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Ausgabe:

1985

Spalte:

378-380

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

Die Flucht in den Begriff 1985

Rezensent:

Moritz, Hans

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des Schlüsselbegriffes „Raum" zur Charakterisierung des Kirchenbaus
: „die äußere Erscheinung wird unterschieden vom Ordnungsprinzip
als der Grundoption", S. 17. Nachfolgend nehmen neun
Thesen vorweg, was in Teil II und III näher ausgeführt und mit Beispielen
belegt wird. Abschließend legt Senn die von ihm gewählte
Interpretationsmethode dar. Mit Hilfe der geschichtlichen Methode
durchbricht er die Selbsteinschätzung und auch -Überschätzung des
modernen Kirchenbaus. Das historische Phänomen Kirchenbau in
der Fülle seiner Erscheinungsformen wird nach seinen liturgischen
Faktoren, nach seiner ..strukturellen Verfaßtheit" (S. 27)befragt.

Kennzeichen der Arbeit ist, daß der Verfasser von der Geschichte
Gebrauch macht, indem er die Fragen des gegenwärtigen Kirchenbaus
im geschichtlichen Zusammenhang begreift, um so jeder Vcrabsolu-
tierung und Idealisierung in der Fragestellung zu entgehen.

In Teil II („Die Epochen". S. 29-43) folgt ein geschichtlicher
Abriß, der den Weg vom frühchristlichen und mittelalterlichen Kirchenbau
zum „Protestantischen Kirchenbau" als der Periode des
authentischen Kirchenbaus reformatorischer Überlieferung abschreitet
. In der Adaptierung mittelalterlicher Kirchen ebenso wie in den
Neubauten zeigt sich nach Ansicht des Verlässers das neue Kirchen-
und Gottesdienstverständnis der Reformation, das mit der um 1800
einsetzenden Moderne abbricht. Romantik und Historismus bringen
ein neues Kirchen- und Kulturverständnis zur Herrschaft, das den
Charakter der Kirche als Stätte der Gemeindeversammlung um Wort
und Sakrament aufhebt bzw. in einem Gegenüber von Altarbereich
und Kirchenschiff mit frontal angeordnetem Gestühl erstarren läßt.
Auch die „Emanzipation" vom Historismus, die sich seit dem Ende
des ersten Weltkrieges vollzog, hat trotz programmatischer Ideen den
romantischen Liturgismus aufgegeben und die Entfremdung gegenüber
dem reformatorischen Erbe nicht überwunden.

Nachdem die Flut von Kirchenneubauten nach dem zweiten Weltkrieg
nachgelassen hat. zeichnet sich eine Überwindung der modernen
Fixierung auf den „Sakralbau" ab. Folgende Tendenzen sind zu verzeichnen
: ..Der Kirchenbau hat der Ordnung der Verkündigung, der
Liturgie strukturell zu entsprechen . . . Die funktionelle Einglcisigkeit
der religiösen Spezialisierung des Kirchenbaus ist nicht länger haltbar
. . . Der ökumenische Anspruch der Kirche ist von der Erneuerung
des Kirchenbaus nicht zu trennen . .. Der Kirchenbau ist als
Ausdruck der Gegenwärtigkeit der Kirche in der Welt zu verstehen
. . . Bei der Vielfalt der liturgischen Erscheinungsformen ist die
Bedeutung der Versammlung in deren Verantwortung als Adressat
und als Träger des Gottesdienstes zur Geltung zu bringen, wie auch
die Einheit des gottesdienstlichen Handelns in Taufe, Predigt und
Abendmahl" (Zitate S. 41 u. 42).

Der III. Teil (S. 44-1 15)bringt eine ausführliche „Dokumentation"
zur Geschichte des evangelischen Kirchenbaus, gegliedert nach Epochen
. Konfessionen und Regionen. Mehr oder weniger bekannte Beispiele
adaptierter, neu gebauter und im 19. und 20. Jahrhundert meist
unter denkmalpflegerisehem Aspekt umgestaltete Kirchen werden
nach einheitlichem graphischen Schema unter dem Gesichtspunkt
ihrer gottesdienstlichen Nutzung in Grundrissen und Innenansichten
vorgeführt. Es lohnt sich, mit den Augen des Verfassers einmal jedes
Beispiel zu betrachten, auch wenn man sich hie und da zu geringfügigen
Korrekturen veranlaßt sieht. Der abschließende Abschnitt C
(S. 102-115) bringt in die heutige Fragestellung, die auf Abkehr von
der Konvention hinausläuft, auch Entwürfe Senns von 1951-1960
ein. Sie sind konsequent von der Anordnung der Sitze um die Kanzel
und den davor im Zentrum des Raumes stehenden Abendmahlstisch
her gedacht. Die Bestrebungen der siebziger Jahre, die Wahrung
kirchlicher Identität mit Weltbczogcnhcit zu verbinden, werden mit
einigen kirchlichen Zentren belegt und abschließend auch mit Beispielen
von Neukonzeption der Gestühls-, Altar- und Kanzelanordnung
in Kirchenbauten des Historismus.

In zwei angefügten Verzeichnissen sind die wichtigsten Werke des
Architekten O. H. Senn und seine literarischen Veröffentlichungen
zusammengestellt.

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Die in diesem Buche vorgetragenen und durch Beispiele belegten
Thesen geben in ihrer beabsichtigten Zuspitzung jedem Leser, dem die
Frage nach der angemessenen Gestalt des gottesdienstlichen Raums
am Herzen liegt, wichtige Impulse.

Leipzig Hartmut Mai

Philosophie, Religionsphilosophie

Graf. Friedrich Wilhelm, u. Falk Wagner [Hrsg.]: Die Flucht in den

Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie. Stuttgart:
Klett-Cotta 1982. 357 S. gr. 8" = Deutscher Idealismus. Philosophie
und Wirkungsgeschichte in Quellen und Studien, 6. Geb.
DM I 18,-.

Im Auf und Ab des Interesses an religionsphilosophischen Fragen
hat sich die Auseinandersetzung mit Hegels Religionstheorie konstant
durchgehalten. Sicher geschah das nicht nur aus Gründen historischen
Informationsinteresses, sondern „um der Sache", d. h. um der
Klärung eigener Probleme in der geistigen Situation der Gegenwart
willen. Was es mit der Religion und ihrem Wahrheitsanspruch auf
sich habe, diese Frage läßt sich für den von einer „Theorie der
Moderne" beanspruchten Zeitgenossen nicht umgehen, und daher
kommt allen Bestreitungen und „Totgesagtscin" zum Trotz Hegels
Philosophie der Religion immer wieder in die Debatte, kontrovers wie
eh und je.

Ein Sammclband wie die vorliegenden „Materialien zu Hegels Religionsphilosophie
" mit dem ambivalenten, aber auch bildhaft schönen
Titel „Flucht in den Begriff" kann daher aufgespannte Erwartung
eines die Härte des Begrifft nicht scheuenden Publikums rechnen. Die
Absicht der Herausgeber, „die philosophischen und historischen Voraussetzungen
einerseits und die systematischen Argumente andererseits
zu rekonstruieren, durch die der Streit um Hegels Religionsphilosophie
in eine rationale Sachdebatte überführt werden kann" (S. 6,
Vorwort), unterstützt diese Erwartung und darf in Konzeption und
Durchführung als hervorragende Bereicherung in der religionsphilosophischen
Sachdebatte angesehen werden.

Wenn heute als zentrales Problem religionsphilosophischer Arbeit
der Nachweis der Eigenständigkeit der Religion im geistigen Leben
der Gegenwart seine Dringlichkeit behalten hat. dann kommen die
vorliegenden „Materialien" gerade rechtzeitig und hilfreich in diese
Forschungssituation hinein. Dabei ist dann allerdings eben auch die
bleibende Verankerung im geistigen Leben festzuhalten und in den
prinzipiellen Ausgangsübcrlegungen thematisch deutlich hervorzuheben
, (ienau zu diesem Grundsatzproblem setzt dann auch bereits in
der wichtigen Einleitung des Sammelwerkes, verfaßt von F. Wagner
und F. W. Graf, die Deutung der Hegeischen Religionsphilosophie ein
und bestimmt auch die Darstellung der Rezeptionsgeschichte der
Religionsphilosophie Hegels. Im Werk Hegels reflektiert sich das -
und diese Linie der Konzeption ist auch in den Hauptabschnitten
„Aus zeitgenössischen Rezensionen" (Ch. H. Weiße. Anton Stauden-
maier. E. Zella*), zu „Problcme(n) der Textübcrlieferung". zur Frage
„Religion und System" und „zum Streit um die Deutung des
Christentums" festzustellen in der Verhältnisbestimmung von System
und Individuellem, von logischer Struktur und religiösem Gehalt.
Ohne die Verankerung der Religion im „Rahmen einer Philosophie
des Geistes, durch den die Religion begriffen wird, weil und sofern sie
Ausdruck eines selber begreifbaren Geistes ist" (S. 12). kann diese
Verhältnisbestimmung nicht gelingen. Dahinter steht die leitende
Fragestellung, daß der Maßstab der Interpretation, auch der „Vorlesung
über die Philosophie der Religion", die von Hegel selbst veröffentlichten
Hauptwerke, wie Logik, Phänomenologie des Geistes und
Rechtsphilosophie bleiben müssen, sofern sie diese Philosophie des
absoluten Geistes ausdrücken. Die Einwände gegen ein solches Verfahren
des Systems, der Betonung der Identität von Identität und

Theologische Litcraturzeitung I 10. Jahrgang 1985 Nr. 5