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Ausgabe:

1985

Spalte:

627-629

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wiedemann, Hans-Georg

Titel/Untertitel:

Homosexuelle Liebe 1985

Rezensent:

Schulz, Hansjürgen

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Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 8

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Auch wenn die katholischen Gemeindeglieder in Fragen besonders
der Geburtenregelung sich weithin der Lehre der Kirche nicht beugen,
kann doch die Kirche zu einer Aufwertung der Ehe beitragen
(VI, 67-79). Nicht ohne Mühe, aber doch in der Intention hat die
Kirche den Vorrang der Liebe in der Ehe anerkannt, auch wenn darüber
die Sinnenhaftigkeit der Liebe nicht immer deutlich festgehalten
worden ist: In diesem Zusammenhang setzt sich Vf. kritisch mit entsprechender
spiritualisierender Literatur von Karol Wojtyla auseinander
. Ehe als Sakrament aber will das ganze Leben durchdringen und
erfassen, weil sich in ihr Schöpfung ereignet, der Bund Gottes mit den
Menschen „bezeichnet, bezeugt und fortgesetzt" sowie „das kommende
Gottesreich eschatologisch vorweggenommen ist" (76). Recht
gelingende Ehe nimmt die brüderliche Beziehung zwischen allen Menschen
im Eschaton vorweg. Dieser letzte Gedanke ist biblisch kaum zu
begründen und mutet fremd an, ja widerstreitet Lukas 20, 35.

Das vorletzte Kapitel (VII, 80-101) bietet theologische und anthropologische
Grundüberlegungen zum Zusammenleben von Mann und
Frau und versucht, sie mit sozial- und sexualethischen Überlegungen
zu verbinden. Moderne anthropologische Erkenntnisse werden theologisch
aufgenommen, begrenzt und weitergeführt. Dabei kommen
Bibel und Gegenwartsäußerungen theologischer Art mit zu Wort. Es
geht auch hier nicht unkritisch gegenüber der eigenen Kirche und
deren öffentlichen Verlautbarungen zu.

Für evangelische Sexualethiker dürfte in dem Buch einiges zu lernen
sein. Hier wird das Bemühen sichtbar, gegenwartsnah, traditionskritisch
und offen den gewandelten Normen und Werten zu
begegnen, um sie zugleich vor dem Pessimismus des Mißlingens zu
bewahren und die Ehe als Entwurf mit einer Hoffnung für die Zukunft
des Zusammenlebens der Geschlechter zu verbinden. - Über dem
Versuch zu lernen wird der Begriffsstreit über den Charakter von Normen
und Werten nicht ausbleiben. Geistliche und menschliche Urteile
werden hier oder da anders ausfallen; besonders wenn es um den
sogenannten „Sakramentscharakter" der Ehe geht und um eine neuartige
, dennoch deutliche Neuauflage katholischen ethischen Denkens
im Schema von Natur und Übernatur. Dennoch haben wir es mit
einer erfreulich klaren Art der Darstellung zu tun, die offen und frei
zugleich die derzeitige Entwicklung der Geschlechterbeziehungen
betrachtet, beurteilt und mit Vorschlägen für eine veränderte Gestaltung
bedenkt.

Berlin Friedrich Winter

Wiedemann, Hans Georg: Homosexuelle Liebe. Für eine Neuorientierung
in der christlichen Ethik. Mit einem Vorwort von Manfred
Josuttis und einem Gespräch mit Helmut Kentier unter Mitarbeit
von Paul Berbers, Hans-Peter Föhrding. Rolf Gindorf und den
Beantwortern eines Fragebogens. Stuttgart-Berlin: Kreuz Verlag
1982.220 S. 8'. Kart. DM 26,-.

„Über das Thema dieses Buches kann man nicht reden und nachdenken
, ohne der eigenen Betroffenheit innezuwerden", schreibt
Manfred Josuttis im Vorwort (S. 70- Eine andere Weise von Sexualität
verstehen zu wollen heißt, auch die eigenen Ängste davor wahrzunehmen
. Hans Georg Wiedemann, Pfarrer in Düsseldorf, engagiert
sich für diese doppelte Aufgabe.

Nach einer persönliche Erfahrungen reflektierenden Einleitung
(S. 9-12) stellt der Vf. in elf Kapiteln sexualwissenschaftliche, biblische
, geschichtliche, theologisch-ethische und kirchlich-praktische
Aspekte mit der Absicht dar, allgemeinverständlich „Verstehens- und
Lebenshilfe" zu geben (24).

'1. Wer ist betroffen? (13-24) Alle: „Denn es handelt sich bei der
Homosexualität... um einen Teil der Sexualität des Menschen überhaupt
" (20). Begriffsklärungen für den weiteren Verlauf und eine Begrenzung
auf männliche Homosexualität werden begründet.

2. Sexualität - was ist das eigentlich'' (25-43) Ein Gespräch des
Autors mit dem Sozialpädagogen Helmut Kentier ist Hauptteil dieses

Kapitels. Nach neuerer Sexualforschung stellt Kentier Sexualität dar
als eine breite „Anlage" jedes Menschen, die - wie die Sprache -
stimuliert und in ihrer Gestaltung gelernt werden muß. „Sexualisa-
tion" ist Teil der Sozialisation (28). Die Bandbreite zwischen den Endpunkten
eindeutig hetero- und eindeutig homosexueller Verhaltensweisen
ist groß. Homosexualität und Heterosexualität sind Dialekte
der einen Körpersprache, die wir Sexualität nennen." (30) Homosexualität
ist keine Krankheit. Verführungsängste sind unnötig. Wohl
aber ist Homosexualität eine Einschränkung und Festlegung der Sexualität
(wie Heterosexualität entsprechend). „Wieviel reicher wäre
das Leben, wenn wir zu Frauen und zu Männern zärtlich sein könnten
." (33) Wiedemann gibt anschließend noch einige Kurzinformationen
: Die Entstehung der Homosexualität ist theoretisch noch ebensowenig
zureichend geklärt wie die der Heterosexualität. Eine Ursachentheorie
könnte ohnehin das gesamte Sexualverhalten der Menschen
nie vollständig erklären. Sexualität ist mehr als Fortpflanzung,
Naturtrieb, Heterosexualität und Genitalität.

3. Unsere Sexualität - eine gute Gabe Gottes und was wir aus ihr
gemacht haben (45-57): Der Satz „Ich kann mit meinem ganzen Körper
zu anderen Menschen sprechen" (47) wird nach vier Seiten entfaltet
.

4. Die kirchliche Sexualmoral und die Sexualität der Menschen
(59-78): Bedrückende und beschämende Äußerungen Homosexueller
über das antisexuelle und anti-homosexuelle Syndrom in den Kirchen
werden der Untersuchung dieses Syndroms vorangestellt. Mit knappen
Strichen zeichnet der Vf. die gefährliche, unbiblische Wirkungsgeschichte
neuplatonischen Erbes über Augustin und den Aquinaten
bis in die kirchlichen Verlautbarungen des 20. Jahrhunderts: Abspaltung
des Körpers, Reduktion der Sexualität auf Geschlechtsverkehr.
Fortpflanzung, Ehe zeigen, „daß das System dieser Sexualmoral von
der Angst vor der Sexualität und ihrer Lust bestimmt ist. Die Angst
vor der Homosexualität gründet also in der Angst vor der Sexualität
überhaupt" (75).

5. Die homosexuelle Liebe und die Bibel (79-90): Aus der Untersuchung
von ISam20-2 Sam l,l7ff; Lev 18 und 20; Rom 1,24-27;
1 Kor6,10 und lTim 1,10 folgert Wiedemann, „daß antike Sozial-
und Moralvorstellungen nicht Inhalt christlicher Verkündigung sein
können. Darüber haben wir mit anderem und besserem Wissen heute
auch anders zu urteilen" (88). Der eigentliche biblische Impuls ist die
Gestaltung aller zwischenmenschlichen Beziehungen „nach dem
Maßstab von Liebe und Freiheit" (89).

6. Erklärungen der Kirche zur homosexuellen Liebe (91-108):
Evangelische und katholische Stellungnahmen von 1970-1980 zeigen
Unsicherheit, Zwiespältigkeit, Nichtanhörung von Betroffenen und
normative Reduktion auf Ehe. Der Vf. fragt: „Warum muß die Betonung
der Ehe begleitet sein von einer Herabsetzung anderer Lebensformen
?"

7. Zum theologisch-ethischen Umgang (109-126): See, Thielicke.
Barth, Trillhaas u. a. werden in ihrem Beharren auf „abstrakter Normativität
" vorgestellt. Mit H. Fletscher, R. Röhricht u. a. werden
„Orientierungshilfen zum eigenen freien und verantwortlichen Handeln
unter dem Maßstab der Liebe" konkretisiert (124).

8. Homosexuell liebende Menschen in Selbstaussagen (127-153):
Antworten homosexuell Liebender auf eine Befragung, in der es um
persönliche Erfahrungs- und Leidensberichte und um die Möglichkeiten
der Bewältigung ging. Überwiegend bedrückte und resignierte
Stimmen werden laut - das bitterste Kapitel des ganzen Buches.

9. Zum Umgang mit homosexuell liebenden Menschen in Kirche
und Gemeinde (155-170): Der Vf. macht praxisorientierte Vorschläge
: Nicht Institution, sondern Qualität einer Beziehung als entscheidend
ansehen - und Verzicht auf herablassend-mitleidige Seelsorge
. Für eine „Freundschaftssegnung" folgt die Verlaufsskizze.
Probleme homosexueller kirchlicher Mitarbeiter (Verheimlichung.
Ängste, Berufsverbot bei Offenlegung usw.) werden aufgedeckt.

10. Selbsthilfe- und Emanzipationsgruppen von Homosexuellen
(171-184): H.-P. Föhrding stellt Arbeit und Probleme solcher Grup-