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Ausgabe:

1985

Spalte:

314-315

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schuchardt, Erika

Titel/Untertitel:

Warum gerade ich ...? 1985

Rezensent:

Kretzschmar, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 4

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Solche Schwachen des Buches von Schall sind leider geeignet, jene
Kritiker zu bestärken, die behaupten, es gebe im Bereich der kirchlichen
Beratungsstellen einen ..traditionellen Dilettantismus"'. Auf
jeden Fall ist dieser Vorwurf auf die ..empirische Prüfung des Textes"
(169IT) anzuwenden. Weder die befragte Stichprobe, noch die Auswahl
und Formulierung der Fragen, deren Beantwortung hier mit
dilettantischen statistischen Mitteln ausgewertet wurde, ergeben ein
irgendwie brauchbares Resultat - es sei denn die Vermutung, daß der
Verfasser selbst zu seinem Buch ein zwiespältiges Verhältnis hat. das
er gerne verdecken möchte. Diese Vermutung drängt sich auch schon
viel früher bei der Lektüre des Buches auf.

Ich meine, daß es möglich sein sollte, ein Buch über eine sowohl
vom Glauben und der kirchlichen Gemeinschaft wie auch von psychologischem
Verständnis getragene Eheberatung zu schreiben, das
neu und hilfreich wäre. Dem Verfasser ist das nur teilweise gelungen.
Jenem strengen Maßstab, den H. Teilenbach grundsätzlich an alle
psychiatrischen Untersuchungen stellt, und der in entsprechender
Abwandlung für die Seclsorge eine Selbstverständlichkeit sein sollte
(es heute aber weithin nicht ist!), entspricht das Buch von Schall
kaum. Teilenbach sagt: „Eine Psychiatrie, die sich jenseits der Barbarei
der Aktualitäten weiß, kann auf die Explikation ihrer metaphysischen
Voraussetzungen nicht verzichten"'.

Liest man die m. E. gerade nicht genügend ..konkrete" Eheberatung
von Schall kritisch und in Ergänzung ZU anderen Büchern, dann kann
man trotz allem bei ihm manche Anregung linden.

Sennwald Schweiz Raimar Kelntzel

' Vgl. H.-R. Lückert: Der Mensch, das konllikltrüchtige Wesen. Berlin:
Wiehern-Verlag 1963.

R. Kcintzel: Krisen der Partnerschaft. Stuttgart: Steinkopf 1981. S. 11 IT.

Riehler. Rüeker-Emhden und Wegener. zitiert bei II. F. Richter. II. Slrotz-
ka und J. Willi: Familie und seelische Krankheit. Reinbek: Rowohlt 1976.
S. 373.

' H. Tcllcnbaeh: Melancholie. Herlin: Springer 1974.2. Auflage. Vorwort.

V» inkler, Klaus: Die Zumutung im koniliktfall. Luther als Seelsorger
in heutiger Sicht. Hannover: Lutherhaus Verlag 1984. 77 S. 8'.
Kart. DM 16.80.

Der Vf. interpretiert Luthers Seelsorgeverständnis hauptsächlich
von Buße und Beichte her. die im theologiegeschichtlichcn und biographischen
Kontext sowie mit Hilfe psychoanalytischer Begriffe gedeutet
werden. Der größere Teil der Studie erörtert die ..Grundannahmen
der Seclsorge Luthers", die zu einer dreifachen „Zustimmung"
führen: Dem Ratsuchenden wird Selbsterkenntnis, Eigenverantwortung
und das Aushalten von Selbstzweifeln sowie Ambivalenzgefüh-
len zugemutet. Seelsorgerliches Handeln ist „in äußerst konsequenter
Weise auf ein vom Ich-Ideal gesteuertes und nicht mehr auf ein vom
Uber-Ich gesteuertes Gewissen bezogen" (55). Im kürzeren Abschnitt
(59-76) wird Luthers Seelsorgepraxis an Beispielen im Blick auf
Appell und Zuspruch sowie den Umgang mit Angst-, Ambivalenz-
und Sinnlosigkeitsgcfühlen erklärt. Die Seelsorge des Reformators
ziele darauf, in allen Konfliktsituationen durch Glaubenseinsicht
einen „Zustand umfassender Geborgenheit in Christus" zu erreichen
(60). Problematisch sei die Überschätzung der allgemeinen Einsichtsfähigkeit
. Kränkungstoleranz und Verantwortungsübernahme. Daraus
ergebe sich für die heutige Seelsorge die Aufgabe, „zwischen notwendiger
Zumutung und faktischer Überforderung zu unterscheiden"
(76). Eine ungebrochene Identifikation mit „Vater" Luther wäre von
Nachteil, aber daß die Auseinandersetzung mit ihm sich auch praktisch
-theologisch weiterhin lohnt, bestätigt diese Arbeit.

E.W.

Praktische Theologie: Diakonik

Schuchardt, Erika: Warum gerade ich . ..? Behinderung und ( Haube.
Pädagogische Schritte mit Betroffenen und Begleitenden. 2. erw.
Aufl. Gelnhausen: Burckhardthaus Laetare Verlag 1984. 167 S. 8' =
Kennzeichen. 9. Studien und Problembericht aus dem Projekt
„Frauen als Innovationsgruppen" des Deutschen Nationalkomitees
des Lutherischen Weltbundes. Kart. DM 14.80.

Das von der U NO proklamierte „Jahr der Geschädigten" (1981) hat
einer breiten Öffentlichkeit das Schicksal behinderter Menschen ins
Bewußtsein gerufen. Es ist deshalb sicherlich kein Zufall gewesen, daß
die I. Auflage dieses Buches der bekannten Erzichungswissenschaft-
lerin an der Universität Hannover gerade zu diesem Zeitpunkt erschien
. Es spricht Für diese Publikation, daß drei Jahre später eine
erweiterte Zweitautlage vorgelegt werden konnte, die zudem mit dem
Buchpreis 1984 des Deutschen Verbandes Evangelischer Büchereien
ausgezeichnet wurde. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, daß der
Buchtitel „Warum gerade ich?" bereits durch ein Buch von Johanna
Ruppert „besetzt" ist. erschienen im Spee-Verlag Trier. 1979, mit
dem Untertitel „Eine Mutter überwindet Resignation und Verzweiflung
".

Im Mittelpunkt der Veröffentlichung der Vfn. stehen fünf Lebensgeschichten
, die sie aus 260 Lcbcnsgeschichten Behinderter ausgewählt
hat. Zunächst berichtet eine durch Kinderlähmung körperbehinderte
Frau (Luise Habel: Herrgott, schaff die Treppen ab!). Ihr
folgt Ingrid Weber-Gast, die zusammen mit ihrem Ehemann Stephan
Weber-Gast, beide sind Seelsorger an einer Fachklinik Für Neurologie
und Psychologie, über die seelische Behinderung durch erlebte
Depression reflektieren (Ingrid Weber-Gast: Weil du nicht gellohen
bist vor meiner Angst). Das Schicksal eines durch Unfall sinnesbehinderten
Blinden, des Franzosen Jacques Lusseyran, Führt der nächste
Bericht vor Augen (Das wiedergefundene Licht. Das Leben beginnt
heute). Ruth Müller-Garnn und das Ehepaar Silvia und Albert Görrcs
berichten sodann über ihre geistig behinderten Kinder (Müller-
Garnn: . . . und halte dich an meine Hand; Görres: Leben mit einem
behinderten Kind). Zuletzt beuchtet die Amerikanerin Laurcl Lee
über ihre unheilbare Krebskrankheit, zumal ein Leben mit dieser
Todesgewißheit eine Behinderung eigener Art darstellt (Wenn du
durchs Feuer gehst, sollst du nicht brennen).

Diese Lebensgeschichten, die entweder selbst, oder im Falle der
geistig behinderten Kinder von den Begleitpersonen dargestellt werden
, wurden einer biographischen Längsschnitt-Studie von Pearl
S. Buck. der Mutter eines geistig behinderten Kindes, zugeordnet,
deren Autobiographie 1950 in New York erschien: The child who
never grew; deutsche Übersetzung: Geliebtes, unglückliches Kind.
Wicn/Hcidclbcrg 1952.

Die Vfn. kommt durch eine Analyse der insgesamt 260 Biographien
ZU dem Ergebnis, daß trotz unterschiedlicher Behinderungsaiten
gleiche Lernprozeß-Verläufe in der Krisenverarbeitung artikuliert
werden. „Innerhalb des Lernprozesses Krisenverarbeitung hat die
Aggression als Katharsis eine Schlüssclfunktion . . . Religiöser Glaube
als Wcrtbcstimmung kann Aggression ersetzen oder kompensieren
. .. Prozcßbegleitung zeichnet sich als Bedingungsfaktor im Lernprozeß
Krisenverarbeitung ab." (S. 41)

Diese ihre Erkenntnisse hat sie bereits auf S. 31 in der Form einei
Abbildung unter der Überschritt: Krisenverarbeitung als Lernprozeß
in acht Spiralphasen dargestellt. Sie sind es wert genannt zu werden:
I. Ungewißheit (Was ist eigentlich los?). 2. Gewißheit (Ja. aber das
kann doch nicht sein . ..?). 3. Aggression (Warum gerade ich .. .?).
4. Verhandlung (Wenn.... dann muß aber...?). 5. Depression
(Wozu . ... alles ist sinnlos . . .?), 6. Annahme (Ich erkenne jetzt
erst . . .!). 7. Aktivität (Ich tue das . . .!) und 8. Solidarität (Wir handeln
. . .!). Die Vfn. nennt die Phasen I bis 3 Eingangs-Stadium I. die
Phasen 4 bis 6 Durchgangs-Sladium II und die Phasen 7 und 8 Ziel-
Stadium III.