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Ausgabe:

1985

Spalte:

208-209

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Die zehe gebot in disem büch erclert vnd vßgelegt durch etlich hochberümbte lerer 1985

Rezensent:

Bräuer, Siegfried

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Theologische Lilcraturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 3

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der Gesamttheologie des Erasmus bilden. K. findet sie in einer Reihe
von Gegensatzpaaren, die in einer einzigen Polarität zusammenlaufen
: Die Gegensatzpaare sind Urbild-Abbild, Fleisch-Geist,
fleischlich-geistig, spiritus-litera, Reform-Dekadenz, sie treffen sich
nach K. in einem Spannungsfcld. das sich mit den Begriffen
harmonia/varietas zu Christus umschreiben laßt. Keines der Gegensatzpaare
beschreibt zwei in sich getrennte Bereiche, vielmehr stellen
sie alle jeweils eine Art Qualitätsklimax dar, die in ihren Gegcnsatz-
bercichen aufeinander hin angelegt sind. Damit trifft sich auch die
Darstellung des F.rlösungsprozesses durch Erasmus: Erlösung ist ,,Akt
der göttlichen Akkommodation an die gefallene Natur des
Menschen" (15).

Es wird Sache der Erasmusforschung sein, dieses erste Hauptergebnis
von K.s Arbeit zu prüfen und weiterzuverarbeiten. Nicht alles, was
K. hierbei eruiert hat. ist neu. und K. erhebt auch nicht den Anspruch,
in jeder Hinsicht Neues zu bieten. So wird z. B. der platonisch-neu-
platonisch-thomistische Hintergrund der Theologie des Erasmus einmal
mehr bestätigt, freilich in einer Weise, die eine wirklieh systematische
Struktur erkennen lassen möchte.

Das zweite Problemfeld, mit dem die Arbeit sich befaßt, ist die
Erprobung der These von einer „Schule" des Erasmus im 16. Jahrhundert
im Sinne der Übernahme der Systematik des Erasmus durch
andere Theologen, in erster Linie durch Gerhard Lorich. Zunächst ist
K. die sorgfaltige Analyse der Theologie eines weitgehend unbekannten
Reformtheologen des 16. Jahrhunderts zu danken, die er mit der
Darstellung von Lorichs Eucharistie- und Meßtheologie vorlegt. Ihr
Ergebnis über die Mitteilung vieler wichtiger Einzelheiten hinaus ist,
daß sich bei Lorich alle Elemente der inneren Systematik der Theologie
des Erasmus wiederfinden, die im ersten Teil der Arbeit erhoben
worden waren. K. sieht Lorich theologisch auf einer Linie mit Julius
Pllug, Bonifatius Amerbach und Georg Cassander; freilich meint er,
daß das Verhältnis dieser Theologen zu Erasmus einen unterschiedlichen
Grad von Nähe aufweist. Als Gesamtergebnis stellt K. die
Existenz einer „.crasmischen Partei' im bewußten Gegensatz zu den
,Erasmianern"' (263) fest, die ihre eigenen ökumenischen Chancen im
16. Jahrhundert gehabt habe: sie sei geeignet gewesen, den ..einfachen
Mann", der von der lutherischen Reformation beeindruckt gewesen
sei, für Rom zu erhalten, da sich die konkreten liturgischen Reformen
der erasmischen Partei - wären sie in die Praxis umgesetzt worden -
„nur unwesentlich" von denen der lutherischen Reformation unterschieden
hätten. Daß diese praktische Umsetzung nicht gelungen sei.
sieht K. in der humanistischen als einer individuell-elitären Gcistes-
haltung begründet und darin, daß die Zeit für eine plalonisch-neupla-
tonische Interpretation des christlichen Glaubens nicht reif gewesen
sei.

Abgesehen von Zweifeln an den letztgenannten Argumenten - man
könnte das zweite Argument mit guten Gründen auch umkehren: Die
Zeit für eine dezidiert platonisch-neuplatonische Interpretation des
christlichen Glaubens dürfte für viele Zeitgenossen vorüber gewesen
sein - erheben sich einige Bedenken gegenüber Durchführung und
Einzelheiten der Arbeit. Ab und zu entsteht der Eindruck, daß im
Vergleich mit den systematischen Aspekten historische Aspekte allzu
weit in den Hintergrund getreten sind. Was bei der Analyse von
Lorichs Schrift ..De missa publica proroganda" zumindest ins Auge
gefaßt und zum guten Teil gelungen ist, ihre Einordnung in die Bedingungen
ihrer Enlstehungszeit (137-154), ist bei anderen Schriften
Lorichs unberücksichtigt geblieben. So tragen über einzelne Strecken
der Arbeil hin die „Theses professionis catholicae" von 1541 eine
gewichtige Beweislast, die im Zusammenhang der Regensburger Verhandlungen
von 1541 entstanden sind (III), ohne daß ihre möglichen
Tendenzen für die Darstellung von Lorichs Eucharistietheologie eine
Rolle spielen. Schwerer wiegt die ungenügende Einbeziehung der
Positionen der Wittenberger Theologie in die Beurteilung von Lorichs
Stellungnahmen. Sollten bestimmte Forderungen Lorichs, die in ihrer
Radikalität weil über Erasmus hinausgehen, nicht eben doch dem
weiterwirkenden Einfluß der lutherischen Reformation auf Lorich

zuzuschreiben sein? Möglicherweise wirkt sich im Ausfall dieser
Fragestellung die Lücke in Lorichs Biographie zwischen 1525 und
1536 aus (59f. 67), für deren Auffüllung es freilich Material gibt, das
von K. nicht berücksichtigt worden ist: Lorich muß Beziehungen zu
Nordhausen gehabt haben, wie ein Lobgedicht auf die neu eröffnete
Ratsschule in Nordhausen und ein Epigramm auf Johann Spangenberg
zeigen (Johann Spangenberg: Bellum grammaticalc. Wittenberg
1534. BI. D4a-6b). Vielleicht hatten diese Beziehungen auch
familiäre Hintergründe: Gerhard Lorichs Bruder Reinhard berichtet
in einem Widmungsgedicht zu einem von ihm übersetzten Buch
Spangenbergs, er sei in Nordhausen geboren (Postilla latina pro
Christiana luventute, Frankfurt/Main o. J., BI. 2a/b), und bereits
F. W. E. Roth: Die Gelehrtenfamilie Lorichius aus Hadamar. ZfB 1 1.
1894. 368-385/571 - eine Arbeit, die K. nicht berücksichtigt hat -
wußte, daß Gerhard und Reinhard Lorichs Mutter Anna aus Thüringen
stammte, ebd. 369 Anm. 1.

Aber auch in anderen Zusammenhängen wäre es u. U. hilfreich
gewesen, die Wittenberger Reformation bewußt in die Betrachtung
einzubeziehen. Ist es z. B. ein Zufall, daß Bonifatius Amerbach in
seiner Stellungnahme vom Mai 1531 dem Rat von Basel gegenüber
dieConfessio Augustana zitiert (236)?

Ebenso wenig befriedigende Aspekte enthält der theologiegeschichtliche
Gesamthorizont, unter dem K. Lorichs Theologie beurteilt
. Ist hier und da das Bedürfnis zu spüren, theologische Aussagen
eines Reformtheologen des 16. Jahrhunderts an Aussagen heutiger
römisch-katholischer Theologie zu messen (vgl. die Aussagen zur
objektiven Repräsentation der Passion bei Amerbach, 246), so wirkt
geradezu störend eine Übertragung von konfessionellen Kategorien
der nachreformatorischen Zeit auf die Beurteilung Lorichs und seiner
Zeitgenossen. Was z. B. ist historisch gesehen das „unverzichtbar
Katholische" zwischen 1530 und 1540(2180?

Nach der Lektüre von K.s Arbeit bleibt der Eindruck zurück, ein
anregendes und weiterführendes Werk kennengelernt zu haben, das
in den Grundthesen sicherlich zur Diskussion herausfordern wird und
das ein weitgehend unbekanntes Stück Theologiegesenichte des
16. Jahrhunderts erschließt.

Leipzig Ernst Koch

Marquard von Lindau: Die zehn Gebote (Straßburg 1516 und 1520).
Ein katcchetischcr Traktat. Textausgabe mit Einleitung und
sprachlichen Beobachtungen von Jaeobus Willem van Maren.
Amsterdam: Rodopi 1980.205, I 14 S. 8- = Quellen und Forschungen
zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen
Neuzeit, 14. Kart, hfl 90.-

Marquard von Lindau, (). F. ML: Das Buch der zehn Gebote (Venedig
1483). Textausgabe mit Einleitung und Glossar. Hrsg. von Jaeobus
Willem van Maren. Amsterdam: Rodopi 1984. 10* S.. 176 S. 8' =
Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten
Mittelalters und der frühen Neuzeit, VII. Kart, hfl 60-

Die theologischen Nachschlagewerke übergehen nach wie vor
größtenteils Marquard von Lindau, der eine wichtige Stellung in der
kirchlichen Pädagogik und der Erbauungsliteratur des Spätmittelalters
einnimmt. In der Germanistik dagegen hat der Franziskaner seit
Jahrzehnten immer wieder Interesse gefunden. Marquard v. L. teilt
damit das Schicksal der spätmittelalterlichen Erbauungsliteratur in
der theologischen Forschung insgesamt. Van Maren gibt einen
knappen kritischen Überblick über die Forschung zu Marquards
Leben und Werk (ab 1389 Provinzial der oberdeutschen Minoriten-
provinz. gest. 1392). Der katechetische Traktat ist in mehr als
200 Handschriften überliefert sowie in Drucken von 1483. 1516
(Nachweis von 20 Exemplaren) und 1520. Er wendet sich an das aufstrebende
Bürgertum in Form eines Pseudodialogs und weist volunta-
ristische, mystische, scholastisch-didaktische sowie mariologischc
Züge auf (Entstehung zwischen 1373 und 1384). Unter den reichen