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Ausgabe:

1985

Spalte:

467-468

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Krötke, Wolf

Titel/Untertitel:

Gottes Kommen und menschliches Verhalten 1985

Rezensent:

Gestrich, Christof

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Seite 1

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467

Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 6

468

Möller reflektiert sein Vorgehen Kapitel für Kapitel; doch ein
Problem findet sich nicht einmal angedeutet. Es ist die Frage, ob es
sich halten läßt, für den Zeitraum 1945 bis 1950 und für das Gebiet
der Bundesrepublik Deutschland das Thema auf die „Evangelische
Kirche" zu begrenzen. Wir wissen, wie entscheidend für einige zeitlich
frühere analoge Vorgänge in Großbritannien das Vorhandensein
von Kleinkirchen gewesen ist - und das schließt im Falle von England,
Wales und Schottland auch die katholische Kirche ein. Es ist ja mit
Händen zu greifen, daß die Parteiorganisation der SPD fürs Parteivolk
kaum unterscheiden konnte und wollte in hie Protestantisch-
Gescheitelt und da Katholisch-Geschoren. Nahezu alle Überlegungen
und Äußerungen mußten die beiden Großkirchen gemeinsam ins
Visier nehmen - was den Klärungsprozeß gewiß nicht beschleunigt
hat. Ein Kurt Schumacher dachte bei den Protestanten ungeschriebene
Enzykliken und die Winke kleiner Päpste mit (sie konnten Otto
Dibelius heißen), und bei den Katholiken sah er, wie sie sich als fast
unbefleckt über die Nazizeit gekommen auszugeben bemühten, als die
Deutschnationalen, die dazu berechtigt seien.

Es bleiben Fragen offen, die zu beantworten nicht Möllers Aufgabe
gewesen ist. Etwa die: Was besagt es, daß der Klärungsprozeß zwischen
SPD und EKD in einer Zeit einzusetzen begann, wo nicht nur
die Kirche eine zunehmende Entkirchlichung durchmachte, sondern
auch die sich herausbildende ,Volkspartei* SPD von immer weniger
Parteivolk unmittelbar als .Heimat' erlebt wurde? Können Institutionen
in dem Maße besser miteinander kommunizieren, wie sie
schwächer darin werden, für schlichte Menschen Ort einer tief erfahrenen
Kommunikation zu sein?

Bensheim HeinerGrote

Systematische Theologie: Allgemeines

Krötke, Wolf: Gottes Kommen und menschliches Verhalten. Aufsätze
und Vorträge zum Problem des theologischen Verständnisses von
„Religion" und „Religionslosigkeit". Berlin: Evang. Verlagsan-
stalf, zugleich Stuttgart: Calwer 1984. 64 S. gr. 8° = Aufsätze und
Vorträge zur Theologie und Religionswissenschaft, 80.

Vorliegende Sammlung von 6 Arbeiten aus den Jahren 1976-1981
macht sichtbar, wodurch sich die Theologie des Berliner Systematikers
Krötke profiliert:

1. Die Darlegung, daß eine vom Grundgeschehen der Selbstoffenbarung
Gottes ausgehende Theologie sich nicht „wirklichkeitsfremd"
oder „unpraktisch" gestalten muß.

2. Der Versuch. Berührungsängste mancher Erben der dialektischen
Theologie mit dem Begriff „Religion", aber auch mit „atheistisch"
oder „säkular" strukturierten Gegebenheiten abzubauen.

3. Der Nachweis, daß der Kirche nicht mit ständig neuen und aktualisierenden
theologischen Anpassungsversuchen, sondern mit durchgehaltenen
dogmatischen Grundlagen, mit geschärfter Urteilsfähigkeit
des Glaubens und mit auch in der Praxis angewandten sauberen theologischen
Begriffen am meisten gedient ist. Freilich weiß Krötke. daß
dies auch ein Abschütteln sinn- oder funktionslos gewordener theologischer
Denkfiguren von gestern voraussetzt.

4. Der Protest gegen jede Verwirklichungs-dogmatik, die die Theologie
als eine Theorie begreift, die das von den Gläubigen in die Praxis
Umzusetzende darlegt. (Insbesondere ist Göll nicht „in den Bereich
der .Theorie"' zu verweisen, „die man erst ,in Praxis umsetzen' muß".
Unser aller Sünde ist es, nicht warten zu können, „bis Gott selbst
kommt": S. 32 und S. 22).

In der ersten Abhandlung „Die Bedeutung von .Gottes Geheimnis'
für Dietrich Bonhoeffers Verständnis der Religionen und der Religionslosigkeit
" (S. 9-23) definiert Krötke in vorsichtiger Weise den
Begriff „Religion", ohne ihn einer theologischen Vorverurteilung zu
unterwerfen: „Religion" ist „eine geschichtlich wandelbare menschliche
Verhaltensweise, in der der Mensch sein Verhältnis zu einem

Gott oder zu einem erfahrenen oder erlebten .Göttlichen' lebt"
(S. 12). Auf der einen Seite lehnt Krötke die theologische Meinung ab,
Religion gehöre immer und überall als anthropologische Konstante
(und als notwendiger Anknüpfungspunkt für den Glauben) zur Vor-
findlichkeit des Menschen. Andererseits kann Krötke den Umstand
positiv werten, daß vorhandenes/eligiöses Leben immerhin die heute
so verbreitete „Gottesvergessenheit" vermeidet. „Religion" ist nicht
eo ipso ein Ausdruck der Sünde. Als ein Heraustreten aus der Gottesvergessenheit
ist auch der christliche Glaube „Religion". - Die Bearbeitung
dieser Fragen wird weitergeführt in dem Beitrag „Die
Möglichkeiten und Grenzen christlicher Religionskritik" (S. 33-40).
Krötke rechnet hier mit zwei zu unterscheidenden Möglichkeiten
einer Religionskritik: Es gibt, zum einen, eine reinigende Kritik der
Religion, die völlig unabhängig vom christlichen Glauben im Namen
der Religion selbst geschehen kann. Es gibt, zum andern, die christliche
Religionskritik. Die erste, nur „religiöse" Religionskritik pflegt angesichts
eingetretener Veräußerlichungen der Religion die mystische
Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses wieder herzustellen. Die Religionskritik
des Christentums aber richtet sich gegen eingetretene Verwechselungen
von Gott und Mensch! - Im übrigen gilt in ethischer und
in kirchenkritischer Hinsicht: „Der Christ kann . .. vom religionslosen
Verhalten Wesentliches für sein eigenes Leben lernen" (S. 39).

Krötkes Aufsätze, die eine wohltuend klare und, bei gegebenem
Anlaß, seelsorgliche Sprache sprechen, setzen sich an zwei Stellen mit
dem gedrängten Text Bonhoeffers vom 16. 7. 1944 auseinander, der
von der Möglichkeit eines Lebens „etsi deus non daretur" spricht
(S. 15; vgl. S. 41 ff). Krötke erblickt den Skopus dieser von Bonhoeffer
aufgegriffenen Redefigur darin, die Wirklichkeit, wie sie ist, ganz ernst
zu nehmen. Eine hierbei sich aufdrängende Erfahrung der „Abwesenheit
Gottes" bewertet der Glaube allerdings anders als der Atheismus:
Sie resultiert aus Gottes Bereitschaft, „sich aus der Welt herausdrängen
" zu lassen „ans Kreuz" (S. 15f)- Hierdurch ist uns Gott - der
Glaube weiß es - näher, als wir uns selbst nahesein können. Er ist uns
so sehr nahe, obwohl er durch sein freiwilliges Zurücktreten vor uns
auch geheimnisvoll verborgen ist.

Etwas knapp geraten sind Krötkes Ausführungen unter der Überschrift
.„Buchstabe und Geist' im Dialog des Glaubens mit der Wirklichkeit
der Welt" (S. 48-56). Es soll hier gezeigt werden, daß der
Glaube nicht einfach gleichgesetzt werden darf mit den Verarbei-
tungs- und Erlebnisweisen, in denen er jeweils seine geschichtliche
Gestalt findet. Es dürfe die Freiheit zu neuem Glauben nicht beschnitten
werden. - Wie die Lösung dieses sehr alten Problems praktisch
aussehen könnte, darübergibt dieser knappe Vortrag nur wenig
Auskunft.

„Karl Barth und das Anliegen der .natürlichen Theologie'"
(S. 24-32) ist ein Kommentar Krötkes zu den 1976 in der Karl-
Barth-Gesamtausgabe erschienenen Fragmenten aus Barths unvollendeter
Ethik der Versöhnungslehre. Einbezogen in Krötkes Kommentar
ist eine Stellungnahme zu der zwischen E. Jüngel und W. Pannenberg
strittigen Frage, ob die Theologie bei der Offenbarung oder
Anthropologie ihren „Ansatz" finden sollte: Krötke argumentiert auf
der Linie Barth - Jüngel! Von anderer Seite her führt er die Auseinandersetzung
mit Pannenberg fort in dem Vortrag „Gott auf unserer
Seite-Vom Konkretwerdendes heiligen Geistes"(S. 57-63).

Für die alltägliche Diskussion ist der begriffsbestimmende Aufsatz
„Atheismus - Säkularisierung" (S. 41-47). Anknüpfend an bestimmte
Erträge der dialektischen Theologie unterscheidet Krötke ein
vom Glauben her zu bejahendes säkulares, entmythologisiertes Weltverständnis
(das der Welt keinesfalls ein „göttliches" Wesen zuerkennt
) von dem - theologisch abzulehnenden - säkularistischen Weltverständnis
des prinzipiellen Atheismus. Dieses letztere will alles, was
zu entscheiden ist, prinzipiell nur aus der Welt heraus entscheiden,
sogar die Gottesfrage. Damit behandelt der Säkularismus aber die
Welt faktisch bereits wieder wie „Gott".

Berlin (West) Christof Oestrich