Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1985

Spalte:

483-492

Autor/Hrsg.:

Meier, Kurt

Titel/Untertitel:

Luthers Judenschriften als Forschungsproblem 1985

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4, Seite 5

Download Scan:

PDF

483

Theologische Litcraturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 7

484

Luthers Judenschriften als Forschungsproblem*

Von Kurt Meier, Leipzig

Andreas Lindt zum 65. Geburtstag

Angesichts der Katastrophe, in die das europäische Judentum
durch die zum Genozid eskalierende Judenpolitik der Nazis im Zweiten
Weltkrieg gestürzt wurde, mußte das Thema .Luther und die
Juden' als heikel empfunden werden. Der in Geschichtswissenschaft
und Theologiegeschichte nach 1945 eine Zeitlang nachwirkende Van-
sittartismus, der die von den Nazis selbst zur Geltung gebrachte Kontinuitätslinie
von Luther zu Hitler mit negativen Vorzeichen übernahm
, schuf Barrieren, die auch die Lutherrezeption an diesem
Punkte erschwerten. Neben unhistorischer Pauschal- und Radikalkritik
, die ihrerseits das Prädikat .unkritisch' verdient, ist im populären
Schrifttum nach 1945 die Tendenz beobachtbar, durch den Interpretationstyp
des Wandels das Einstellungsverhalten des alten Luther
als eine verhängnisvolle Entwicklung zu kennzeichnen. Die Beurteilung
der reformatorischen Frühposition Luthers fiel dementsprechend
günstiger aus.1 Gleichwohl zeigt sich bei einer zeitgeschichtlichen
Analyse, daß die Wandlungsthese im Blick auf Luthers Judensicht
ebensowenig wie die Kontinuitätsthese davor gefeit war. sich rassenideologisch
mißbrauchen und in den Dienst des NS-Zeitgeistes
stellen zu lassen. Damit wurden Versuche fragwürdig, eine bestimmte
Lutherinterpretation für eine zeithistorisch unkritische Rezeption
von Luthers Judenschriften verantwortlich zu machen. Denn weder
dem Wandlungstyp noch dem Kontinuitätstyp ist eine besondere Affinität
im Blick auf politischen Mißbrauch und rassenpolitische Beerb-
barkeit zu attestieren. Die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität
hat sich vielmehr am wissenschaftlich-kritisch erhebbaren Sachstand zu
orientieren. Zutreffende historische Analysen im Blick auf Luthers Stellung
zum Judentum lagen bisweilen auch dort vor. wo ihre zeitgeschichtlich
bedingten aktuellen antijüdischen bzw. antisemitischen
Implikationen verhängnisvolle Rezeptionsvorgänge begünstigten. Umgekehrt
konnte aber auch verantwortliches Engagement der Abwehr des
antisemitischen Zeitgeistes historische Fehlurteile implizieren.2

/. Diskontinuitäts- und Wandlungsthese

Die Wandlungsthese gewinnt im 20. Jahrhundert mit der 1911 erschienenen
Dissertation des Rabbiners Reinhold Lewin eine bemerkenswert
intensive Effizienz, sind ihr doch auch die Kommentare zu
Luthers Judenschriften in der Weimarer Lutherausgabe „durchweg
dankbar gefolgt".' Lewins Arbeit, mit der die wissenschaftlich eindringende
Forschung zum Thema ,Luther und die Juden' beginnt, bot
das wichtigste Material in relativer Vollständigkeit, ohne die eigentlich
theologische Seite des Sachverhalts zu berühren. Lewin wertete
die Frühzeit Luthers bis 1521 unter Bagatellisierung des biblischexegetischen
Befundes der Frühvorlesungen als Periode praktischer
Gleichgültigkeit des Reformators in der Judenfrage. Die judenkritischen
Aussagen der frühen exegetischen Vorlesungen Luthers wurden
als „bloße Bücherweisheit" entschärft. Auf der Folie der enthusiastischen
Hoffnungen, deren literarischen Niederschlag Lewin vor allem in
Luthers Schrift „Daß Jesus Christus ein gebomer Jude sei" (WA 11,
314-336) erblickte, wurden die leidenschaftlichen Kampfschriften des
alten Reformators als psychologische Reaktionen verständlich gemacht
: Die Hoffnung einer in den frühzwanziger Jahren im reformatorischen
Eifer erwachten Judenmission seien bitter enttäuscht worden.

Die Wandlungsthese des Rabbiners Lewin wurde später auch von
nazifreundlichen wie direkt faschistischen Propagandaschriften -
wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen - übernommen. Versuchte
Lewin durch Aufweis eines zweimaligen Wandels und insbesondere
der Enttäuschungen Luthers seit 1523 seine späten Kampfschriften
verständlich zu machen und dadurch zu entschärfen, so waren die auf

* Dieser Aufsatz geht zurück auf ein Referat in Seminar I (Luther und die
Juden) des Internationalen Lutherforschungskongresses in Erfurt 14.-19. 8. 1983.

Anpassung an das NS-System bedachten Interpreten darauf aus. das
Gegenteil zu beweisen: Auf dem Hintergrund eines zunächst vertrauensseligen
Illusionismus sollte Luthers „realistische" Erkenntnis
in der späteren Zeit um so überzeugender wirken; die Realität des
Judentums habe ihm den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen
Christentum und Judentum deutlich werden lassen.4 Der Wandlungsthese
verpflichtet blieb auch Wilhelm Walther, der (1921) in Auseinandersetzung
mit dem deutschkirchlich-völkisch orientierten, gegen
das Alte Testament gerichteten Vorstoß des Mediziners Alfred Falb
(1920) indes die Judenfrage bei Luther stärker als religiöse Frage erkannte
und die rein psychologische Enttäuschungsthese Lewins als
nicht ausreichend bezeichnete. Ebenso hatte Otto v. Harling (1920)
im Blick auf die Judenmission Lewins These von einem radikalen
Wandel bei Luther übernommen, wie sich auch bei Hermann Steinlein
(I 929) die Abhängigkeit von Lewin beobachten läßt/

Die Behauptung Martin Stöhrs. daß man „zur Mobilmachung
Luthers bei Deutschlands völkischem Aufbruch ... Luthers Spätschriften
als logisches Ergebnis einer zugegebenermaßen weiterschreitenden
, aber doch einlinigen und richtigen Entwicklung"1' auffaßte
und begrüßte, verkennt den methodisch-konzeptionell durchaus konträren
Charakter der Lutherrezeption in dieser Zeit und trifft zumindest
auf Walther Linden und Wolf Meyer-Erlach nicht zu, die unrichtig
als Vertreter einer Kontinuitätssicht verstanden werden, gleichwohl
radikale Vertretereines völkischen Wandlungstyps sind. Auch
unabhängig von Wandlungs- und Kontinuitätskonzeption erweist
sich die nationalsozialistische Lutherrezeption als methodisch völlig
disparat. So galt der Reformator in der völkisch-rassistis.chen Lutherdeutung
einerseits als Vorkämpfer für eine £>i/judung des deutschen
Lebens und konnte andererseits in ebenso unhistorisch-verfälschtem
Rezeptionsvorgang zum Exponenten geistiger 1 erjudung gestempelt
werden, weil Luthers Bibelübersetzung auch dem alttestamentlich-
jüdischen Geist erneut Breitenwirkung im deutschen Volk verschafft
habe.7 Hauptvertreter der Wandlungsthese nach 1945 sind Martin
Stöhr und Aarne Siirala, die eine grundsätzliche theologische Wende,
ja einen Bruch bei Luther konstatieren wollten, damit allerdings faktisch
die theologische Kongruenz des reformatorisch-frühen und des
alten Luther in Frage stellten. Angesichts der frühen exegetischen
Vorlesungen Luthers, in denen Begriffe wie .jüdisch" und „Jude"
vom reformatorischen Blickpunkt aus vielfach exemplarisch für
Sache und Vertreter einer „religio falsa" gelten, konnte die theologische
Wandlungskonzeption sich nur für die erste Hälfte der zwanziger
Jahre auf eine vermeintlich judenfreundliche Position bei Luther
beziehen. Die Jahre bis etwa 1521 bleiben dabei unerklärt und müßten
dann noch als vorreformatorisch angesehen werden. Stöhr und
Siirala sind forschungsgeschichtlich in die Kontroverse mit Wilhelm
Maurer zu plazieren, der 1953 Wandlungen in Luthers Beurteilung
des Judentums nur im Blick auf die praktisch-rechtlichen Konsequenzen
einräumte, im übrigen aber eine theologische Kontinuität
Luthers in der Judenfrage konstatierte."

C. Bernd Suchers der Wandlungskonzeption verpflichteter Interpretationsversuch
(1977) spart die theologische Seite des Problems
völlig aus und versucht Luthers Einstellung zum Judentum als Entwicklung
zu sehen, die er mit dem psychologischen Begriff der
„Regression" charakterisiert. Luther habe in der Judenfrage 1543 wieder
dort gestanden, wo er vor 1513 sich befand.

Auch der Interpretationsansatz Walther Bienerts in seiner kommentierten
Textauswahl (1982) ist faktisch von der Konzeption eines
zweimaligen Wandels Luthers in der Judenfrage bestimmt. Bienert
weist dem zunehmend judenfreundlichen Reformator und dem judenfeindlich
orientierten späteren „Dogmenwächter" und Kirchenmann