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Ausgabe:

1985

Spalte:

463-466

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Meier, Kurt

Titel/Untertitel:

Der evangelische Kirchenkampf 1985

Rezensent:

Lindt, Andreas

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463

Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 6

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Kirchengeschichte: Neuzeit

Meier. Kurt: Der evangelische Kirchenkampf. 1: Der Kampf um die
„Reichskirche". XV, 648 S. 2: Gescheiterte Neuordnungsversuche
im Zeichen staatlicher „Rechtshilfe". VII, 472 S. 3: Im Zeichen des
zweiten Weltkrieges. 734 S. Halle (Saale): Niemeyer; zugleich
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976/76/84. gr. 8".

Die Erforschung des deutschen Kirchenkampfs der Hitler-Zeit ist
offensichtlich im letzten Jahrzehnt in ein neues Stadium getreten.
Nach 1945 war sie zunächst bestimmt durch das legitime Bedürfnis,
die Erinnerung an die großen Kämpfe, Entscheidungen und Leiden
wachzuhalten und einer nachrückenden jüngeren Generation klar vor
Augen zu führen, wie die Kirche nur im entschlossenen Widerstand
gegen eine teils verführerische, teils bedrohliche Staatsideologie sich
selber treu bleiben konnte. Geschichte des Kirchenkampfs war zuerst
und vor allem Geschichte der Bekennenden Kirche. Die „Deutschen
Christen" und ihre Mitläufer, aber auch alle „Lauen" und „Halben"
bildeten dann nur die dunkle Folie, vorder sich hell und klar die Haltung
derer abhob, die theologisch und politisch den Widerstand verkörperten
. Quelleneditionen und monographische Darstellungen
markanter Ereignisse und Persönlichkeiten des Kirchenkampfs erweiterten
und vertieften im Lauf der Jahre unsere Kenntnisse des
bewegten Geschehens jener Zeit. Die theologische Deutung und
Aktualisierung erfolgte weithin auf der Linie von Barmen. Zugleich
setzte, vor allem in der groß angelegten Reihe der „Arbeiten zur
Geschichte des Kirchenkampfs" die territoriälgeschichtliche Forschung
ein. die auf Grund von Erinnerungen der aktiv Beteiligten, wie
dann auch durch das Aufarbeiten von Archivmaterial den Verlauf des
Kirchenkampfs in einzelnen Städten, Gegenden und Landeskirchen
nachzuzeichnen versuchte.

Immer stärker meldeten sich dann aber auch Stimmen zu Wort, die
gegenüber der gleichsam offiziell gewordenen, etwa durch Wilhelm
Niemöller, Kurt Dietrich Schmidt und Ernst Wolf eindrücklich repräsentierten
Sicht des Kirchenkampfs kritische Bedenken anmeldeten
und gegen „Kirchenkampflegcnden" zu Felde zogen. Gestalten, die
durch ihre Kirchenpolitik ins Zwielicht geraten waren, wie etwa
Bischof Marahrens, fanden jetzt ihre Apologeten. Schließlich kamen
jetzt Lebenserinnerungen nicht nur von Exponenten der Bekennenden
Kirche, sondern auch von einstmals führenden „Deutschen
Christen" auf den Markt. Zugleich konzentrierte sich das Interesse
gerade auch außerdeutscher Historiker auf die Motive und die Praxis
der Kirchenpolitik des nationalsozialistischen Staates. Ebenso wurde
die Wechselbeziehung von ökumenischer Bewegung und Kirchenkampf
immer besser und umfassender erhellt. Eberhard Bethgcs
monumentale Bonhoeffcr-Biographie stellte in höchst eindrücklichcr
Weise den Kirchenkampf hinein in den Kontext der deutschen und
weltweiten Zeitgeschichte. Eine junge Studentengeneration interessierte
sich vor allem auch für die politisch-gesellschaftliche Relevanz
theologischen Denkens und kirchlichen Verhaltens vor und nach
1933. Die Kirchenkampf-Literatur war dabei längst so groß geworden
, daß nur wenige Spezialisten sie noch einigermaßen zu überblik-
ken vermochten. Der Ruf nach einer umfassenden Gesamtdarstellung
wurde immer wieder laut.

Nun legt der Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Meier nach langjährigen
intensiven Vorarbeiten eine solche Gesamtdarstellung vor.
Von den drei Bänden sind die beiden ersten 1976 (zugleich in Halle
und Göttingen) erschienen. Band I („Der Kampf um die .Reichskirche
'") führt bis zum Spätherbst 1934. Band II („Gescheiterte
Neuordnungsversuche im Zeichen staatlicher .Rechtshilfe'") behandelt
die Jahre 1935 bis 1937 und endet mit dem Fiasko der Kirchenausschüsse
. Die Publikation des dritten Bandes hat sich dann nochmals
8 Jahre lang verzögert. Nun ist er 1984 erschienen („Im Zeichen
des zweiten Weltkrieges"). Er umfaßt die Zeit nach 1937, vor allem
also das unmittelbare Vorfeld des zweiten Weltkriegs und dann die
Kriegszeit selber bis zum Zusammenbruch des Hiller-Reiches und zu
den Anfängen des kirchlichen Neuaufbaus 1945.

Kurt Meiers Werk ist das Produkt einer immensen Forscher-Arbeit.
In epischer Breite wird ein Riesengemälde entworfen von den
Geschicken der evangelischen Kirche im Dritten Reich - ein J^iesen-
gemälde, das sich aus unzähligen großen, kleinen und kleinsten
Detail-Darstellungen zusammensetzt. Meiers große Leistung besteht
vor allem darin, daß er zum erstenmal eine aus dem archivalisehen
Quellenmaterial zusammengetragene Schilderung der Ereignisse in
allen großen und kleinen deutschen evangelischen Landeskirchen
bringt. In allen drei Bänden nimmt diese nach Landeskirchen gegliederte
Berichterstattung einen sehr breiten Raum ein (I.
S. 261-501. II. S. 155-371. III, S. 181-563). Wenn auch als „Exkurse
" deklariert, stellen die Partien schon rein umfangmäßig einen
durchaus konstitutiven Bestandteil der drei Bände dar. Nicht nur hier,
sondern auch in den Kapiteln, die die Gesamtentwicklung referieren,
rollt sich vor dem Leser eine Chronik von unendlich vielfältigen
Fakten und Namen ab. Etwa die Organisationsgeschichte auch kleiner
und kleinster Gruppen und Verbände wird minutiös aufgeschlüsselt
.

Meiers Bände werden sicher für lange Zeit das unschätzbare Nachschlagewerk
darstellen, in dem man sich anhand von Register und
Inhaltsverzeichnis über Personen und Organisationen, aber auch über
regionales und lokales Geschehen zuverlässig orientieren kann.

Wer allerdings die Bände fortlaufend lesen möchte, droht aufweite
Strecken in der Fülle des dargebotenen Stoffs zu ertrinken. Dabei
bietet Meier durchaus auch dort, wo es um Zäsuren in der Gesamtentwicklung
des Kirchenkampfs geht, wichtige neue Erkenntnisse. So
macht er deutlich, wie sehr die Kirchenpolitik der Hitler-Regierung
gerade in ihren überraschenden Kehrtwendungen durch Rücksichten
auf die Außenpolitik bestimmt war. Das gilt sowohl für den spektakulären
Gefechtsabbruch in Bayern und Württemberg im Spätherbst
1934 wie für den Sommer 1935. Das Werben um England ließ lange
Zeit immer wieder einen Abbau von Kampfmaßnahmen gegen die
innerkirchliche Opposition ratsam erscheinen. Es bestätigt sich auch
hier, was die neuere Forschung ganz allgemein herausgestellt hat:
Machtpolitisch und ideologisch war das nationalsozialistische Herrschaftssystem
kein Monolith, sondern ein Konglomerat höchst diffuser
Tendenzen, Ambitionen und persönlicher Rivalitäten. Nicht nur
die persönliche Unzulänglichkeit von Gestalten wie Reichsbischof
Müller und Reichskirchenminister Kerrl, sondern auch die systemimmanenten
inneren Widersprüche haben die Kirchenpolitik von
Partei und Staat bestimmt und zugleich kompromittiert.

Im dritten Band wird deutlich herausgestellt, wie in der staatlichen
Kirchenpolitik seit 1937 die radikal kirchenfeindlichen Tendenzen
immer klarer die Oberhand bekamen. Eingehend wird geschildert, wie
nach der Besetzung Polens der „Warthegau" gleichsam zum Experi-
mcntierfeld wurde, wo die faktische Eliminierung der Kirchen aus
dem Volksleben durchexerziert wurde, wie sie in den Plänen
Himmlers und Bormanns für die Zeit nach dem Endsieg für den
ganzen Herrschaftsbereich Hitlers vorgesehen war.

Meiers Intention ist es offenbar, den Kirchenkampf in allen seinen
Phasen und wechselnden Gruppierungen als möglichst neutraler
Chronist sine ira et studio darzustellen. Das bedeutet faktisch - im
Vergleich zum Tenor der früher tonangebenden Kirchenkampf-
geschichtsschreibung - die Möglichkeit einer Rehabilitierung vor
allem der sogenannten „Mitte" (d. h. der vielen, die sich bewußt vom
Kampf distanzierten).

Es ist denn auch ein sehr berechtigtes Anliegen, aus dem Blickwinkel
einer jüngeren Generation, die jene Kampfjahre nicht mehr
selber im aktiven Einsatz erlebt und erlitten hat, die Ereignisse von
damals und ihre Voraussetzungen so zu erforschen und darzustellen,
daß den Motiven aller Beteiligten ernsthaft nachgegangen wird und
die Urteile nicht zum vornherein schon feststehen. Dabei müssen
jedoch die Erschütterung und der Entscheidungscharakter jener Jahre
auch in der Darstellung des Historikers spürbar werden. Der Leser
sollte, um jene Zeit verstehen zu können, durch den erzählenden
Bericht etwas mitbekommen von der Spannung und dem Druck, die