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Ausgabe:

1985

Spalte:

666-668

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schneider, Gerhard

Titel/Untertitel:

Die Apostelgeschichte. II. Teil. Kommentar zu Kap. 9,1 - 28,31 1985

Rezensent:

Burchard, Christoph

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Theologische Litcraturzeitung 1 10. Jahrgang 1985 Nr. 9

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sich abgerundeten, ursprünglichen schriftstellerischen Konzeption zu
tun haben, einer einheitlichen dramatischen Erzählung, einem unge-
nähten Rock. Alle berichteten Ereignisse wollen als integrierende
Teile dieser einheitlichen Erzählung verstanden werden, und nur
dieser in sich selbst ruhenden 'story world of Mark's Gospel' wendet
sich die vorliegende Untersuchung zu.

So beginnt mit einer möglichst wortgetreuen, auf Kapitel, Verse
und Perikopenabgrcnzungcn verzichtenden Übersetzung des Markusevangeliums
, das in seiner schriftstellerischen Einheit auf sich wirken
zu lassen der Leser eingeladen wird.

Ein zweiter Abschnitt befaßt sich mit dem Erzähler und seiner
Erzähltechnik. Der Erzähler hat seinen Plan, sein Ziel und seine
Absicht, in deren Rahmen er .allwissend' ist und seine Urteile fällt.
Alle erzählerischen Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, setzt er ein.
um den Leser Tür seinen eigenen Standpunkt Zugewinnen.

Der dritte Abschnitt deutet die .Settings' der Erzählung. Weg und
Wüste, Fluß und See, Berg und Ebene, Galiläa und das Heidenland,
öffentliche und esoterische Belehrung sind nicht zufällige Lokalitäten,
sondern aufschlußreiche .Ereignisse', die den Leser daraufhinweisen.
>n welcher Richtung sich die Erzählung jeweils bewegt, und alle
-Settings' kulminieren in der Reise nach Jerusalem.

E>er vierte Abschnitt schildert die Grundlinien der Handlung, vor
allem die Entwicklung des dramatischen Konflikts, der seinen Höhe-
Punkt in Jerusalem erreicht. Ausgangspunkt der Handlung ist die
Proklamation der Herrschaft Gottes durch Jesus, die, irdisch verbor-
8W>, sich auch den Jüngern nur unvollkommen enthüllte, dem Leser
aber in Jesu Weg vor Augen liegt. Der Leser beobachtet auch, wie die
durch Jesus repräsentierte Gottesherrschaft in Konflikt mit den
dämonischen Mächten und jüdischen Autoritäten gerät, welche,
während die Jünger versagen, am Kreuz scheinbar triumphieren.

Ein fünfter Abschnitt vertieft diese Beobachtungen durch eine
Beschreibung der .Charaktere' Jesu, der jüdischen Autoritäten, der
Jünger und der .kleinen Leute', der Volksmenge.

Abschließend fragen die Verfasser nach der Einheit, zu der sich die
verschiedenen Aspekte der Erzählung durch den Impuls des allgegenwärtigen
Erzählers fügen. Sic ergibt sich einerseits aus der Optik des
• idealen' Lesers, den der Erzähler unter die Herrschaft Gottes ruft, die
Selbstverleugnung, Gottvertrauen und Freiheit zur Nächstenliebe
bedeutet. Dieser .ideale' Leser wehrt sich nicht wie die Gegner Jesu
gegen die Herrschaft Gottes, sondern er erkennt sie im Unterschied zu
den Jüngern trotz ihrer Verborgenheit an, ja, er ist bereit, Jesus um der
Herrschaft Gottes willen auch in den Tod zu folgen, im Glauben
gewiß, daß der verborgenen Herrschaft Gottes die offenbare folgen
wird. Der abrupte Schluß des Markusevangeliums ist in diesem Sinn
ZUm Leser hin offen und lädt ihn ein, anders als die Frauen nicht zu
schweigen, sondern öffentlich die Herrschaft Gottes zu bekennen. Der
heutige Leser kann sich in diesem .idealen' Leser weitgehend wiederfinden
.

Andererseits spricht das Markusevangelium in seiner schriftstellerischen
Einheit zu dem .realen' Leser, nämlich zu dem Christen, der
Jüngst die Zerstörung Jerusalems und des Tempels erlebte, wo er die
Wiederkunft Jesu erwartet hatte. Dieser Leser fragt sich, ob er nun den
Anbruch der Gottesherrschaft überhaupt noch erwarten könne und
ob Jesus wirklich der Messias sei. Das Markusevangelium zeigt ihm.
wie alle Weissagungen Jesu sich erfüllt haben, nicht zuletzt die Ansage
des Gerichts über Israel und die Ankündigung der gegenwärtig drohenden
Verfolgung, so daß aller Grund besteht, auch der Ankündigung
des jetzt bevorstehenden öffentlichen Anbruchs der Herrschaft
Gottes Glauben zu schenken, eine, wie der heutige Leser weiß, irrige
Erwartung.

Reynolds Price. der dem Buch ein Vorwort mitgibt, ist überzeugt,
daß die Papiasnotiz zutrifft und auf unser Markusevangelium zu
beziehen sei: Das originale und einheitliche Werk des Petrusbegleiters
Markus beruht so, wie es uns vorliegt, auf 'personal historical
niemory". Price begreift die von ihm eingeleitete Markusdeutung also
wie Wflke, der I838 als erster das Markusevangelium als ursprüngliches
Werk schriftstellerischer Kunst erklärte, und wie Weiße, der im
selben Jahr dies literarische Kunstwerk dem Petrusbegleiter Markus
zuschrieb.

Rhoads und Michie bezweifeln dagegen die Richtigkeit der altkirchlichen
Traditionen ('clues from the story itself weigh against them',
145) und nennen die story world 'created by the author' (142; vgl. 4).
Sie scheinen also, ohne sich freilich präzise zu äußern, Markus eher
mit Bauer und Volkmar für einen Lehrdichter zu halten.

Für die schriftstellerische Deutung des Markusevangeliums als
solche trägt diese Differenz nicht viel aus, wie denn auch Bauer und
Volkmar sich im wesentlichen auf Wilke gestützt haben. Diese historische
Erinnerung weist aber auf ein erstes Manko der vorliegenden
Untersuchung hin, die - ein Literaturverzeichnis fehlt - in den
Anmerkungen nur neuere englischsprachige Literatur nennt. Wer zu
neuen Ufern aufbricht, sollte die Spuren der Vorgänger nicht ignorieren
. Sowohl Weiße wie Bauer wie Volkmar - Wilke hat sich nicht
wieder geäußert - haben früher oder später eingeräumt, daß Markus
jenes fugenlose Original, für das sie das älteste Evangelium hielten,
doch nicht sei, und in der Tat sind literarische Brüche vielfältiger Art
im Markusevangelium nicht zu übersehen. Die Unterscheidungeines
.idealen' und eines .realen' Lesers, welche die Autoren für nötig hielten
, dürfte in ihren wesentlichen Aspekten auf zwei literarische
Schichten im Markusevangelium verweisen.

Ein zweites Manko besteht darin, daß für die Verfasser form- und
redaktionsgeschichtliche Fragestellungen nicht existieren. Man kann
diesen methodischen Zugängen zu den synoptischen Evangelien kritischer
gegenüberstehen, als es heute in der Regel der Fall ist. aber man
darf die ihnen zugrundeliegenden Beobachtungen nicht ignorieren,
wenn man nach der schriftstellerischen Leistung des Evangelisten
Markus fragt. Daß sich das Markusevangelium aus Perikopen zusammenfügt
, die, wenn sie auch keinen .Sitz im Leben' im Sinne der
Formgeschichte haben, doch je eine kontingente Aussage machen,
läßt sich nicht bestreiten, und die Frage, ob sich bei Markus nicht
Tradition und markinische Redaktion unterscheiden lassen, muß
gerade derjenige stellen, der Markus als Schriftsteller würdigen will.
Dazu bedarf es freilich differenzierender exegetischer Kleinarbeit,
die - das ist ihr fundamentales Manko - der vorliegenden Untersuchung
gänzlich abgeht, welche einseitig von einer Idee und einer
Beobachtung beherrscht wird.

Diese kritischen Bemerkungen sollen freilich nicht den Respekt vor
dem Versuch mindern, Markus primär als Schriftsteller zu verstehen.
Rhoads und Michie haben richtig beobachtet, daß .Charaktere'.
Handlung. .Settings' und Stil bzw. Erzählkunst im Markusevangelium
zu uniform sind, als daß die Aufstellungen der formgeschichtlichen
Schule dem Markusevangelium im wesentlichen gerecht werden
könnten. Diese alte Einsicht, die einst die Markuspriorität und die
Zwei-Qucllen-Theorie aus sich heraussetzte, müßte freilich mit
größerer Akribie und weniger großzügig vorgetragen werden, will sie
ihren wissenschaftlich fundierten Rang-wenn auch nicht unbedingt
in der von Rhoads und Michie skizzierten Gestalt - wiedergewinnen
.

Berlin (West) Walter Sehmithals

Schneider. Gerhard: Die Apostelgeschichte. II. Teil. Kommentar zu
Kap. 9,1-28,3!. Frciburg-Basel-Wien: Herder 1982. 440 S. gr. 8'
= Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament. V.
2. Lw. DM 98.-.

Der erste Band erschien 1980 (ThLZ 108. 1983 Sp. 117-119). der
zweite ist erfreulich schnell nachgekommen. Er enthält außer der
Auslegung von Apg9-28 sechs Seiten Literaturnachträge (13 neue
oder neu aufgelegte Kommentare, meist freilich populär, aber es
fehlen noch W. Sehmithals 1982 und G. Schille 1983), zwei weitere
Exkurse (Paulus, ..Apostelkonzil" und ..Aposteldekret"). Register der
griechischen Wörter und der antiken Autoren zu diesem Band ent-