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Ausgabe:

1985

Spalte:

605-607

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klaiber, Walter

Titel/Untertitel:

Rechtfertigung und Gemeinde 1985

Rezensent:

Luz, Ulrich

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Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 8

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die deren zentrales Stück gebildet habe, seien diesem zuzuordnen.
Nun gründet die vorliegende Auslegung im wesentlichen auf der Auswertung
lukanischer „Tendenzen" (ein weiteres Haupt-Stichwort).
Wo solche vorliegen, und das heißt hier: überall!, formuliere Lukas.
..Dieses .Vorurteil' macht den Verfasser zugleich zu einem schöpferischen
Erzähler, der nicht nur überlieferte Nachrichten in seiner Weise
anordnet und verknüpft, sondern zahlreiche Episoden allererst
schafft" (S. 15). Um so erstaunter liest man auf S. 145f (zu
Apg 16,1-3), die Beschneidung des Timotheus stamme aus der
Quelle, die doch „das lukanische Paulusbild ... stützt" (S. 146). Hier
gelten plötzlich ganz abweichende methodische Regeln! Welche gemeint
sind, wird deutlich, wenn man (zu Apg 18,18-23) liest (S. 166),
hier seien „die lukanischen Passagen im allgemeinen so deutlich auszumachen
, daß man Quelle und lukanische Redaktion weitgehend in
der Manier .klassischer' Quellenkritik voneinander scheiden kann".
Mehr: Die Quelle verfolge „denselben Zweck wie die Pastoralbriefe
. . . und dürfte von demselben Verfasser stammen. Vielleicht
bildete sie ursprünglich zusammen mit den Pastoralbriefcn ein Buch"
(S. 191), das mit den Paulusakten (Ende 2. Jh.) gewisse Züge gemeinsam
hatte (S. 241).

Ich gestehe: ratlos stehe ich auch dem Urteil (S. 23) gegenüber, die
lukanische Himmelfahrtsgeschichte sei „der Grundschrift des Markusevangeliums
" in der heute im unechten Markusschluß vorliegenden
Form (Mk 16,19) nachgestaltet worden, wobei Lukas „deutlich
die Spitze dieses ursprünglichen Himmelfahrtsberichtes" verschiebe.
Nein! Selbst die Einzelauslegung kann ich nicht nachvollziehen. Um
nur ein Beispiel zu nennen: Apg 14,6 „flüchteten sie, sobald sie das
merkten, in die lykaonischen Städte Lystra und Derbe und in das umliegende
Gebiet" (Übs. Schmithals) wird S. 130 kommentiert: „Das
frühe Christentum war eine städtische Religion; die Gemeinden verbreiteten
den neuen Glauben von den Städten in das Land hinein
(V. 6)." Warum gehen dann aber die allerersten Missionare auch in
das umliegende Gebiet?

Und was bringt diese Auslegung Neues? Gegen meine Habilitationsthese
hatte Schmithals (in dieser Zeitschrift Jg. 93, 1968 Sp. 185)
die wesentliche Einheitlichkeit der ersten Christenheit verteidigt.
Heute wagt kaum einer mehr, ernstlich den Pluralismus der Jesus-Bewegung
zu bestreiten. Selbst Schmithals hat den Rückzug angetreten:
Apollos könnte (S. 172) „ein Vertreter dieses ,vorösterlichen Christentums
' (gemeint ist: von Q) gewesen sein, der sich in Ephesus in
Begegnung mit der paulinischen Theologie dem christologischen Bekenntnis
öffnet". „Einer entsprechenden Begegnung von vorösterlichen
Jesus-Gemeinden mit dem kirchlichen Christentum verdankt
auch das Markusevangelium in der vorliegenden Gestalt seine Entstehung
" (ebenda; so schon in den Evang. Kommentaren 1970!). Fragen
wir, wo die hyperpaulinischen Irrlehrer letztlich ihre Wurzeln
hatten! Natürlich waren sie vor Paulus noch kaum Hyper-Pauliner.
Da aber unsere Forschung nun einmal den Hypothesen-Turmbau auf
Jerusalem Urgemeinde sich nicht versagen kann, möchte Schmithals
nicht abseits stehen: „Stephanus muß bei dieser Entwicklung eine
bedeutsame Rolle gespielt haben" (S. 64).

Was aber war Lukas? Schmithals (S. 17): „Er dürfte Lehrer an einer
Katechetenschule gewesen sein und sein Doppelwerk als Lehrbuch
bzw. als Handbuch für Gemeindcleiter verfaßt haben." Aber: „Seine
beiden Bücher enthalten keineswegs das seinen Gemeinden vertraute
katechetische Lehr- und Lerngut" (S. 14). So hat Schmithals unser
Wissen um die frühchristliche Zeit eben doch erheblich erweitert.

Borsdorfb. Leipzig Gottfried Schille

Klaiber. Walter: Rechtfertigung und Gemeinde. Eine Untersuchung
zum paulinischen Kirchenverständnis. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht, 1982, 306 S. gr. 8'= Forschungen zur Religion und Literatur
des Alten und Neuen Testaments 127.

Die vorliegende Untersuchung, eine gründlich überarbeitete, bei
E. Käsemann geschriebene Tübinger Dissertation von 1972, bringt

mehr, als ihr Titel verspricht. Sie ist ein eindrücklicher Versuch einer
Gesamtdarstellung der paulinischen Ekklesiologie. die das Gewicht
nicht auf die Untersuchung einzelner ekklesiologischer Termini oder
einzelner Texte legt, sondern auf den Platz, den die Ekklesiologie innerhalb
des Ganzen des Denkens des Paulus einnimmt. Daß ein solcher
Versuch nur aufgrund einer systematischen Gesamtschau des
paulinischen Denkens möglich ist, steht außer Frage. Aber gerade in
seinem systematischen Charakter liegt sein Reiz.

Der Ausgangspunkt der Untersuchung liegt beim „ekklesiologi-
schen Defizit" (9) im Werk des Paulus: Die paulinischen Vorstellungen
von Kirche wirken fragmentarisch und provisorisch. Es gibt
keinen „zentralen" ekklesiologischen Grundbegriff bei Paulus. Alle
ekklesiologischen Begriffe, die bei Paulus vorkommen - Vf. untersucht
S. 11-48 in geraffter, gelungener Darstellung exxXnma, äymi.
ZxXcxToi. äSe.X(poi, Aadf, 'la/mrjÄ, anepfia Aßpd/i, vaÖQ, oixoSo/itj, und
aihjia A/w<Twü-sind fragmentarisch: Sie haben bestimmte Sitze in der
paulinischen Theologie und erfüllen in einem Ganzen bestimmte
Funktionen. Die Mitte des paulinischen Kirchenverständnisses läßt
sich nicht aufeinen ekklesiologischen Begriffbringen, sondern sie liegt
„viel eher im christologischen Ansatz, der immer wieder zur Umprä-
gung der überkommenen ekklesiologischen Begriffe führt" (48). Charakteristisch
für das paulinische Denken sind auf begrifflicher Ebene
stehen gebliebene Antinomien: die scharfe Trennung von Gemeinde
und Welt und die Offenheit christlicher Existenz zur Welt; das Vorgegebensein
der Gemeinde gegenüber dem einzelnen Gläubigen und die
fehlende soteriologische Bedeutung der Gemeinde; die Autorität des
Apostels und sein Autoritätsverzicht. Klaibers Grundüberzeugung ist,
daß solche Antinomien und der unsystematische Charakter der paulinischen
Ekklesiologie weder Folge des Gelegenheitscharakters der
paulinischen Korrespondenz ist, noch Folge des provisorischen Charakters
der paulinischen Theologie im Horizont des nahen Weltendes.
Der Verständnisschlüssel liegt vielmehr im Zentrum des paulinischen
Denkens, in derChristologic. „Reflexion über die Gemeinde vollzieht
sich" bei Paulus „implizit in der Anrede der Gemeinde, in Zuspruch,
Widerspruch und Ermahnung" (68). Solche Anrede wird beim Apostel
vom Zentrum seines Denkens geleitet. Für Klaiber ist dies (im
Anschluß an E. Käsemann verstandene) Rechtfertigungslehre.

Dementsprechend wählt er als Aufbauprinzip seiner Darlegung ein
systematisches: Paulinische Ekklesiologie wird im Horizont von Indikativ
(„Der Grundsatz paulinischer Ekklesiologie" 70-194) und Imperativ
(„Gestaltungsprinzipien paulinischer Ekklesiologie"
195-257) dargestellt. Im Rahmen einer knappen Rezension kann ich
lediglich die Themen der konzentrierten Darstellung Klaibers andeuten
: Gemeinde aus dem Evangelium; Christus als Grund der Gemeinschaft
(Erwägungen zu „In Christus" und „Leib Christi"); der escha-
tologische Ort der Gemeinde (u. a. Erwägungen zum Apostolat); Verheißung
und Gemeinde (Abrahamskindschaft; Gottesvolkgcdanke);
Geist und Gemeinde. Als Beispiel für seine Interpretation diene die
Synthese des paulinischen Gottesvolkgedankens: Paulus greift die
Gottesvolktradition auf, interpretiert sie aber von der Rechtfertigungslehre
her. So bewahrt er die Gemeinde davor, „in der Enge einer
jüdischen Sekte oder eines hellenistischen Mysterienverbandes dem
eigenen religiösen Besitz zu leben". Dem Gottesvolkgedanken vorge-
ordnet bleibt die Christologie, die „Grundlage allen paulinischen Redens
von der Gemeinde" (169), die den Anredecharakter und den
Gnadencharakter des Gottesvolkgedankens bestimmt.

In dem bei weitem knapperen zweiten Hauptteil werden folgende
Problemkreise abgehandelt: Die Frage nach dem Amt, die Frage nach
dem Charisma, die Frage nach dem Recht der Gemeinde und die
Frage nach Freiheit und Verantwortung. Zielpunkt der Darstellung ist
die Erkenntnis, daß die Rechtfertigungslehre sich notwendig in der
Gemeinde konkretisiert. Sie ist nicht abstraktes Wort der Gnade; sondern
bestimmt so die Gemeinde, die in ihrer Existenz und Gestalt
Ausdruck des Wirksam werdens der Offenbarung ist.

Der Band wird abgeschlossen durch einige aktuelle Thesen zu den
Konsequenzen der paulinischen Ekklesiologie für die Kirche heute