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Ausgabe:

1985

Spalte:

688-689

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Keil, Günther

Titel/Untertitel:

Grundriss der Ontologie 1985

Rezensent:

Härle, Wilfried

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Theologische Literaturzeitung I 10. Jahrgang 1985 Nr. 9

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Der Rückblick auf das vorkonziliare Ordensverständnis stellt in
gedrängter Weise die Lehre Thomas' von Aquin vom Ordensstand als
dem Stande der Vollkommenheit dar, die durch die Erhebung des
Aquinaten zum allgemeinen Lehrer der katholischen Theologie durch
Leo XIII. (1880) offizielle Geltung erhielt. Die Grundzüge des
thomanischen Ordensverständnisses sagen: Letzte Bestimmung des
Menschen ist die christliche Vollkommenheit. Ihr Wesen ist die
Liebe, die vornehmlich in der Liebe zu Gott besteht. Dazu sind alle
Menschen berufen und gehalten. Es gibt zwei Wege dahin, die sich
durch die Wahl der Mittpl unterscheiden. Dereine folgt dem allgemeinen
Gebot der Gottcsliebe. der zweite darüberhinaus den evangelischen
Räten, die auf Erlaubtes zu verzichten raten und zu einer spezifischen
Vollkommenheit führen. Diese Unterscheidung von Gebot
und Räten führt zu einer Trennung von zwei Vollkommenheitsständen
, nämlich den des normalen Christenstandes der Laien und dem
des Rätestandes. Dabei gilt der Rätestand als die Wahl des besseren
Weges. Die Ordensleute als Rätechristen sind den Laien als Gebotschristen
voraus.

Thomas trifft eine weitere folgenschwere Entscheidung: die Vollkommenheit
besteht erstrangig in der Gottesliebe und zweitrangig in
der Liebe zum Nächsten. Die Nächstenliebe wird verdienstlich erst im
Blick auf Gott; alles aber, was direkt zur Gottesliebe gehört, ist seiner
Art nach verdienstlicher. Das führt zur Höherbewertung der Kontemplation
vor der Aktion. Ordensgemeinschaften mit kontemplativer
Zielsetzung rangieren höher als solche, deren spezielles Ziel die
Nächstenliebe ist. Die persönliche Heiligung tritt dabei stark in den
Vordergrund. Apostolische und karitative Tätigkeit sind in die
Grundausrichtung des Ordenslebens nicht voll integrierbar, obwohl
sie mit ihm verbunden werden können.

In vorkonziliarer Zeit stand noch Pius XII. auf der Position des
Thomas. Die Zeitverhältnisse forderten ihn aber zu einer apostolischen
Orientierung der Kirche heraus, in die er auch das Ordensver-
ständnis einbezog. Der apostolische Charakter der Kirche fordert,
nicht nur für das eigene Heil, sondern auch für das des Nächsten auf
die vollkommenste Weise zu sorgen. Vollkommene Liebe beinhaltet
Gottesliebe und Nächstenliebe. Kontemplation und Aktion rücken
bei Pius XII. näher zusammen unter dem Blickwinkel der Rettung
dieser Welt. Ordensleben ist eingebunden in das Leben der ganzen
Kirche und apostolisch engagiert. So führt Pius XII. an das Konzil
heran mit einem wachen Gespür für die Zeitverhältnissc und die.
Bereitschaft zum Wandel des Ordensverständnisses (22-41).

Die Konzilsdebatte über das Ordensverständnis fand also bereits
eine Ausgangsposition vor. Der erste Entwurf der einschlägigen Kapitel
in Lumen gentium geriet zwar noch ganz traditionalistisch, löste
aber eine vehemente Diskussion aus, so daß der zweite Entwurf bereits
den Durchbruch zu einem erweiterten Ordensverständnis brachte, das
dann in weiteren Entwürfen zu Lumen gentium und Perfcctae carita-
tis noch entfaltet wurde. In diesem Teil seiner Untersuchung verfolgt
Vf. minutiös den Gang der Verhandlungen, ohne daß die Lektüre
dabei an Spannung verlöre. Ein reicher gelehrter Apparat sorgt für
Umfcldorientierung. Quellen werden weithin ausgedruckt.

Der systematische Teil stellt die in Lumen gentium capp. V und VI
und in Perfectae caritatis gewonnene Position dar, wobei Perfcctae
caritatis als der leicht traditionellere Text erscheint. Im ganzen ergibt
sich: Die Gefahr des bisherigen Ordensverständnisses, die U Mersch ie-
denheit der Ordensleute von den anderen Christen überzubetonen, ist
überwunden. Das ist möglich geworden durch das in Lumen gentium
gewonnene neue Verständnis des Heiligkcitsbegriffs der Kirche. Die
Heiligkeit ist eine göttliche Gabe an die Kirche. Alle sind zur Heiligkeit
berufen. Die allgemeine Berufung zur Heiligkeit ist auch die
Grundlage für die Ordenshciligkeit. Dabei ist wichtig: Christliche
Heiligkeit ist weniger moralische Vollkommenheit als vielmehr Partizipation
an der Heiligkeit Christi, unseres Erlösers und Hauptes (132).
Diese Heiligkeit ist von Christus gestiftet kraft seiner Hingabe und
seines Liebeswerkes; sie ist Gabe und Wirkung des Heiligen Geistes.
..Die Christen sind nicht durch ihre Werke, sondern durch göttlichen

Ratschluß berufen'* (135). Vf. folgert daraus, daß nicht Anstrengungen
des Menschen, sondern die Gnadengaben Gottes der Weg zur
Heiligung sind. Er sieht den Aszetismus, wie er vor allem seit dem
19. Jh. die katholische Frömmigkeit bestimmt hat, für überwunden an
(135 in Anschluß an F. Wulf vgl. Anm. 45).

Die evangelischen Räte werden in Lumen gentium 42,3 eingebunden
in die ..vielfachen Räte", die Jesus seinen Jüngern vorlegt und
durch die die Heiligkeit der Kirche gefördert wird. Eine christliche
Lebensform, die sich speziell den drei klassischen evangelischen
Räten öffentlich verpflichtet und als Stand anerkannt ist, kann daraus
keinen besseren Weg zur Heiligkeit ableiten (140). Vielmehr empfangen
beide Lebensformen, die der Ordcnsleute und die der anderen
Glieder des Gottesvolkes, ihre Würde davon, daß sie durch Christi
Heiligkeit konstituiert sind und dem Wohl der ganzen Kirche gewidmet
sind (188; 273). Mit dieser ekklesiologischen Einbindung des
Ordensverständnisses gewinnt das Zweite Vat. Konzil die Freiheit, die
Überbewertung der kontemplativen Orden zuungunsten der tätigen
Orden zu überwinden. Es überwindet auch die Sicht, nach der das
Ordcnsleben vor allem der persönlichen Vervollkommnung zu dienen
hatte ohne Rücksicht auf die ganze Kirche. Dies aber soll nicht
heißen, kontemplativer Lebensweise nun etwa den Abschied zu
geben. Die Gesundheit des Leibes Christi bedarf der Beter und des
Betrachtern der göttlichen Geheimnisse ebenso wie der tätigen Liebe.
Beide Lebensweisen sind zusammengebunden im apostolischen,
missionarischen Grund der Kirche (195). So bleibt der Spielraum der
Eigenart der Ordensinstitutc gewahrt, und ihr geistlicher Reichtum
wird fürdic ganze Kirche fruchtbar gemacht. Vf. sieht hierein charismatisches
Verständnis des Ordensstandes im Sinne des Zusammen-
spicls verschiedener Gaben des Geistes zum Wohle des Ganzen
(266-284).

An einem Punkte bleibt der evangelische Leser dieses im übrigen
ökumenisch äußerst fruchtbaren Buches kritisch hängen, und /war
dort, wo nach Lumen gentium 39 die Ordensleute, indem sie gemäß
den evangelischen Räten die Lebenform Christi ausdrücklicher nachahmten
und in der Kirche zur Geltung brächten, den Dienst hätten,
ein besonderes Zeichen zu sein; sei doch das Leben nach den Räten
ein hervorragendes Zeugnis der Heiligkeit, die die Kirche aus der
Heiligung durch Christus empfangen habe. „So wurzelt die soteriolo-
gische Zeichenhaftigkeit des Ordenslebens, die so nur diesem Stand
gegeben ist, in der ausdrücklichen Nachfolge und Nachahmung
Christi, wie sie durch Übung und Versprechen der drei Räte gesetzt
ist" (265). Hier ist zugunsten einer verkürzten Imitatio-Christi-
Anschauung die Gefahr einer höheren Wertschätzung des Ordensstandes
vordem allgemeinen Christenstand nicht vermieden.

Doch das mindert nicht den Wert des Buches. Er ist zweifach.
Erstens macht das Buch durch seine Konzilsinterpretation die dort
gewonnenen geistlichen Einsichten ansichtig. Zweitens vermittelt es
einer ersten nachkonziliaren Generation den Geist der Erneuerung,
den Johannes XXIII. zu Beginn des Konzils so sehr ersehnte. Vf.
möchte zudem mit dem Erreichten nicht stehenbleiben. Er nimmt an.
daß der Wandel des kirchlichen Ordensverständnisses noch nicht zum
Abschluß gelangt ist, und er verspricht sich, daß „vom lebendigen,
nicht planbaren Wirken des Heiligen Geistes", dem die Kirche in
gelehriger Gefolgschaft mit ihrer Lehre diene, das Ordcnsleben auch
künftig Wandlungen offen bleibe (288).

Pönitz bei Leipzig Christoph Michael Haufe

Philosophie, Religionsphilosophie

Keil, Günther: Grundriß der Ontotogie. 2. Aufl. Marburg/Lahn:
Elwert i. Komm. 1984. X, 53 S. gr. 8°.

Die - vom Umfang her - kleine Schrift des in Marburg lehrenden
Systematikers und Rcligionsphilosophen erschien in erster Auflage