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Ausgabe:

1985

Spalte:

677-678

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schulz, Günther

Titel/Untertitel:

Die theologiegeschichtliche Stellung des Starzen Artemij innerhalb der Bewegung der Besitzlosen im Rußland der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert 1985

Rezensent:

Döpmann, Hans-Dieter

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677

Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 9

678

Dogmen- und Theologiegeschichte

Schul/. Günther: Die theologiegeschichtliche Stellung des Starzen
Artemij innerhalb der Bewegung der Besitzlosen im Rußland der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Erlangen: Lehrstuhl Tür Geschichte
und Theologie des christlichen Ostens 1980. XXIX,
295 S.. Anhang: 28 S. gr. 8* = Okonomia, 15.

Bisher hat man sich, wie Vf. meint, zu sehr damit begnügt, die Vertreter
der sogenannten Besitzlosen und der Josifljanen nur nach ihrer
Einstellung zum Landbesitz der Klöster und der Behandlung der
Häretiker zu sehen. In seiner bereits 1970 an der Theologischen
Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald verteidigten
Dissertation, die nunmehr im Druck vorliegt, unternimmt es der
Naumburger Kirchenhistoriker, die hinter den Gegensätzen dieser
monastischen Richtungen stehende theologische Eigenart herauszuarbeiten
. Nachdem Artemijs Theologie aus katholischer Sicht (R. M
Mainka) untersucht worden ist, will Schulz eine Darstellung aus protestantischer
Sicht geben. Dabei beschränkt er sich, unter Ausklammerung
der litauischen Exilperiode, auf Artemijs Sendschreiben aus
dessen Moskauer Zeit.

Im L. Kapitel (S. 1-18) gibt Vf. einen Überblick über die gesellschaftlichen
Verhältnisse, die kirchlichen, theologischen und politischen
Kräfte und insbesondere die unterschiedlich geprägten
Refoimbewegungen im Rußland des 15./16.Jh. Das 2. Kap.
(S. 19-32) skizziert die Forschungsergebnisse der letzten hundert
Jahre. Das 3. Kap. (S. 33-84) behandelt die Moskauer Periode des
Lebens und Wirkens Artemijs, stellt seine Entwicklung im zeitgeschichtlichen
Bezug dar und charakterisiert die leider nur zum Teil
erhaltenen Sendschreiben. Im 4. Kap. (S. 85-159) wird Artemijs
Theologie nach seinen Sendschreiben der Moskauer Zeit untersucht.
Um Artemijs Verhältnis zu den anderen Hauptvertretern der Besitzlosen
zu verdeutlichen bzw. die ganze Bewegung in ihrer Differenziertheit
zu charakterisieren, behandelt Vf. zum Vergleich die Theo-
'ogie Nil Sorskijs (Kap. 5, S. 160-170), Vassian Patrikeevs (Kap. 6,
S. 171-197) und Maxim Grcks (Kap. 7. S. 198-233), untersucht im
8v Kapitel (S. 234-255) die theologiegeschichtliche Stellung Artemijs
innerhalb der Bewegung der Besitzlosen und schließlich im 9. Kap.
(S. 256-294) die Grundzüge der Theologie der Gegner Artemijs und
Artemijs Prozeß. Als Anhang wird das wichtigste Sendschreiben
Artemijs in deutscher Übersetzung geboten.

In vielfach mühevoller philologischer Kleinarbeit bemüht sich
Vf. um exakte Inhaltsbestimmungen der slawischen Begriffe, versucht
durch vergleichende Analyse der verschiedenen Handschriften
die besten Lesarten zu finden und durch eingehende Zitatnachweise
die theologischen Anknüpfungspunkte darzulegen. Die nach Umfang
und Inhalt begrenzten Sendschreiben erlauben es nicht, ein vollständiges
theologisches System Artemijs zu entfalten, es ist überhaupt
fraglich, ob Artemij über ein „System" verfügte.

Als Zentrum von Artemijs Theologie sieht Schulz jenen „hermc-
neutischen Zirkel, der um die beiden Pole der Gebote Christi und der
-verbindlichen' bzw. .göttlichen Schrift' schwingt" (S. 254). Sein
Schrift- und Traditionsverständnis ist ein kritisches. „Verbindliche
Schrift" und damit norma normans ist für Artemij das Neue Testament
, vor allem die Evangelien. Darüber hinaus gelten als Autorität
die Väterschriften zusammen mit AT und NT als „göttliche Schrift",
sofern sie mit dem NT in Einklang stehen. Artemij verfügt über einen
materialen Kanon: Christi Gebote. „Gebote Christi" und die „verbindliche
" bzw. „göttliche Schrift" legen sich gegenseitig aus. Das
Liebesgebot ist sowohl gegenüber der Tradition der Väter als auch
gegenüber den Kanones die entscheidende kritische Instanz. Was den
■ ■Geboten Christi" oder der „göttlichen Schrift" nicht entspricht, wird
verworfen. Es ist Schulz zuzustimmen, daß bei Artemij kein Schriftverständnis
im Sinne des protestantischen sola-scriptura-Prinzips
vorliegt, sondern daß er die auch in der westlichen Reformation aufbrechenden
Probleme „vom orthodoxen Standpunkt und mit orthodoxen
Denkmöglichkeiten zu lösen sucht" (S. 153).

Abweichend von der gängigen Meinung hat Nil Sorskij nach
Schulz' Ansicht die Bewegung der Besitzlosen beeinflußt, aber nicht
begründet. Sein Denken war vom sinaitischen Hesychasmus geprägt.
Als eigentlicher Begründer der Besitzlosen hat Vassian Patrikeev den
Hesychasmus aufgegeben und sich stattdessen dem Denken von
Basileios d. Gr. zugewandt. Der den Höhepunkt der Bewegung der Besitzlosen
darstellende Artemij hat die bei ihnen lebendigen Traditionen
verbunden und vollendet. Er übernimmt Nils seelsorgerliche
Weisheit ohne den Hesychasmus. An die Stelle des geistigen Gebets
tritt mit Bezug auf Basileios das Tun der Gebote. In seinen theologisch
-relevanten Gedanken vertieft er Vassians Kritik an den
Kanones und Maxims Gebotsverständnis. Nicht so sehr bei Nil als
vielmehr bei Artemij findet sich eine theologisch begründete Traditionskritik
. In der Frage des Landbesitzes der Klöster folgt Artemij
nicht der radikalen Haltung Vassians, sondern der gemäßigteren
Maxims. Er lehnt jede Bestrafung der Häretiker, auch der unbußfertigen
, ab.

Doch Artemijs Leistung ist nicht zum Tragen gekommen. Mit der
Verurteilung Artemijs als des letzten und bedeutendsten Vertreters
der Besitzlosen wegen Häresie im Jahre 1554 wurde „aus der orthodoxen
Kirche und dem russischen Staat für Jahrzehnte - ja soll man
sagen für Jahrhunderte - der spirituell-lebendige, theologischkritische
Geist" verbannt (S. 1). Auch wenn man in manchen Fragen
unterschiedlicher Meinung sein kann, bietet die vorliegende Arbeit
wesentliche Erkenntnisse und Denkanstöße.

Berlin Hans-Dieter Döpmann

Gallagher, Eugene V.: Divine Man or Magician? Celsus and Origen
on Jesus. Chico, CA: Scholars Press 1982. V, 207 S. 8' = SBL. Dissertation
Scries, 64. $ 13.50.

Seit Reitzenstein 1910 den Begriff des tMbC nvüpwnoi in die Forschung
eingeführt hat, ist diese Vorstellung verschieden benannt (bes.
auch als Ötfa; dvrjp) zu einer beliebten Kategorie wissenschaftlichen
Arbeitens geworden, die freilich wenig definiert ist und eher eine
Idealkohstruktion darstellt. Immer wieder hat es Anstrengungen gegeben
, den Begriff mit historischem Material aufzufüllen. Bereits die
Aufarbeitung der Forschungsgeschichte durch G. (S. 2-33) macht
deutlich, daß es nicht gelungen ist, diesem Begriff eine bestimmte
antike Erscheinung zuzuordnen. Dennoch unternimmt es G. mit
großem methodischen Aufwand, die in des Origenes Contra Celsum
vorliegende Auseinandersetzung nach Kriterien zu durchsuchen, die
für den divine man gelten können. Das Ergebnis ist negativ. Die weitläufigen
Inhaltsangaben und Analysen der Argumente und Argumentationsweisen
bringen nichts ein. Bezeichnend ist schon, daßG. meist
divine man durch candidate for divine Status ersetzt. Es geht nicht
mehr um das geschlossene Bild eines Gottesmannes, sondern um
Eigenschaften, die ihren Träger als solchen qualifizieren könnten.
Von diesen Eigenschaften bleibt aber letztlich auch nur die eines
FMEpyeTijQ. Wie weit gespannt aber dieser Begriff ist. zeigt das von G.
vor allem aus Inschriften beigebrachte Material (S. 140-150). Weder
Kelsos noch Origenes haben die Kategorie des divine man. Vielmehr
kämpft Origenes für die Gottheit Jesu, die Kelsos bestreitet. Dieser
wiederum arbeitet mit der Kategorie des Magiers als eines Betrügers,
und er sucht Jesus hier einzuordnen. Von den verschiedenen Kategorien
von Kandidaten bleiben nur die alten Weisen, denen Kelsos den
Titel Oeüx; dvrjp zuzugestehen bereit ist, und von diesen wird keiner
genannt (S. 96-116). Die ausweitende Untersuchung anderer Quellen
liefert keine neuen Gesichtspunkte: Für Lukian ist Alexander von
Abunoteichos der falsche Prophet, der Apollonios von Tyana des
Philostrat ist eher ein Weiser, der aufgrund seiner ethischen Qualitäten
göttliche Bezeichnungen erhält, und bei dem von Philostrat abhängigen
Hierokles ist er noch mehr zum gottgefälligen Menschen