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Ausgabe:

1985

Spalte:

196-198

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

Martin Luther 1985

Rezensent:

Delius, Hans-Ulrich

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195

Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 3

196

Schlichting, Günter: Ein jüdisches Leben Jesu. Die verschollene
Toledot-Jeschu-Fassung Tam u-mu'ad. Einleitung, Text, Übersetzung
, Kommentar, Motivsynopse, Bibliographie. Tübingen: Mohr
1982. XVI, 292 S. gr. 8' = Wissenschaftliche Untersuchungen zum
Neuen Testament, 24. Lw. DM 198,-.

Bei dem behandelten Text handelt es sich um einen zur Gattung der
Toledot Jeschu gehörenden Druck des frühen 19. Jahrhunderts,
danach mehrfach aufgelegt (und so nicht eigentlich „verschollen", wie
auf dem Titelblatt angegeben ist) und nun von dem Vf. erneut vorgelegt
.

Die Toledot Jeschu sind jüdische Darstellungen des Lebens Jesu,
die allem Anschein nach ins 2. Jh. zurückgehen, danach Erweiterungen
und Ausformungen verschiedenster Art gefunden haben und in
zahlreichen morgen- wie abendländischen Sprachen vollständig oder
-dies gilt insbesondere für die älteren Fassungen - in fragmentarischer
Gestalt auf uns gekommen sind. Die Mannigfaltigkeit ist derart, daß
sie dem Typ nach mit Fug mit Figuren der Märchenliteratur oder
Gestalten der Heldensage zu vergleichen sind. Hinzu kommt jedoch
eine ganz bestimmte Aufgabe in der religiösen Polemik der Zeit. Auch
finden sich Reste von Überlieferungen, die für die kritische Wiederherstellung
eines geschichtlichen Jesusbildes von nicht zu unterschätzender
Bedeutung sind.

Der Vf. beschäftigt sich mit der letzten Ausuferung dieses Stoffes,
einem Text, der, wie er selbst sagt, in dieser Form nicht über die
Schwelle des 18. zum 19. Jh. zurückreicht. Gibt er darum für die am
Ende des vorangehenden Abschnitts berührten Fragen nichts Eigenständiges
her, so wird dadurch auch seine Bedeutung für die Darstellung
der jüdischen Jesuslegende stark geschmälert. Er gibt nur eine
durch zahlreiche Wiederholungen und sekundäre Verzierungen und
Einschübe sich auszeichnende, anderseits in Vielem den Gehalt der
älteren Fassungen verwässernde Form wieder. Dem Vf.. der offensichtlich
zunächst anderer Meinung war, ist dies auch im Laufe seiner
Arbeit deutlich geworden. Er versucht, dem Text eine neue Bedeutung
zu geben: als Zeugnis „innerjüdischen Ringcn(s) um die Identität
" und als „Abwehr der Judenmission". Beides ist freilich nicht
einmal ansatzhaft durchgeführt. Es hätte dazu die religiöse Kontroverse
im Galizicn des 19. Jh. aus Zeitschriften und Broschüren rekonstruiert
und für die Erklärung nutzbar gemacht werden müssen -
Aufgaben, denen der Vf. - sehr verständlicherweise - sich nicht ausgesetzt
hat.

Wie steht es um den Text? Der Vf. schreibt, daß er dem von Samuel
Krauss und E. Bischoff so bezeichneten „modernslavischen" Typ am
nächsten steht. Er ist sogar ein Vertreter dieses Typs. Krauss hatte den
Anfang von drei Handschriften dieses Überlieferungszwciges veröffentlicht
. Sic hätten also leicht zur Gänze benutzt werden können.
Andere Handschriften dieses Typus (hebräisch und jiddisch) sind
durch W. Horbury nachgewiesen worden. Auch sie standen zur Verfügung
. Bei Benutzung dieses Materials wäre eine kritische Ausgabe
wenigstens dieser Spätform der Toledot möglich gewesen. Statt dessen
beschränkte sich der Vf. auf diesen einen Zufallsvertreter des slavi-
schen Typs. Immerhin, die Neuvorlage eines solchen Textes und seine
Übersetzung wäre ein in Grenzen nützliches Unternehmen. Dies aber
hätte vollständig genügt.

Jedoch will der Vf. mehr geben. Er beginnt mit einer 50 Seiten starken
Einleitung, läßt der Übersetzung 813 Anmerkungen sowie eine
„Motiv-Synopse" folgen. Führt die Einleitung nur dies und jenes zur
Toledot-Forschung vor, ohne irgendein neues Ergebnis zu zeitigen, so
bringen die Anmerkungen Lesefrüchte, die oft nur entfernten oder
stichwortartigen Zusammenhang mit dem Text, wie er steht, haben
und zumeist für die Erhellung dieses Textes wenig einbringen. Allem
Anschein nach wirkt in ihnen eine Arbeitsphase des Vf. nach, in derer
noch annahm, mit diesem Text sehr viel näher an den Anfängen der
Toledot-Tradition zu stehen. Insofern können die Anmerkungen für
den nicht sachverständigen Leser geradezu irreführend sein. Vor
allem wird nirgendwo eine Frage durchgezogen und gelöst. Die
Anmerkungen geben wieder (gelegentlich, so scheint es fast, aus

zweiter Hand), was andere zuvor gesagt haben, und fügen dem den
nützlichen Hinweis auf Anklänge an das Alte Testament hinzu. So ist
dies Material, so eindrucksvoll es erscheinen mag, doch nicht ganz
das, was es auf den ersten Blick zu sein scheint. Die an sich sehr nützliche
Motiv-Synopse aber leidet unter dem Fehler, daß sie den Text,
an dem der Vf. hängengeblieben ist, zugrunde legt, die alten aramäischen
und arabischen Überlieferungssträngc jedoch gar nicht
berücksichtigt.

Den kritischen Leser braucht das nicht anzufechten. Er wird sich
mit dem Text - es handelt sich um den Nachdruck der Ausgabe von
1824 (?) im Lichtdruckverfahren - begnügen, die beigegebene sorgfältige
Übersetzung zu Rate ziehen und aus den Anmerkungen das ihm
Nützliche herausziehen.

Der Leser kann von dem in schöner Aufmachung erschienenen
Band nicht scheiden, ohne solchem Fleiß und solcher jahrzehntelangen
Beharrlichkeit den gebührenden Tribut zu zollen. - Inzwischen
hat der Vf. die Ergebnisse seiner Arbeit in einer Broschüre, die
denselben Titel wie sein Buch trägt, zusammengefaßt. Sie ist 1982 im
Privatdruck erschienen (23 Seiten).

Cambridge Ernst Bammel

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Martin Luther 1483-1546. Dokumente seines Lebens und Wirkens.
Dokumente aus staatlichen Archiven und anderen wissenschaftlichen
und kulturellen Einrichtungen der Deutschen Demokratischen
Republik. Im Jahre des 500. Geburtstages Martin Luthers
mit Unterstützung des Martin-Luther-Komitees hrsg. von der
Staatlichen Archivverwaltung der DDR. Weimar: Böhlau 1983.
438 S. m 245 z. T. färb. Abb. u. Taf. 4 Lw. M 128.-.

Die internationale, vor allem aber die deutsche Lutherforschung
hat in den letzten hundert Jahren in annähernder Vollständigkeit alle
Luther-Dokumente, die sich in Archiven, Bibliotheken. Museen oder
auch anderen privaten oder staatlichen Aufbewahrungsstätten befinden
, erschlossen und in der kritischen Gesamtausgabe der Werke
Martin Luthers, der Weimarana (WA), für die Wissenschaft vorgelegt,
wenn auch in den älteren Bänden nicht immer in editorisch einwandfreier
Weise. Das Werk Luthers liegt uns also bis hin zur kleinsten
Äußerung oder Randnotiz vor, nicht jedoch das seiner Mitstreiter und
Mitarbeiter, der Reformatoren des zweiten Gliedes. Aus diesem Umfeld
Luthers sind bei weitem noch nicht alle Archivalien bekannt oder
gar gedruckt worden.

Hier setzt der vorliegende Prachtband ein: er nutzt „die Möglichkeit
, Martin Luther und seine Zeil in bisher wenig beachteten, in einzelnen
Fällen neu aufgefundenen Dokumenten vorzustellen, ohne auf
wichtige, bereits bekannte Schriftstücke zu verzichten. Der besondere
Wert der Publikation besteht auch darin, daß diese Dokumente zum
überwiegenden Teil erstmals in fotografischer Wiedergabe vorgelegt
werden." (S. 13)

Der im Rahmen der Luther-Ehrung der DDR und mit Unterstützung
des Staatlichen Martin-Luther-Komitees der DDR von der
Staatlichen Archivverwaltung herausgegebene Band, der im gleichen
traditionsreichen Verlag wie seit hundert Jahren die Luther-Gesamtausgabe
erscheint, bietet nun zum 500. Geburtstag des Reformators
eine Auswahl von 254 meist einmaliger und zum Teil sogar hier zum
ersten Mal nicht nur fotografisch veröffentlichter Dokumente. Der
Band verdient in Aufmachung, Ausstattung und Papierqualität das
höchste Lob. Mit seinen sogar teilweise farbigen Abbildungen in wirklich
erstklassiger Qualität zeigt er nicht nur prachtvolle Urkunden
oder Buchmalereien; für den Kenner auch überraschend plastisch und
gut ist die Wiedergabc zahlreicher Lutherbriefe. Nur wer schon einmal
solche Briefe des 16. Jahrhunderts in der Hand gehabt hat und
weiß, wie stumpf und grob die damalige, heute vergilbte Papierqualität
ist, kann beurteilen, welche Leistung in der Wiedergabe, in der
Kunst der Fotografie uns hier vorliegt.