfältiges Beziehungsgcllecht eingebettete frühromantische Zeit
gegenübergestellt hatte.

Zu berücksichtigen bei der wertenden Einordnung von Blackwells
Arbeit ist deren Zielstellung. Sie möchte, da zum jungen Schleiermacher
englische Publikationen noch weithin fehlen, als Einführung
dienen. Die teilweise sehr ausführlichen Zitate sollen dem Kennenlernen
von Schleiermachers Schriften dienen. Im Blick auf die sehr
begrüßenswerte Zielstellung der Arbeit sollte der deutsche Leser die
mangelnde Berücksichtigung neuerer und neuester Forschungen (z. B.
Erwin H. U. Quapp: Christus im Leben Schleiermachers. Göttingen
1972: Fritz Weber: Schleiermachers Wissenschaftsbegriff. Gütersloh
1973; Ellert Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des
Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher. Gütersloh 1974) verschmerzen
können. Gleiches gilt für die moderne Romantikforschung
, die allerdings Schleiermacher bislang noch kaum einbezogen
hat, sonst aber Perspektiven eröffnet, die auch für die Schleier-
machcrinterpretation von Belang sind.

Der prononcierten Hervorhebung von Schleiermachers Determinismus
im ersten Teil des Buches entspricht die Unterstreichung der
Phantasie als determinierte Möglichkeit freier Ideenassoziation in
dessen letztem Teil und im Epilog "People as Poets" (29711). Phantasie
wird als anthropologische Kategorie charakterisiert und erhält die
Bezeichnung poetisch beigelegt. "Thus what Schlegel has asserted of
poets, what the Speeches have asserted of theologians, what Novalis
has asserted of historians. the Soliloquies nowassert ofall of us. ofour
nature'. We are all poets. We all pereeive the world aecording to the
direction ofour phantasy" (298). Der zwischen die Pole Determinismus
und Phantasie eingelagerte Mittelteil („Freiheit") versucht Freiheit
zunächst in ethischer Dimension als Abwesenheit von Zwang bei
Abbau der Begrenzungen des Menschen und balancierter Harmonie
von Vernunft und Sinnen nach drei Richtungen hin zu entfalten: Freiheit
als self-expression, als appropiation und als self-cultivation. Die
ethische Dimension wird durch die religiöse abgerundet und erweitert
("mystical freedom" im Einswerden von Ich und All).

Blackwcll versteht Determinismus, Freiheit und Phantasie nicht als
"key coneepts", wohl aber als "clarifying coneepts" (30- Dem ist
gewiß zuzustimmen. Die Begriffstriade des Autors macht erklärlich,
warum theologische Aspekte, namentlich bei den Reden „Über die
Religion", eher im Hintergrund bleiben. Auf manche anregende Einzelbeobachtungen
, die sich aus Blackwells Ansatz ergeben (z. B. Vergleich
von Schleiermachers und Schillers ethischem Ideal - S. 1781T).
kann hier nur hingewiesen werden. Als Forschungsanregung ergibt
sich indirekt aus der Studie, dem Zusammenhang von Determinismus
und Gottesfrage bei Schlciermacher weiter nachzugehen. Das würde
die Einbeziehung weiterer früher Schriften und Manuskripte, die
Blackwell nicht anvisiert hat, erforderlich machen. Dem Buch sind