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Ausgabe:

1985

Spalte:

216-218

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hooff, Anton E. van

Titel/Untertitel:

Die Vollendung des Menschen 1985

Rezensent:

Foelz, Siegfried

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Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 3

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Girard setzt sich von dem vor allem in Frankreich dominierenden
Strukturalismus (Claude Levi-Strauss) ab, der kulturelle Gegebenheiten
als ein Symbol symbolischer Formen begreift, die nur innerhalb
ihres jeweiligen Zusammenhangs Sinn erhalten. Während sich
der Strukturalismus auf die Rekonstruktion solcher Symbolsysteme
beschränkt und die Frage nach einer Realität hinter ihnen abschneidet
, stellt Girard die Frage nach ihrem Ursprung und ihrer Genese; er
möchte dadurch wieder zur Frage nach dem Wesen des Menschen
und seiner Bestimmung vorstoßen.

Grundlegend für Girards Anthropologie ist das mimetische Verhalten
, die Nachahmung. Sie ist wesentlich für jeden Lernprozeß. Im
Anschluß an Jaques Monod sieht Girard „die Fähigkeit und Intensität
der Nachahmung auf der ganzen Linie, die zum homo sapiens führt,
sich mit dem Gehirnvolumen steigern" (96). Damit einher geht eine
Zunahme der Konfliktträchtigkeit des Zusammenlebens. Denn das
mimetische Verhalten ruft Rivalität hervor, wo es das Streben nach
der Aneignung von Objekten erfaßt; sobald das Erstreben eines
Gegenstandes von anderen nachgeahmt wird, kommt es zum Konflikt
. Die Unterdrückung dieser „Aneignungsmimesis" muß daher in
Gesellschaften ein Hauptanliegen sein. Während bei Tieren instinktive
Hemmschwellcn Rivalitäten nicht zum tödlichen Konflikt werden
lassen, entfällt dieser Schutz beim Menschen. Zum Schutz vorder
den Bestand der Gesellschaft bedrohenden Gewalttätigkeit bedarf es
hier einer anderen Einrichtung; Girard sieht darin die zentrale Bedeutung
des Opfermechanismus: „Auf die chaotische Vielzahl der Einzelkonflikte
folgt plötzlich die Einfachheit eines einzigen Antagonismus
.. . Die ganze Gemeinschaft ist wieder solidarisch auf Kosten
eines Opfers . . .; seine Vernichtung wird nicht neue Wirren hervorrufen
und die Krise nicht wieder ausbrechen lassen, denn sie eint alle"
(35). Indem sich die Gewalttätigkeit aller auf das stellvertretende
Opfer richtet, wird dieses zum Stifter von Versöhnung; es wird sakrali-
siert, weil es der Gemeinschaft den Frieden schenkt (38 0.

Alles Religiöse ist für Girard nichts anderes als der Versuch, die
Versöhnungswirkung des Opfers zu prolongieren. So sind Verbote
ursprünglich ein Schutz vor der Rache der Gottheit (vgl. 25). Die
Riten primitiver Gesellschaften wiederholen die mimetische Krise
(33); ihr Abschluß ist die Darbringung eines Tier- oder Menschenopfers
, in dem die versöhnende Wirkung des gesellschaftsgründcnden
Uropfers sich wiederholt (vgl. 360- In den Mythen werden die
ursprüngliche Krise und ihre Lösung sowie die Entstehung der Kultordnung
erinnert (119). Girard geht sogar noch einen Schritt weiter,
wenn er die These formuliert: „Man kann aufzeigen, daß es in der
menschlichen Kultur nichts gibt, was sich nicht auf das stellvertretende
Opfer zurückfuhren ließe" (56). Er exemplifiziert dies am sakralen
Königtum, der Tierdomestikation, der Jagd, dem Totenkult.
Sofern in allen Urkulturen sämtliche Institutionen auf eine mimetische
Krise und ihre Lösung durch ein stellvertretendes Opfer
zurückgeführt werden können, läßt sich im Anschluß an Dürkheim
sagen, daß „das Gesellschaftliche und das Religiöse identisch sind"
(84).

Heute befinden wir uns in einer weitgehend entsakralisierten Welt.
Dies beruht nach Auffassung Girards letztlich auf der immer weiter
voranschreitenden Aufdeckung der Opfermechanismen unter dem
Einfluß der jüdisch-christlichen Schriften (141). Im AT bereitet sich
eine Sicht vor, in der Gott nicht mehr die Gewalt gegen das Opfer als
Voraussetzung kultureller Entwicklung rechtfertigt; Girard zieht als
Textbeispiele die Erzählung von Kain und Abel, die Josefsgeschichte
und vor allem die Gottesknechtslieder heran. Diese Entwicklung
kommt im NT zu ihrem Höhepunkt; mit seiner Botschaft vom Gottesreich
stellt Jesus die auf dem Opferkult beruhende Ordnung radikal
in Frage und zieht sich damit die tödliche Feindschaft der Repräsentanten
derauf dem Gewaltmechanismus beruhenden Kultur zu (vgl.
2160- Denn „der Mensch ist stets eine mehr oder weniger gewalttätige
Leugnung seiner Gewalttätigkeit. Daraufgeht die Religion zurück, die
vom Menschen kommt, im Gegensatz zu der, die von Gott kommt"
(171). Aber „indem Christus sich der Gewalttätigkeit bis ans Ende

unterzog, offenbart und entwurzelt er die strukturelle Matrize jeder
Religion" (185). Girard lehnt daher entschieden das Verständnis der
Passion Jesu als eines Opfers ab. Diese Deutung sieht er zunächst im
Hebräerbrief und dann in der nachbiblischen Christenheit dominant
werden. Sein Einwand gegen eine solche Opfertheologie lautet, daß
damit die Verantwortung für den Tod Jesu wieder von der Gewalttätigkeit
der Menschen genommen und auf Gott übertragen wird
(239). Demgegenüber muß das Wort Jesu wieder unverstellt zur Geltung
gebracht werden, „das Wort, das auffordert, niemand anderen
nachzuahmen als Gott, diesen Gott, der sich aller Vergeltungsmaßnahmen
enthält und seine Sonne erstrahlen und seinen Regen fallen
läßt über die ,Guten' und die,Bösen'" (213).

Es ist zu begrüßen, daß das einen guten Überblick über Girards
Theorie gebende Buch nun auch in einer - sprachlich leider etwas
holprigen - deutschen Übersetzung vorliegt. Girard gelingt es zweifellos
, in einem kühnen Versuch die biblische Botschaft innerhalb eines
soziologischen Kontextes neu zu formulieren. Insofern das Problem
der Gewalt dabei eine zentrale Bedeutung erhält, ist Girard hochaktuell
. Dennoch bleiben Fragen: Ist der Ansatz bei der Mimesis überzeugend
? Wird Gewalt dabei nicht zu schnell ins Wesen des Menschen
verlegt? Könnte sie nicht doch besser erklärt werden als Reaktion
auf das Ausgeliefcrtscin an eine nicht beherrschte Umwelt und
die damit gegebene Knappheit lebenswichtiger Güter? Aber auch
theologisch bleiben Fragen an Girard; mit Rücksicht auf seine Theorie
betreibt er in verschiedenen Punkten eine zweifelhafte Exegese: So
scheint er die Möglichkeit eines richtenden und strafenden Gottes
a priori auszuschließen (vgl. 197.202). Die apokalyptischen Elemente
der Botschaft Jesu - Apokalyptik ist für Girard wohl gleichbedeutend
mit „schreckenerregend" (vgl. 202) - sollen erst aus ihrer Ablehnung
resultieren (203. 211). Ntl. Ansätze Tür eine Satisfaktionstheoric gibt
es nicht erst im Hebr(vgl. nur Mk 10,45; I Kor 15,3). Man wird fragen
müssen, ob ein zumindest modifizierter anthropologischer Ansatz
nicht auch ein angemesseneres theologisches Verständnis eröffnen
könnte.

/eil am Main Markus Knapp

Ilooff, Anton E. van: Die Vollendung des Menschen. Die Idee des
Glaubensaktes und ihre philosophische Begründung im Frühwerk
Maurice Blondeis. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1983. 458 S. 8* =
Frciburger theologische Studien, 124. Kart. DM 79,-.

Wie langsam - fast möchte man sagen: wie schwerfallig - setzt sich
der französische Philosoph Maurice Blondcl (1861-1949) mit seinem
Denkansatz in der Gegenwartsphilosophie durch. Wohl sind in den
letzten 30 Jahren bedeutende Arbeiten über Blondel erschienen -
Namen wie P. Archambault, A. Cartier, H. Dumcry, H. Böuillard.
R. Scherer, P. Henrici, J. C. Scannone, U. Hommcs und A. Raffelt
sind hierzu nennen -, dennoch ist die Wirkung Blondels sehr begrenzt
geblieben. Es gilt bis heute: „Blondcl ist in unserer Philosophie nach
wie vor nicht .präsent'." (J. Spett, 1973)

Nachdem die große Arbeit von U. Hommcs „Transzendenz und
Personalität. Zum Begriff der Action bei Maurice Blondel" 1972
erschienen ist, liegt nun von dem Benediktiner Anton E. van Hooffdie
umfangreiche Dissertation mit einem ähnlichen Thema „Die Vollendung
des Menschen" vor. Die Arbeit wurde an der Theologischen
Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. eingereicht
und von den jetzigen Bischöfen. Prof. Dr. Dr. Karl Lehmann und
Prof. Dr. Klaus Hemmcrle begleitet und begutachtet. Vier Teile
umfaßt die Arbeit, wobei die ersten zwei Teile „Der Ort der Fragestellung
" und „Der Glaubensakt als philosophisches Problem" mehr
Hinführungen sind. Hier geht es um die Bcgrifflichkeil und den Ausgangspunkt
Blondelschcn Denkens. „Ist Glauben menschlich?" Blondel
richtet seine Frage von Anfang an an Nichtglaubendc. Kann man
Glaube und Denken miteinander versöhnen? Kann ein Glaubender
als Offenbarungsgläubiger zugleich Philosoph sein? - eine Frage, die