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Ausgabe:

1985

Spalte:

301-303

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Gerdes, Hayo

Titel/Untertitel:

Sören Kierkegaards "Einübung im Christentum" 1985

Rezensent:

Kloeden, Wolfdietrich

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Theologische Literaturzeitung 110'. Jahrgang 1985 Nr. 4

302

Mendelssohns Denken mit Lcssings experimentierender Theodizee in
der „Erziehung des Menschengeschlechts" liegt auf der Hand. Sie ist
um so bedeutsamer, als die beiden Freunde in den letzten Jahren nur
noch selten im philosophischen Gespräch miteinander standen. Die
frühe gemeinsame Beschäftigung mit dem kulturkritischen Entwurf
Rousseaus und seiner Anthropologie begründet offenbar eine Konvergenz
, die noch in wesentliche Äußerungen der späten Lebensjahre
hineinreicht.

Viel zu wenig sind Mendelssohns Beiträge zur politischen Theorie
in der spät-friderizianischen Epoche der Aufklärung beachtet worden.
Erst in den letzten Jahren sind Manuskripte der „Berliner Mittwochsgesellschaft
" ausgewertet worden. Das Echo auf die eigentümliche
Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften von 1778 „Ist es
dem gemeinen Haufen der Menschen nützlich, getäuscht zu werden,
indem man ihn entweder zu neuen Irrtümern verleitet oder bei den
gewohnten Irrtümern erhält?" wird hier noch sichtbar. (Die Forschungen
von Werner Krauss zu dieser Preisfrage werden leider nicht
genannt.) Die kleinen Äußerungen Mendelssohns, insbesondere sein
Aufsatz in der Berlinischen Monatszeitschrift „Über die Frage: Was
heißt aufklären?" (1783) zeigen ein starkes Engagement Tür ein konsequentes
Programm der Aufklärung. Die angebliche Staatsklugheit,
das Volk vor gefährlichen Einsichten zu schützen, wird von ihm bitter
kritisiert. Daß hier in Wirklichkeit das Machtintcresse des späten
Absolutismus oder ein Klasseninteresse einer herrschenden Schicht
bestimmend ist, wird von ihm vornehm angedeutet. Einig weiß ersieh
mit den konsequenten Vertretern der Aufklärung darin, daß eine
staatliche Zensur der wahren Aufklärung nur schaden kann: „Ich
wünschte, daß die Beispiele aus der Geschichte aufgesucht würden,
wo entweder Aufklärung überhaupt oder insbesondere eine ungebundene
Freiheit, seine Meinung zu äußern, der öffentlichen Glückseligkeit
wirklich geschadet hat. Bei Erwägung des Nutzens und Schadens,
den die Aufklärung und die zuweilen daraus entstandenen Revolutionen
gebracht haben, unterscheide man die ersten Jahre der Krisis von
den darauf folgenden Zeiten. Jene sind zuweilen dem Ansehen nach
gefährlich, im Grunde aber Vorboten der Verbesserung." Mendelssohn
räumt ein, daß es wohl gewisse Rücksichtnahmen und Grenzen
geben müsse; „sie dem Gutfinden derCensorcn zu überlassen, scheint
mir in allen Fällen schädlicher als die ungebundenste Freiheit"
(26. 12. 1783, Band VI/1, Seite III). Solche Sätze, im friderizia-
nischen Berlin geschrieben, sind deutlich genug. Sie zeigen zugleich
Selbstbewußtsein und Lauterkeit Moses Mendelssohns.

Eine gründliche Beschäftigung mit Moses Mendelssohn und seinem
Werk ist überfällig. Alexander Altmann, Autor der umfangreichsten
wissenschaftlichen Biographie, hat dafür, gemeinsam mit den anderen
Herausgebern der Jubiläumsausgabe, Entscheidendes beigetragen.
Möge die Jubiläumsausgabe dazu helfen, das Angebot, sich in das
Werk Mendelssohns zu vertiefen, wirklich zu nutzen. Es könnte
exemplarische Bedeutung auch für den neu in Gang gekommenen
christlich-jüdischen Dialog gewinnen.

Magdeburg Harald Schultzc

Gerdes. Hayo: Sören Kierkegaards ,Einübung im Christentum'.

Einführung und Erläuterung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
1982. X. 138 S. 8'. DM 36,50.

Das von Elisabeth Gerdes und Joachim Ringleben durchgesehene
Posthum erschienene Buch des bekannten Kieler Kierkegaardforschers
(t 26. Juli 1981) ist eine längst fällige Einführung in das christlich
-religiöse Hauptwerk S. Kierkegaards. Es bildet einen Meilenstein
zwischen der „Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift"
(1846) und den Flugschriften „Der Augenblick" (1855).

Die Abhandlung von H. Gerdes gliedert sich in drei Kapitel: I.
-Die Entstehungsgeschichte". 2. „Der Gedankengang" und 3. „Einzelfragen
". Im ersten Kapitel wird folgendes verdeutlicht: Geradezu

konsequent ist Kierkegaards völliges Aufgeben des Planes, zu seinem
Buch „Die Krankheit zum Tode" (1849) ein Ergänzungswerk mit
dem Titel „Die Heilung von Grund auf, oder Vergebung der Sünden
und die Versöhnung" zu schreiben (S. 1; vgl. Pap. VIII A 558, Pap.
IX A 176)'. Der Grund dafür ist folgender: Wenn die Sünde,
wie es ja vor und in der „Krankheit zum Tode" geschieht, von
allen Stadien her beleuchtet wird, dann ist mit dem darauf folgenden
Zuspruch der Sündenvergebung ein „Einfürallemal" gesprochen
. Dann kann es nicht mehr um eine stufenweise Erfassung im
Sinne eines „von Grund auf gehen, sondern nur noch um das Folgeverhalten
: Wie lebe ich von der Versöhnung her und wie setze ich
mich im Glaubenslebcn, das ja immer wieder Anfechtungen erleidet,
mit dem mir verhei ßenen Christus auseinander? Das bedeutet nun für
den Schriftsteller Kierkegaard, daß dem Werk über die Sündenvergebung
(„Die Krankheit zum Tode") ein Werk der Erbauung
nachgeschickt werden muß.

Im zweiten Kapitel werden dann von Gerdes die Grundgedanken
der drei Hauptteile der „Einübung im Christentum", also der Nr. I bis
III, im Kontext zum Gesamtwerk und der diesbezüglichen Tagebuchnotizen
sorgfältig herausgearbeitet. Prägnant werden die drei von
Kierkegaard („Anticlimacus") dargestellten Formen des Ärgernissei
beschrieben: (a) des Ärgernisses an der Hoheit Christi; (b) des Ärgernisses
an der Niedrigkeit Christi; (c) des Ärgernisses, das sich ergibt
aus dem „Zusammenstoß Christi als eines einfachen Menschen mit
freilich außerordentlichen Gaben mit dem in sich beruhigten Bestehenden
" (S. 28).

Die Zuordnung von Glauben und Ärgernissen (dem „Skandalon")
ist eine notwendige Sicherung, um mit der so gegebenen Spannung
jeden Scheinglauben - von der intellektuellen Anschauung bis hin
zum Wunderglauben - zu entlarven. Die Geschichten vom Handeln
Jesu im NT dienen Kierkegaard als Basisgeschichten zur Nachfolge-
orienticrung. Sie können daher von ihm nicht im Sinne der Methode
eines D. F. Strauß historisch-kritisch durchleuchtet werden. Indem
sich Christus selbst anbietet und bezeugt, erweckt er das Ärgernis
seiner Umgebung, des „Bestehenden". Mit der existentiellen Erfahrung
des Einzelnen, die er im Zusammentreffen mit der Ärgernis
gebenden Geringheit oder Hoheit Christi macht, ist es ausgeschlossen
, das jene Erfahrung von der Lehre ausgeht. Entscheidend
ist die „Konfrontation mit der Person Jesu Christi in der Situation
derGleichzeitigkeit"(S. 32, vgl. SV XII, 102ff).

Aus dieser Grunderfahrung ergeben sich im dritten Kapitel
der Untersuchung die zu behandelnden Einzclfragen. die um jeweilige
Grundkategorien Kierkegaardschen Denkens kreisen und von diesen
her beantwortet werden sollen. Mit Berufung auf E. Hirsch, seinem
ehemaligen Göttinger Lehrer, weist Gerdes zum Beginn auf den Begriff
der „bewaffneten Neutralität" hin (S. 58ff). Unter diesem Thema
ist auch z. Z. der Abfassung der „Einübung" eine kleine Schrift entstanden
(vgl. Pap. X,5 S. 105ff). „Bewaffnete Neutralität" bedeutet
für Kierkegaard, daß er über das Christsein eines Menschen sich
keine Aussage erlauben, daß er aber über das wahre Christsein wachen
will und von den Gefahren der Verfälschung desselben weiß. In
diesem Zusammenhang ist das Eingehen auf „Mynster und Marten-
sen" („2. Einzelfrage") als geistliche Repräsentanten des bürgerlich-
verfälschten Christseins, des „Bestehenden" (vgl. die Behandlung in
der „9. Einzelfrage". S. 104-108) wichtig und folgerichtig.

Grundkategorien wie die „Dialektik der Mitteilung" (S. 69-74), die
„Gleichzeitigkeit" (S. 74-78), „Die ,heilige' Geschichte" (S. 78-89)
und das Spannungsproblem von „Ethos und Religion" (S. 89-100)
werden in der Erörterung der diesbezüglichen Einzel fragen tiefgründig
erhellt. Wesentlich ist auch die Darstellung von Kierkegaards Vorbehalt
gegenüber der „Gnade an erster Stelle" - eine Folge von dessen
Kritik am späteren Luther (vgl. die Behandlung der 8. Einzelfrage
.S. 101-104).

Die im Anhang gegebenen erstmalig ins Deutsche übersetzten, für