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Ausgabe:

1985

Spalte:

475-478

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nebel, Richard

Titel/Untertitel:

Altmexikanische Religion und christliche Heilsbotschaft 1985

Rezensent:

Krügel, Siegfried

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Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 6

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Für manchen Leser bleibt es freilich dann recht enttäuschend, wenn
nach diesen eindrücklichen Fragen in der Studie selbst keine weiterführenden
Antworten gegeben werden. Vielmehr dokumentiert nun
der Vf. zum Abschluß die vielfaltigen Konsultationen und Einzelaktivitäten
des LWB. An der Ausführlichkeit, mit der hier z. B. die einzelnen
Regionalkonsultationen widergespiegelt werden, spürt man wohl
noch etwas vom ursprünglichen Auftrag des LWB an den Vf. Freilich
ist dies nicht mehr so sehr jedermanns Sache. Man wünschte sich, ein
wenig deutlicher sehen zu können, in welcher Weise gerade vom
genuin lutherischen Ansatz her die fundamentalen missionstheologischen
Fragen zu beantworten wären. Man möchte am Ende nicht nur
einige Appelle an die lutherische Adresse oder wieder neue analytische
Beobachtungen zu lesen bekommen. Denn: „Lutheraner sind
in der Regel recht gut im Analysieren der Situation, in der theologischen
Reflexion und in der Selbstkritik." (228) Man stimmt dem
Verfasser gewiß auch darin zu, „daß die echt lutherische Antwort auf
das Geschenk der freien Gnade und der wirkliche Beweggrund zur
Mission aus einem Herzen kommen, das überfließt von Dank und
Preis zu Gott und sich dem Nächsten in Zeugnis und Dienst zur Verfügung
stellt" (228). Doch was diese „echt lutherische Antwort" konkret
bedeutet und welche theologischen und praktischen Probleme ihr
zu ihrer Verwirklichung im Wege stehen, dies bleibt ziemlich offen -
offen für die weitere Studienarbeit des LWB und offen für jeden, der
sich in Theorie und Praxis um eine missionstheologische Antwort aus
lutherischer Grundüberzeugung müht.

Leipzig Wolfgang Ratzmann

Nebel. Richard: Altmexikanische Religion und christliche Heilsbotschaft
. Mexiko zwischen Quetzalcöatl und Christus. Immensee:
Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 1983. 393 S. gr. 8° = Neue
Zeitschrift für Missionswissenschaft. Supplementa, XXXI. Kart,
sfr 58.-

Seit Jahrzehnten wird die Verquickung der christlichen Mission mit
dem abendländischen Expansionismus und Kolonialismus kritisch
durchleuchtet, ohne daß bis jetzt von abschließenden Ergebnissen gesprochen
werden könnte. Das hier zu besprechende Werk, eine Würzburger
Dissertation (Referenten: Bernward Willeke und Heinz Flek-
kenstein), widmet sich dieser Problematik auf eindrucksvolle Weise.
Große Sachkenntnis und verständnisvolles Eingehen auf die altmexikanische
Religion verbinden sich mit einem klar konturierten christlich
-theologischen Standpunkt. Daß Verfasser außer von den genannten
Referenten auch von den bekannten Schweizer Missiologen Jakob
Baumgartner und Johannes Specker beraten worden ist, garantiert
eigentlich allein schon die Qualität der Studie, die vier Hauptteile
umfaßt:

I. Die Religion der Azteken. Erschaffung und Erhaltung der Welt
durch Opfer

II. Christentum und aztekische Religion. Gestaltwandel der Götter

III. Christlich-altmexikanische Mischreligion im heutigen Mexiko

IV. Neuorientierung des mexikanischen Christentums

Vf. „möchte neue Anregungen zur christlichen Integration traditioneller
religiöser Aspekte geben und zudem Wege zur Inkulturation des
Christentums im mexikanischen Kulturbereich aufzeigen" (1). Jedoch
setzt sich Vf. dafür ein, „die traditionellen Werte gleichzeitig
weiterzuentwickeln und den Erfordernissen der modernen Zeit anzupassen
" (4).

Der erste Hauptteil beschäftigt sich zu Recht vor allem mit den
Azteken. Der Grundgedanke mesoamerikanischer Religiosität, nämlich
die Entstehung und Erhaltung des Kosmos durch die Opfer zunächst
der Götter, sodann der Menschen, wird aus einer Urangst hergeleitet
, die sehr eindrucksvoll beschrieben und begründet wird.
Trotzdem ist man versucht zu fragen, ob hier nicht moderne Psychoanalyseetwas
zu sehr die Feder geführt haben könnte.

Vf. zitiert Octavio Paz: „Ich weigere mich ... in den Menschenopfern
der Azteken einen besonderen Ausdruck von Grausamkeit zu
sehen, der mit ihrer übrigen Kultur nicht in enger Verbindung stünde.
Das Herausreißen der Herzen, die monumentalen Pyramiden, die
Plastik, der rituelle Kannibalismus, die Poesie, der .blumige Krieg*,
die Theokratie und die grandiosen Mythen sind eine unauflösbare
Ganzheit" (79). Sofern Paz mit diesem Satz etwas zur Verharmlosung
der aztekischen Menschenopfer vorbringen möchte, ist dies mißlungen
; denn was Vf. dazu ausführt, nötigt, von Masscnschlächtercicn
unvorstellbaren Ausmaßes und abscheulichster Grausamkeit zu
sprechen. Rechtzugeben ist Paz aber darin, daß diese Vorgänge von
der „Kultur", in der sie sich ereignet haben, nicht abzutrennen sind.
Daraus ergibt sich die Frage, inwiefern hier überhaupt von Kultur -
deren tragende Fundamente doch wohl immer nur humaner, sittlicher
Natur sein können - gesprochen werden kann. Der Opfergedankc in
der hier vorliegenden Ausprägung läßt eine positive ethische Qualität
durchaus vermissen.

Der mexikanischen Autorin L. Sejourne dürfte schwerlich widersprochen
werden können, wenn sie feststellt, „die Azteken hätten . ..
eine imperialistische Politik der Expansion und des Terrors betrieben
und zur Erreichung ihrer Machtansprüche sich religiöser Ideen bedient
und häufiges Opfern von Menschen als ausgezeichnetes Mittel
der Unterdrückung und Herrschaftsabsicherung angeschen ... Triebfeder
für die aztekische Tyrannei seien imperialistische Ziele, nicht
kosmische Vision und religiöses Sendungsbewußtsein gewesen" (85 f).

So düster die Realitäten sind, die im ersten Hauptteil ihre wahrheitsgemäße
Darstellung finden, so berechtigt und wohltuend ist es,
daß Vf. diesen Hauptteil mit dem schönen Kapitel IV ...Blume und
Gesang' statt Opfer. Geistige Neuorientierung der Tlamatinime" abschließt
. Hier werden Krieg und ..Todesrausch" abgelehnt (93). werden
„Blumen und Vogclgesang . . . Metapher für die geistig-schöpferische
Welt der Kunst und Poesie: In der Blume ist Wahrheit, im
Vogelgesang Trost"(l03). Freilich gelangen die Tlamatinime über
stille Resignation und einen milden Epikuräismus nicht hinaus. Sie
„wären auf längere Sicht wohl eine Herausforderung für das ideologische
und religiöse Monopol des .Sonnenvolkes' geworden" (106)
und unterdrückt worden. Das blieb ihnen erspart, denn: „In diese bewegte
Zeit - einerseits der ungehinderten Machtentfaltung des .Sonnenvolkes
', andererseits des geistigen und religiösen Aufbruchs der
Tlamatinime - fiel die Ankunft der .weißen Götter', die Begegnung
des Christentums mit deraltmexikanisehen Religion" (107).

Im zweiten Hauptteil läßt das Urteil des Vf. über die Eroberung
Amerikas an Schärfe nichts zu wünschen übrig. Zugleich stellt er klar,
daß die Eroberer, indem sie „Bekehrungseifer und Machtstreben miteinander
verbanden" (113), „mittelalterlichen Denkstrukturen
gemäß" (ebd.) handelten. „Die mittelalterlichen Ideen von einem
.Orbis christianus'..., dessen Oberhaupt der Papst ist. der mit Hilfe
christlicher Fürsten dieses Reich regiert" (117), stellen in der Tat jene
bist zu Augustin zurückreichende politische Grundthese dar, die erst von
der Reformation verworfen und überwunden worden ist. Durch die
Einsicht in diesen Sachverhalt wird Vf. befähigt, die Vorgänge historisch
zutreffend einzuschätzen, d. h. auf Maßstäbe zu verzichten, die an
andere als die damals gegebenen Voraussetzungen gebunden sind.

Auch das missionarische Handeln war mit Selbstverständlichkeit
an der Idee des Orbis christianus ausgerichtet. „Da das christliche
Weltreich ja nur verwirklicht werden konnte, wenn alle Untertanen
Christen waren, haben viele Missionare und Vertreter der Kirche die
Entdeckungen und Eroberungen unter der Bedingung gebilligt, daß
man die Völker der entdeckten Länder christianisierte" (ebd.). In der
Tat wurde so immerhin verhindert, daß die Konquistadoren Amerika
ausschließlich Verfall und Untergang brachten. Selbst ein so kirchen-
und missionskritischer Denker wie Octavio Paz schreibt: „Nachdem
die Bande zu ihrer eigenen Kultur abgerissen, ihre Götter tot und ihre
Städte zerstört waren, fanden die verwaisten Indios durch den katholischen
Glauben einen neuen Platz in der Welt. (Diese Möglichkeit,
einer lebendigen Ordnung anzugehören, und sei es auch nur als
unterste Schicht der Gesellschaftspyramide, wurde den Eingeborenen