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Ausgabe:

1985

Spalte:

616-617

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Papsturkunden 896 - 1046 1985

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 8

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„Novus Constantinus" bezeichnet. Und trotz der guten Beziehungen
der frühen Merowinger zu Rom, trotz ihrer Klostergründungen und
ihrer engen kirchlichen Beziehungen müßte von ihrer christlichen
und frommen Haltung wohl doch noch mit mehr Zurückhaltung
gesprochen werden, als Wallace-Hadrill dies tut. Fast stets überlagern
die politischen Anliegen der Herrscher die religiösen, und für die gallisch
-italienischen Beziehungen sind seit Theoderich die fränkischgotischen
oder fränkisch-langobardischen Gegensätze gewiß das zumeist
Ausschlaggebende.

Die Kapitel vier bis neun sind der merowingischen Kirche bzw.
dem engen Zusammenwirken von Kirche, Königtum und Adel gewidmet
(4: The Merovingian Cloister; 5: The Merovingian Saints; 6: The
Church in Council; 7: The Merovingiansand the Papacy; 8: The Bürden
of Property, mit zahlreichen kritischen Bemerkungen, u. a. einer
zurechtrückenden Reduzierung der Pippinschen Säkularisationspolitik
; die Abtei St. Denis wird ausführlich gewürdigt; 9: The Makingof
the German Church (Dem Wirken des Bonifatius und seiner Vorgängergewidmet
). Kap. 10 schildert "Pippin and the Pull ofRome", d. h.
die Wechselbeziehungen zwischen den durch Stephan II. legitimierten
karolingischen .Usurpatoren' und den auf fränkische Hilfe gegen
die Langobarden wie gegen Byzanz angewiesenen Päpsten, die freilich
auch bald, auf der Grundlage der jüngst durch Fälschung entstandenen
„Donatio Constantini", territoriale Forderungen über Teile
Italiens anmeldeten (Ansätze des Kirchenstaates). Vf. verfolgt diese
Linie in Kap. 11 weiter, das Karl d. Gr. gewidmet ist. Einschließlich
der'Eroberung des Langobarden reiches wird viel zur allgemeinen Geschichte
Karls, zu dessen Beziehungen zur Kurie oder zu Byzanz
gesagt. Wallace-Hadrill vergleicht Karl ein wenig mit den angelsächsischen
Bretwalda, versucht aber dessen Imperium Christianum
(Alkuin) auch als Herrschaft "over most of Western Europe" (S. 187)
zu sehen, was angesichts der besonderen Lage in Britannien und
Irland oder gar auf der Iberischen Halbinsel als überzeichnet
erscheint. Die Verchristlichung Karls und seiner Umgebung ist seit
der Kaiserkrönung auffällig. Kirche und Herrschcrmacht durchdringen
, auch auf militärisch-frühfeudaler Grundlage, einander deutlich,
was nicht zuletzt Karls testamentarische Verfügungen zugunsten der
21 Metropolitankirchen dokumentieren. Auch die Erziehungs- und
Bildungspolitik verdeutlicht Ähnliches. Ihr widmet Vf. die Kapitel 12
("Received Wisdom: Alcuin; Theodulf"), 13 ("The New Israel and its
Rulers: Louis the Pious; Charles the Bald"), 14 ("Reform and its
Application"), 15 ("The Uses of Learning") und 16 ("The Church
and some unsolved Problems"; mit Eingehen auf das Judenproblem,
Ehefragen und die "Exterae Gentes"). Innerhalb der Bildungsproblematik
spielen auch die Volkssprachen eine eigenständige Rolle
(Kap. 15, Abschnitt 6).

Obwohl der Vf. völlig zu Recht weithin die Faktologie in den Vordergrund
rückt und außerdem die vielfältigen Beziehungen zwischen
der sich stabilisierenden und entwickelnden Gesellschaft des Frankenreiches
und der bereits stark gegl iederten orthodoxen Kirche mit i hrer
deutlichen Rombindung analysiert und beschreibt, wird man doch an
vielen Stellen auch dankbar den Zugriff auf grundlegende theologische
Probleme konstatieren. Es sei auf die Fragen verwiesen, die um Trini-
tät und Prädestination kreisen und von Männern wie Hinkmar von
Reims, Gottschalk von Orbais (dem Sachsen) und Johannes Skotus
Eriugena, weithin auf augustinischer Grundlage, weiterentwickelt
werden. .Guter' englischer Tradition folgend, spricht der Vf. leicht
ironisierend von der „Confessio Brevis" Gottschalks als einem Werk
" where he put the case for predestination to salvation or to damnation
- but not to sin. which was another matter" (S. 366). Oft wird Gottschalk
heute noch dezidierter als Lehrer eines geschichtslosen partikulären
Heilswillens Gottes angesehen (so daß Christus keinen der
letztlich Verworfenen je hat erlösen wollen oder können). Gottschalk,
mit seinen Bischöfen völlig zerfallen und als Häretiker verurteilt,
stand somit gegen jede Form des Pelagianismus (mit seinem Eintreten
für den freien Willen) und nicht gegen die etwa von Alkuin und
Hrabanus Maurus gelehrte „orthodoxe karolingische Position" von

der Wirksamkeit der Taufe und der guten Werke. Er schwächte diese
Position eher ungewollt und mußte daher Männern wie Hinkmar als
eine Art Asozialer gelten, der weithin die Inspiration des Individuums
an die Stelle einer zumal im Glauben möglichst homogenen christlichen
Gesellschaft setzen wollte (S. 365).

Eines fällt bei der Lektüre von Wallace-Hadrills inhaltreichem und
auf seine Weise tiefgreifendem Buch vor allem noch auf; Es hat keine
wirklich überragende Gestalt der fränkischen Kirche gegeben. Während
man bei Nennung der nordafrikanischen Kirche fast automatisch
an Augustinus, bei Erwähnung der spanisch-westgotisehen Kirche an
Isidor von Sevilla denkt, wird man für das merowingische und vor
allem für das karolingische Reich keine Entscheidung zugunsten eines
überragenden Theologen oder Kirchenmannes treffen können. Für
die Frühzeit ist, mit den genannten Einengungen, Gregor von Tours
wesentlich, doch Tür die Spätphase kommt eine ganze "galaxy of
distinguished men" (S. 292) in Frage. Darunter sind die Bischöfe
Chrodegang von Metz und Hinkmar von Reims wichtig, ebenso große
Abte und Mönche wieColumbanus, Fulrad von St. Denis oder Hrabanus
Maurus. Doch sind auch bedeutende Gelehrte wie Alkuin. Paulus
Diakonus, Einhard, Theodulf oder Gottschalk nicht zu übersehen -
ebensowenig die bedeutenden Missionare Willibrord oder Bonifatius,
die mit dem Frankenreich durch die Tätigkeit in den östlichen Randgebieten
mindestens ebenso eng verbunden waren wie mit der Kurie
selbst.

Halle (Saale) Hans-Joachim Diesner

Zimmermann. Harald [Bearb.]; Papsturkunden 896-1046. 1. Bd.:

896-996. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
1984. X, 635 S. 4" = Österreichische Akademie der
Wissenschaften. Philos.-hist. Klasse, Denkschriften, 174. Bd. Veröffentlichungen
der Historisehen Kommission, III. ö. S. 840.-; Lw.
ö. S. 980,-.

Harald Zimmermann ist evangelischer Theologe und Professor für
mittelalterliche Geschichte in Tübingen. Mit dem vorgelegten Band
erfüllt er Wünsche, die Paul Kehr 1896 in den Göttinger Gelehrten
Nachrichten niedergeschrieben hatte: „Über den Plan einer kritischen
Ausgabe der Papsturkunden bis Innozenz III." Dieses Ziel wird seitdem
gemeinsam von der Göttinger Akademie der Wissenschaften und
der Pius-Stiftung für Papsturkunden angestrebt. Seit 1966 beteiligt
sich auch die Österreichische Akademie der Wissenschaften aktiv an
diesem Projekt, nachdem Leo Santifaller in Wien seine Arbeitskraft
lür eine ähnliche Zielvorstellung eingesetzt hatte. Uber die Schwierigkeiten
seines Unternehmens sagt Z. in der Einführung; „Insgesamt
sind im Laufe der Zeit mehr als 8150 Mikrofilme und Photoaufnahmen
, dazu noch viele Xerokopien aus Handschriften und alten
Drucken zur Kollationierung gesammelt worden. Die Zahl illustriert
gleichsam auch den nötigen Arbeitsaufwand, wenn man bedenkt, daß
von den 630 Nummern der folgenden Edition nicht weniger als 113
ohne handschriftliche Überlieferung sind. Für die verbleibenden
517 Nummern mußten daher durchschnittlich je 15 Seiten kollationiert
werden" (VII). Der jetzt vorgelegte Band reicht bis Urkunde
Nr. 325 und umfaßt damit ziemlich genau jenes 10. Jahrhundert, das
einst Caesar Baronius als das „saeculum obscurum" bezeichnet hatte.
Gegen diese Bezeichnung hatte sich Z. gewendet; jetzt kann er mit der
Edition wichtiger Dokumente für seine positivere Beurteilung dieses
Jahrhunderts zusätzliche Beweise liefern. Freilich muß er in der Einleitung
mitteilen, daß von den insgesamt 630 Stücken 168 als Fälschungen
verdächtigt und weitere 66 verfälscht worden sind (X).

Die Fülle des Materials ist dennoch beeindruckend. Nur wenige
Einzelheiten seien herausgehoben: Die Urkunden 54 und 55 betreffen
die Slawische Liturgie, die von Päpsten zeitweise zugelassen und dann
auch wieder verboten war. Hier wird belegt, daß sich Papst Johannes
X. im Jahre 925 gegen die Zulassung dieser Liturgie wendete